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„Tagtäglich werden in meinem Namen Menschen ermordet“

Unterstützen die Leute in Russland den Krieg gegen die Ukraine? Das scheint eine zentrale Frage sowohl für Forschende, als auch für Journalistinnen und Journalisten zu sein, die sich mit dem Land beschäftigen. Die renommierte Journalistin Jelena Kosjutschenko gibt eine Antwort darauf: Die Menschen wollen keinen Krieg. Warum? Weil es unmöglich ist, Krieg zu wollen, zum Mörder werden oder selbst sterben zu wollen. Doch Umfragedaten belegen, dass Putin weiterhin über eine hohe Unterstützung unter Russinen und Russen verfügt, was wiederum die Folge einer massiven „medialen Strahlung“ der Propaganda ist. Wie funktioniert die Propaganda und wie trifft sie auch die Menschen, die für sich glauben, gegen Propaganda immun zu sein? Was hat das heutige Russland mit Faschismus zu tun? Und welche Verantwortung tragen die Journalisten der unabhängigen Medien? Darüber hat das russische Projekt Otschewidzy (dt. Augenzeugen) von TV2media mit Jelena Kostjutschenko gesprochen. 

Quelle TV2media

TV2.media: Wie hat der Krieg Ihr Leben verändert?

Jelena Kostjutschenko: Ich war 17 Jahre lang bei der Novaya Gazeta. Unsere Zeitung gibt es nicht mehr, ihr wurde die Lizenz entzogen. Ich denke, unter anderem wegen meiner Reportagen aus der Ukraine. Ich kann nicht nach Russland zurückkehren. Ich kann nicht zu meiner Mutter, zu meiner Schwester, meiner Katze. Die wichtigste Veränderung ist jedoch, dass mein Land Menschen tötet, Ukrainer. Ich weiß nicht, ob es irgendein Volk gibt, irgendein Land, das mir näher wäre als die Ukraine. Alle meine russischen Bekannten haben Verwandte in der Ukraine, und alle meine ukrainischen Bekannten haben Verwandte in Russland. Das ist ein so dermaßen unfassbares … ich wollte Verbrechen sagen, aber es ist schlimmer als das. Es gibt keine Worte dafür … Es gibt das Wort Krieg, aber das beschreibt eigentlich nichts. Es werden einfach tagtäglich in meinem Namen Menschen ermordet. Damit zu leben ist sehr schwer. 

Spüren Sie eine persönliche Schuld oder Verantwortung für diesen Krieg?

Natürlich. Ich war Journalistin, bin sehr viel gereist, habe sehr viel gesehen. Ich wusste um den Faschismus in Russland. Endgültig klar wurde mir das wahrscheinlich 2015, als das Gesetz gegen „LGBT-Propaganda“ beschlossen wurde und LGBT zum ersten Mal als sozial minderwertig bezeichnet wurde, als sozial minderwertige Bevölkerungsgruppe. Das ist bereits eine faschistische Kategorie, wenn wir die Bevölkerung in Gruppen einteilen und bestimmen, wer einen Platz in der Gesellschaft hat und wer nicht. Dann habe ich in einem psychoneurologischen Internat (PNI) gearbeitet. Das ist ein System von Internierungslagern, in denen Menschen mit psychischen und neurologischen Diagnosen eingesperrt werden. Ihnen werden alle Rechte entzogen, sie werden dort ihr Leben lang festgehalten, bis zum Tod. Ich wusste, dass es bei uns im Land Faschismus gibt, gleichzeitig dachte ich, es genügt, wenn ich meine journalistische Arbeit mache. Tja, ich habe mich wirklich sehr bemüht, aber ein Text kann gegen Faschismus nichts ausrichten, kann keinen Regimewechsel herbeiführen.              

Ich habe mich wirklich bemüht, aber ein Text kann gegen Faschismus nichts ausrichten

Irgendwie hatte ich diese illusorische Vorstellung, dass man als Journalist nirgendwo [aktiv] teilnehmen dürfe … Natürlich habe ich an Protestaktionen teilgenommen, das schon, aber erstens nicht so oft, wie ich gekonnt hätte, und zweitens … Ich glaube, es ist mittlerweile für jeden offensichtlich, oder? 2022 mit hübschen Plakaten auf die Straße zu gehen — damit ändert man nichts am Regime. 

