Der Begriff sastoi, zu Deutsch Stagnation, meint die Periode zwischen der Absetzung des Parteichefs Nikita Chruschtschow im Jahre 1964 bis zum Beginn der Reformpolitik unter Gorbatschow im Jahre 1985. Diese Phase zeichnete sich durch fehlende politische und wirtschaftliche Dynamik aus. In der engeren Deutung wird die Bezeichnung sastoi auf die Amtszeit von Leonid Breshnew (1964–1982) angewandt.
Die Ära der Stagnation war eine Zeit des ökonomischen, politischen und sozialen Stillstands, in dem sich die wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion immer mehr verstärkten, dies sich aber vor dem Kontext bescheidenen Wohlstands und Stabilität für breite Bevölkerungsschichten abspielte. Der ungarische Historiker und Schriftsteller György Dalos beschrieb diese Ära folgendermaßen: Es war „[...] die ruhigste, besser gesagt die einzig relativ ruhige Zeitspanne in der Geschichte der Sowjetunion. Die Menschen erhielten mehr Freiräume und Konsummöglichkeiten als früher, während die ideologische Mobilisierung immer lascher wurde. Gleichzeitig kostete es das System enorme Summen und Anstrengungen, diese heute nostalgisch betrachtete Stabilität aufrechtzuerhalten.“1
In der Forschung bezeichnet man mit dem Begriff Stagnation allgemein eine Konjunkturphase mit stillstehenden oder rückläufigen wirtschaftlichen Wachstumsraten. Als Schlagwort für die Beschreibung der Breshnew-Ära hat Gorbatschow diesen Ausdruck in seiner berühmten Rede im Februar 1986 eingeführt. Um seinem neuen Reformprogramm – der Perestroika – schärfere Konturen zu verleihen, hob Gorbatschow besonders die negativen Entwicklungen hervor, die in der sowjetischen Gesellschaft durch die „stagnativen Erscheinungen“ zu Tage traten.
Durch die Chiffre Stagnation gerät die Breshnew-Zeit geschichtlich in den Schatten zweier dynamischerer Perioden – des Stalinismus und des Untergangs der Sowjetunion. Bezeichnend ist allerdings, dass ein Großteil dessen, wofür die Sowjetunion als eine Fürsorgediktatur in der kollektiven Erinnerung heute steht, ein Produkt dieser Periode gewesen ist. Auch die Frage, wie aus einer Gewaltdiktatur ein Regime werden konnte, das seine Legitimität aus der Versorgung der Bevölkerung bezogen hat und sich so vorgeblich hin zu einem „sozialistischen Wohlfahrtsstaat“ entwickeln konnte, wird durch das Schlagwort Stagnation eher verschleiert, denn erklärt.
In der Forschung, die für diese Ära noch am Anfang steht, wird betont, dass diese Zeit keineswegs homogen stagnierend gewesen sei.2 Es vollzog sich ein fundamentaler Wandel in der Beziehung zwischen den Herrschern und der Bevölkerung. Unter Stalin waren Angst und Schrecken, welche durch den unablässigen Terror erzeugt wurden, die Grundlage der Herrschaft. Aber, so der Historiker Stefan Plaggenborg „kein Staat, auch kein diktatorischer, kann auf Dauer ohne Rücksicht auf die Bewohner existieren.“3 Vor allem dann nicht, als sich die Herrschenden mit der Entstalinisierung von der Gewalt verabschiedeten und diese so keine Grundlage der Kommunikation mehr war. Zum neuen Schlagwort des von manchen Forschern als „little deal“ bezeichneten informellen Sozialpakts zwischen der Bevölkerung und der Führung wurde Konsum.4
Der (Wohlfahrts-)Staat, wie er sich während der Zeit der Stagnation herausbildete, garantierte das Recht auf Arbeit und hielt an der Vollbeschäftigung fest, obwohl die Wirtschaft unter einer sehr niedrigen Arbeitsproduktivität und dem Verfall der Arbeitsdisziplin litt. Das Lohnwachstum überholte das Produktionswachstum, sodass die Bevölkerung sich zwar immer mehr hätte leisten können – dies aufgrund zu langsamer Produktion und dadurch mangelnder Waren jedoch nicht möglich war. Mehr und mehr wurde das Schlangestehen zu einem selbstverständlichen Teil des Tagesablaufs, Diebstähle am Arbeitsplatz nahmen zu und private Netzwerke zur „Beschaffung“ defizitärer Waren (s. a. Blat) verbreiteten sich mehr und mehr. Außerdem zeigte sich immer deutlicher die Abhängigkeit der sowjetischen Wirtschaft von Gold- und Ölexporten. Auf die Devisen aus diesen Exporten war die sowjetische Führung immer stärker angewiesen, um Lebensmittel und neue Technik im Westen zu kaufen. Den Staat kostete es enorme Summen, den Status als Supermacht im Wettrüsten mit den USA aufrechtzuerhalten.5
Für die Bevölkerung bot diese Zeit im hohen Maße eine Erwartungs- und Verhaltenssicherheit. Man konnte sich mit dem System gut arrangieren und es sich im wörtlichen Sinne „in ihm einrichten“, da auch immer mehr Menschen eigenen Wohnraum erhielten. Der Rückzug ins Private – dafür steht symbolisch vor allem die Küche – fand massenhaft statt.6 Der sowjetische Staat verteilte soziale Leistungen und versorgte die Bevölkerung. In vielen Bereichen verwaltete er aber lediglich den Mangel, ohne die durchaus wahrgenommenen Probleme beseitigen zu können.7
In der heutigen Zeit wird der Vergleich zwischen der „Putinschen Stabilität“ und der Zeit der Stagnation unter Breshnew immer häufiger gezogen. Dies ist durchaus berechtigt, da die Wirtschaft sich von vielen Erscheinungen der sowjetischen Periode immer noch nicht befreit hat, wie zum Beispiel die enorme Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von Erdöl- und Gasexporten zeigt.8