Ja, natürlich fühle ich mich verantwortlich, und natürlich weiß ich, dass ich sehr viel mehr hätte tun können, aber irgendwie war mir mein Komfort wichtiger, oder vielmehr habe ich keine Katastrophe erwartet. Einen solchen Krieg habe ich nicht für möglich gehalten. Nicht einmal 2014, nicht einmal, als Russland am 24. Februar in der Ukraine einmarschiert ist. Als ich meine Tasche packte, um für Recherchen in die Ukraine zu fahren, da nahm ich einen Pullover mit, Unterwäsche, Socken, Reservejeans, einen Schutzhelm, einen Vorrat an Medikamenten für eine Woche und sagte zu meiner Freundin: „Das kann höchstens ein paar Tage dauern“.

Natürlich fühle ich mich verantwortlich, und natürlich weiß ich, dass ich sehr viel mehr hätte tun können, aber irgendwie war mir mein Komfort wichtiger, oder vielmehr habe ich keine Katastrophe erwartet

Warum unterstützen in Russland so viele den Krieg?

Ich kenne in Russland niemanden, der den Krieg unterstützt. Ich kenne Leute, die diesen Krieg für gerecht und unvermeidlich halten. Aber nicht einmal die wollen Krieg. Worauf beruht unser Optimismus, abgesehen von dem biologischen Gefühl, dass alles vorbeigeht, alles gut wird? Niemand wollte Krieg, die Menschen wollten keinen Krieg. Es ist ja eigentlich unmöglich, Krieg zu wollen, zum Mörder werden oder sterben zu wollen. Manche Leute glauben einfach, dass wir nicht die ganze Wahrheit wissen, dass unsere Regierung einen sehr triftigen Grund haben muss, solche entsetzlichen Verbrechen zu begehen. Manche wiederum fühlen sich einfach nicht in der Lage, dem Krieg etwas entgegenzusetzen. In Russland zu leben bedeutet sehr oft, sich machtlos zu fühlen.  

Warum glauben die Leute Putin?

Dafür wird ja sehr viel Aufwand getrieben, von sehr klugen, begabten, zielstrebigen Menschen mit einem gigantischen Budget. Unsere Propaganda ist ein Phänomen, ich weiß gar nicht, womit man das vergleichen könnte. Während meines Studiums schrieb ich eine wissenschaftliche Arbeit über Propaganda im Dritten Reich und dachte, das sei ein historisches Thema. Ich fand das alles schrecklich interessant, aber ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Wissen tatsächlich einmal brauchen könnte. Aber unsere Propaganda stellt selbst Goebbels in den Schatten. Goebbels hatte nur den Rundfunk und die Zeitungen. Wir haben Radio, Zeitungen, Internet, Soziale Netzwerke, Fernsehen – ein gigantisches, enorm mächtiges Rüstzeug zur Einflussnahme. Ganz neue Technologien, ganz neue Narrative.    

Unsere Propaganda stellt selbst Goebbels in den Schatten

Mich amüsiert es, wenn Leute, vor allem aus der Bildungsschicht, sagen: „Wir lassen uns nicht von der Propaganda beeinflussen“. Die Propaganda erwischt alle. Sie verfolgt einfach mehrere Ziele. Das Hauptziel der Propaganda ist natürlich, alle davon zu überzeugen, dass Putin recht hat. Aber wenn das zum Beispiel nicht gelingt, dann versucht sie eben zu überzeugen, dass alles nicht so eindeutig ist, nach dem Motto: „In manchen Punkten hat er recht, in manchen nicht. Wir kennen ja nicht die ganze Wahrheit.“ Wenn auch das nicht funktioniert, will sie dich überzeugen, dass dein Leben zerstört wird, wenn du dich widersetzt. Hier schaltet sich der Repressionsapparat ein, der mit jedem Tag brutaler wird. Gerade erst wurde jemand wegen zwei Kommentaren im Internet zu sieben Jahren Haft verurteilt. Wenn auch diese Strategie nicht aufgeht, dann reden sie dir ein, dass du allein bist, dass nur du so denkst. Sonst niemand. Und wenn das nicht gelingt, dann machen sie dir klar, dass du nichts dagegen tun kannst. Zusammengenommen funktioniert das. Es wirkt einfach alles auf unterschiedlichen Ebenen. 

Kann man die Leute umstimmen, die vom Fernsehen „verstrahlt“ sind?

Man muss. Meine Mutter sieht zum Beispiel fern. Soll ich etwa meine Mama Putin überlassen? Das wird nie passieren. Ich hab sie gern, sie hat mich gern, und wir reden jeden Tag miteinander. Nicht immer erfolgreich. Manchmal unterhalten wir uns fünf Minuten, dann sagt sie: „Ich kann nicht mehr weiterreden“. Dann reden wir zwei Tage nicht über den Krieg, bis sie sagt: „Lass uns reden“ und wir wieder fünf Minuten reden. So bewegen wir uns ganz langsam aufeinander zu.   

Meine Mutter ist 75 Jahre alt. Sie liebt ihr Land, und ich liebe es auch. Aber ich möchte, dass sie begreift, dass ihr geliebtes Land ein Mörder ist

Wir müssen außerdem verstehen, dass das Angst macht. Wir verlangen von den Leuten eine schreckliche Erkenntnis. Meine Mutter ist 75 Jahre alt, sie war eigentlich Chemikerin, aber in den Neunzigern, als für die Wissenschaft kein Geld da war, wurde sie Lehrerin, sie unterrichtete Kinder. Sie ist wirklich ein sehr guter, kluger Mensch. Sie liebt ihr Land, und ich liebe es auch. Aber ich möchte, dass sie begreift, dass ihr geliebtes Land ein Mörder ist. Dass in ihrem Land Faschismus herrscht. Derselbe Faschismus, den ihr Vater im Krieg besiegt hat. Dass sie jahrzehntelang Lügen aufgesessen ist. Sie wurde belogen und hat alles geglaubt. Und in ihrem Namen werden Menschen getötet. Das mit 75 Jahren zu begreifen – wie soll das gehen? Aber jede noch so entsetzliche Wahrheit ist besser als die Lüge. Weil mit Lügen Morde vertuscht werden. Wir alle sind Mittäter dieser Morde. Ob stillschweigend oder nicht, Mittäter sind wir. Dieses Lügenkonstrukt müssen wir um jeden Preis durchbrechen, auch wenn es sehr schmerzhaft ist. 

Wir alle sind Mittäter dieser Morde

Oft wird Putins Regime mit einer Sekte verglichen, von der man nicht mehr loskommt. Wie gerechtfertigt ist dieser Vergleich?

Es gibt durchaus Gemeinsamkeiten. Vor allem das sogenannte Prinzip der narzisstischen Verführung. Damit locken totalitäre Sekten Menschen an. Das funktioniert so, dass sie einem sagen: „Eigentlich bist du gut. Sogar sehr gut, du bist kein Versager. Du bist nicht schwach, nicht willenlos, nicht dumm. Aber du hast es schwer, stimmt’s? Stimmt, ja. Und weißt du, warum du es so schwer hast? Weil die Menschen um dich herum dir schaden, sie sind deine Feinde. Aber wie gut, dass du zu uns gefunden hast, wir werden dich lieben, dich unterstützen, uns um dich kümmern. Wir werden dir sagen, was du tun und wie du leben sollst.“ Genau das macht die Propaganda: „Russland ist frei von Sünde. Russland kann überhaupt keinen Schaden anrichten.“

Bei meiner Arbeit in der Ukraine war ich in der Abteilung für Gerichtsmedizin in Mykolajiw, wo die Leichen hingebracht werden. Dort habe ich viel Zeit verbracht. Die Leichen lagen einfach übereinandergestapelt, weil die ukrainischen Leichenschauhäuser nicht auf solche Mengen ausgerichtet sind. Sie lagen auf dem Boden, in der Garage, die dafür geräumt wurde, sie lagen in den Kühlräumen aufgeschichtet übereinander. In einem lagen auf einem Haufen die Leichen von zwei Mädchen, zwei Schwestern von siebzehn und drei Jahren. Arina Butym und Veronika … Sie wurden durch Splitter getötet, als Mykolajiw beschossen wurde. 

Meine Mutter rief mich täglich an und versuchte mir zu erklären, was passiert, was ich da eigentlich sehe. Ich sagte immer: „Lass es einfach“, aber sie versuchte es immer wieder. Und ich sage: „Mama, ich habe heute tote Kinder gesehen. Tote Kinder, sie wurden getötet.“ Und sie sagt: „Das können keine russischen Soldaten gewesen sein. Das kann nicht sein. Na hör mal! Wie denn?“ Als Butscha geschah, schrie sie mich einfach am Telefon an: „Nein! Nein, unmöglich! Unmöglich!“ Es ist entsetzlich zu akzeptieren, sich einzugestehen, dass russische Soldaten so etwas tun können. Und auch früher schon getan haben. In Tschetschenien, in Syrien. Sie haben es getan. Viele, viele Jahre lang wurde die Idee des unschuldigen Russlands, die Idee, dass wir immer im Recht waren, dass wir keine historische Schuld tragen, dass unser Land niemals einen Fehler begangen hat, die wurde so richtig in die Köpfe eingehämmert. 

Ich sage: ,Mama, ich habe heute tote Kinder gesehen. Tote Kinder, sie wurden getötet.‘ Und sie sagt: ,Das können keine russischen Soldaten gewesen sein‘

Das ist ja auch wirklich ein schöner Gedanke. Stellen Sie sich mal vor: Man lebt so vor sich hin und hat das Gefühl, einem absolut gerechten Staat anzugehören, der in seiner ganzen Geschichte niemals etwas Böses getan hat. Das ist einfach toll!
Manche Behauptungen der Propaganda widersprechen ja sogar dem offiziellen Geschichtsunterricht, das wundert mich schon. Zum Beispiel die Behauptung, Russland beginne keine Kriege, sondern beende sie. Das stimmt ja nicht. Wir haben sehr viele Kriege begonnen. Genau wie viele andere Länder auch. Aber nein, da ist auf der einen Seite das trockene Geschichtsbuch, das übrigens momentan umgeschrieben wird, und auf der anderen Seite haben wir großartig konzipierte Sendungen mit Analysen, ganz bunte, kitschige Filme darüber, was für ein makelloses Land und was für ein unglaubliches Volk wir sind, ganz anders als die anderen. Das wurde alles sehr, sehr lange vorbereitet, man kann nicht sagen, dass alles ganz plötzlich am 24. Februar passiert ist. Es geschah für uns plötzlich, weil wir … Ich spreche mal für mich: weil ich eine dumme, faule Optimistin war. 

Wovor haben Sie am meisten Angst?

Dass Russland diesen Krieg gewinnt. Das würde den Tod für mein Land bedeuten. Es gibt nichts Ungeheuerlicheres als einen Sieg in einem ungerechten Krieg. Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, wird das die absolute Zerstörung. Damit meine ich nicht die vielen Menschen, die noch sterben werden, bis Russland siegt. Das wird die absolute Zerstörung unserer nationalen Identität. Das lässt den Faschismus erst recht erblühen. Auf diesen Krieg wird der nächste Krieg folgen, weil Faschismus immer expansiv ist. Es werden noch mehr Menschen sterben, das wird ein Schrecken ohne Ende. Das ist es, wovor ich am meisten Angst habe.      

Es gibt nichts Ungeheuerlicheres als einen Sieg in einem ungerechten Krieg. Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, wird das die absolute Zerstörung

Wie sehen Sie die Zukunft Russlands?

Ich glaube, dass es eine Zukunft gibt, dass wir nicht verschwinden werden. Aber was passiert ist, kann man nicht mehr rückgängig machen. Es gibt keine Wiedergutmachung, nichts kann die Toten wiedererwecken. Aber ich glaube, wir werden die Möglichkeit haben, zu begreifen, was wir angerichtet haben, und irgendwie damit weiterzuleben. Und natürlich werden wir schon andere sein, wenn wir das begreifen, und das Leben wird ein anderes sein, sonst gibt es einfach nur … Auslöschung. Ich glaube, wir werden alle sehr viel arbeiten müssen, sowohl jetzt als auch später. Für Selbstmitleid ist da keine Zeit. Ich bin 35 Jahre alt, und ich frage mich, ob mein Leben ausreichen wird. Womöglich nicht. Aber ich glaube, wir müssen jetzt alle sehr viel arbeiten und sehr lange leben. Das wird kein einfaches Leben sein, aber immerhin ein Leben.      

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Sergej Lawrow

Auf kaum einen russischen Politiker wird so unterschiedlich reagiert wie auf den Außenminister Sergej Lawrow. Die ehemalige Sprecherin des US State Department Jennifer Psaki überschritt geradezu eine rote Linie des diplomatischen guten Tons, als sie in harscher Manier im April 2014 Lawrows Vorwurf kommentierte, die USA würden Handlungen der ukrainischen Regierung steuern – dies sei, sagte sie, lächerlich.

Wie ist dieser Affront zusammenzubringen mit den Elogen, die sonst auch von westlicher Seite oft auf Lawrow gesungen werden?

Der britische Historiker Mark Galeotti etwa schrieb in der US-Zeitschrift Foreign Policy, Lawrow sei „einer der weltweit härtesten, klügsten und erfahrensten Außenminister“, eine „enorme Ressource des Kreml“ – die leider einfach nicht genügend eingesetzt werde.1 Auch der deutsche Historiker Michael Stürmer brach für ihn eine Lanze2, und sogar unter den russischen Regimekritikern finden sich einige, die etwas für Lawrow übrig haben. Es scheint, Lawrow ist eine durchaus widersprüchliche Figur.

Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen umweht Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans / Foto © kremlin.ru

Für den Studenten des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO) – der Kaderschmiede der sowjetischen und später russischen Diplomatie – war die diplomatische Karriere vorgezeichnet. Sie führte den 22-jährigen Lawrow (geb. 1950), der seitdem durchgehend im diplomatischen Dienst tätig ist, erst in die sowjetische Botschaft auf Sri Lanka, vier Jahre später in die Abteilung für internationale Wirtschaftsorganisationen beim Außenministerium und von 1981 bis 1988 zur sowjetischen Vertretung bei der UNO. Nach einem Intermezzo im Außenministerium der  UdSSR beziehungsweise Russlands kam er 1994 zurück nach New York, wo er ein Jahrzehnt lang als UN-Botschafter agierte. Seit 2004 ist Lawrow Außenminister. Neben den UNO-Sprachen Englisch und Französisch spricht er Singhalesisch und Dhivehi.3

Ein distinguierter „Mister Njet“

Mit seiner geschliffenen Ausdrucksweise und seinen tadellosen maßgeschneiderten Anzügen umweht den hochgewachsenen Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans. Ihm wird ein kluger – zuweilen herber – Humor nachgesagt. Er habe, heißt es außerdem, Sinn für guten Whisky, sei mit seiner Rafting-Leidenschaft risikofreudig und im Umgang mit Damen betont charmant. Sein Pokerface und der Spitzname „Mister Njet“ („Mister Nein“) tun das Übrige für den Nimbus eines Mannes, der sich stets tatkräftig und perfekt informiert gibt und in Verhandlungen äußerst durchsetzungsstark ist.  

Gewandte Syrien-Diplomatie

Ein Beispiel seiner diplomatischen Rafinesse präsentierte der erfahrene Politiker im September 2013 im Rahmen des Syrienkonflikts. Geschickt zog er aus einem – möglicherweise recht unbedachten – rhetorischen Argument seines amerikanischen Amtskollegen John Kerry Nutzen und schuf politische Fakten. Kerry hatte bei einer Pressekonferenz gesagt, die syrische Führung könne nur dann einem bevorstehenden Militärschlag entgehen, wenn sie alle Chemiewaffen an die internationale Staatengemeinschaft übergebe – davon ausgehend, dass ein solches Szenario sowieso gänzlich außerhalb des Möglichen liege. Lawrow machte aus Kerrys Worten jedoch umgehend bare Münze: „Wir greifen den Vorschlag von Kerry auf. Wenn sich damit ein Militärschlag abwenden lässt, wollen wir helfen, dass Damaskus die Chemiewaffen abgibt“4, ließ er in einer eilig einberufenen Pressekonferenz verlauten. Und in der Tat begann kurz darauf eine von Russland überwachte Aktion zur Vernichtung syrischer Chemiewaffen. Nach einiger Zeit wurde jedoch klar, dass sie nur zu einer teilweisen chemischen Entwaffnung Syriens führte. Zugleich wurde so der Grundstein für Russlands militärisches Engagement in Syrien gelegt. Mit diesem Coup ließ Lawrow den US-Außenminister wie einen Schuljungen dastehen.

Münchner Sicherheitskonferenz: fast ein Eklat

Es bleibt verborgen, weshalb Kerry seinen russischen Partner schon wenige Tage nach dem Vorfall „my friend Sergey“ nannte5 – die diplomatische Welt hat ihre eigenen Codes. Sicherlich gehört jedoch eines nicht dazu: dass man über einen Diplomaten öffentlich lacht. Diesem Skandal wurde Lawrow bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 ausgesetzt. Es war zunächst wie üblich bei solchen Veranstaltungen: Der Außenminister stimmte ein US-kritisches Lamento über die Hegemonie-Bestrebung und den Revolutionsexport an, ganz im Einklang mit dem Whataboutismus der sowjetischen Diplomatenschmiede. Als er aber darauf kam, die Angliederung der Krim als UN-Charta-konform zu erklären und darauf verwies, dass im ähnlichen Fall der deutschen Wiedervereinigung nicht einmal ein Referendum stattgefunden habe, brachen viele Diplomaten in offenes Lachen aus. Ein unerhörter Vorgang in der diplomatischen Welt, die sich meistens hinter der Fassade der Höflichkeit verbirgt.

Souveräne Verkörperung der politischen Unberechenbarkeit

In dieser Situation trafen gleich mehrere Unberechenbarkeiten aufeinander: Die des Publikums, das seine diplomatische contenance verlor, und die der russischen Außenpolitik selbst, von der es oft heißt, sie schlage – vor allem seit der Angliederung der Krim – immer wieder gezielt taktische Volten.6 Ihr Gesicht Sergej Lawrow verkörpert dies: Mal gibt er sich weltmännisch, mal – wie bei einer Pressekonferenz im August 2015, bei der er leise Unflätiges ins Mikro fluchte – hemdsärmelig, mal konziliant und dann – wie im Fall Lisa – aufwieglerisch. Lawrows souveräner Umgang mit diesen Wandlungen macht vermutlich auch sein Faszinosum aus.


1.Foreignpolicy.com: Free Sergey Lavrov!
2.Die Welt: Die Sphinx in der eiskalten Luft des Kreml
3.Singhalesich ist eine der Amtssprachen auf Sri Lanka. Dhivehi ist Amtssprache auf den Malediven, mit denen die sowjetische Botschaft auf Sri Lanka Kontakte unterhielt.
4.zitiert nach: Tagesanzeiger: Der Manipulator
5.State.gov: Remarks With Russian Foreign Minister Sergey Lavrov
6.Stiftung Wissenschaft und Politik: Denkbare Überraschungen. Elf Entwicklungen, die Russlands Außenpolitik nehmen könnte

 

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Dimitri Peskow ist seit dem Machtantritt Putins für dessen Pressearbeit zuständig und gilt als offizielles Sprachrohr des Kreml. Üblicherweise für die Krisen-PR verantwortlich, sorgte er mehrfach selbst für negative Schlagzeigen, unter anderem im Rahmen der Panama Papers.

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Wladimir Medinski leitete von 2012 bis Januar 2020 das Kulturministerium der Russischen Föderation. Zu den zentralen Anliegen seiner Kulturpolitik zählten die Förderung des russischen Patriotismus sowie der Einsatz gegen vorgeblich antirussische Tendenzen in der Kultur.

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