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48 Stunden auf Leben und Tod

Im Krieg kann jeder noch so kleine Moment das Leben verändern oder gar beenden. Ein Befehl, eine Unachtsamkeit oder auch eine halsbrecherische Idee ... Der ukrainische Soldat Anatolii Ossuchowsky hat existenzielle Schicksalsschläge in rasanter Abfolge erlebt: Befehl, Angriff, Rückzug, russische Gefangenschaft, willkürliche Erschießungen, seine Flucht – all das in kaum zwei Tagen eines einzigen Fronteinsatzes. Rustem Chalilow hat Ossuchowskys Geschichte für die Ukrajinska Prawda dokumentiert.

Quelle Ukrajinska Prawda

Collage © Andrii Kalistratenko/Ukrajinska Prawda

An jenem warmen Junimorgen, der ihn sein Leben lang begleiten wird, lag Oberfeldwebel Anatolii Ossuchowsky mit gefesselten Händen von einem schweren Stamm zu Boden gedrückt und wartete auf seine Hinrichtung.

Wenige Minuten zuvor war es ihm noch wie ein zu langer Traum vorgekommen. Alles geschah so abrupt, als hätte ein Cutter in seinem Studio einen Film geschnitten: Ossuchowsky geht durch den Wald – klick! – ein Maschinengewehrlauf drückt gegen seine Schläfe – klick! – unter der Wange trockene Erde, ein Baumstamm auf seinem Rücken und vor den Augen die Stiefel eines russischen Soldaten.

Anatolii hob den Kopf und schaute ihm in die Augen. „Glotz mich nicht an!“, schrie der Aufseher. In diesem Moment verstand Ossuchowsky, dass er und seine Kameraden erschossen würden.

Er biss die Zähne zusammen und begann still zu beten. Doch er bettelte nicht um ein Wunder, das ihn am Leben halten könnte. Er beschwörte nicht die Rettung seiner Seele und flehte nicht um einen schmerzlosen Tod. Er bat Gott lediglich um eine Idee – eine gute Idee, wie er von hier fliehen könnte.

In den entscheidenden Momenten des Lebens, unter schwersten Herausforderungen, bläst ein Sturm alles Überflüssige hinfort und reduziert den Menschen auf sein Wesentliches, um zu verstehen, wer man wirklich ist.

Der 56-jährige Anatolii Ossuchowsky war schon sein gesamtes bewusstes Leben ein Mann der Tat gewesen.

In der Oberstufe stemmte er Gewichte, um fit für den Militärdienst zu sein. Im angeblichen „Dienste des Internationalismus“ schickte die Sowjetunion den 18-jährigen Sportler in die steinige Wüste Afghanistan.

Später machte er sich selbstständig. Als er Mitte der 90er Jahre aufgrund eines Dollar-Kurssprungs bankrott ging, ließ er sich nicht unterkriegen. Er packte seine Sachen und ging nach Großbritannien. Dort arbeitete er hart, um seine Kredite zurückzuzahlen und gründete acht Jahre später seine eigene Baufirma.

Im Februar 2022, Ossuchowsky war bereits britischer Staatsbürger, buchte er für den lang ersehnten Familienurlaub ein teures Hotel in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Doch am Morgen des 24. Februar rief ihn seine Patentante aus der Ukraine an und sagte drei Worte: „Es ist Krieg.“

Anstatt ins Flugzeug nach Dubai zu steigen, kaufte sich Ossuchowsky einen Geländewagen und Militärausrüstung und machte sich auf, die Ukraine zu verteidigen. Seine zwei Brüder und er schlossen sich einer Einheit an. Als Kampfname wählte Ossuchowsky „London“.

Nun, als er drei Jahre später in seine wohl schwierigste Lebenslage geriet, dachte er nicht daran sich seinem Schicksal zu fügen.

 

„Der schwerste Beschuss in meinem Krieg“

Ein Evangelium nach Anatolii würde folgendermaßen beginnen: „Am Anfang war der Befehl.“

Zuerst gab es einen Befehl. Und der Befehl war einfach: Wache schieben.

Am 3. Juni erhielten „London“ und zwei Kameraden einen automatischen Granatwerfer und vier Munitionskisten und begaben sich zu ihrer Stellung.

Der Beobachtungsposten befand sich am Waldrand, davor erstreckte sich ein Feld. Auf der anderen Seite des Feldes, etwa drei Kilometer entfernt, war wieder Wald. Dort saß der Feind. Es gab einen befestigten Unterstand und innerhalb eines halben Tages schaufelten die Soldaten einen weiteren.

Vielleicht wären sie unbemerkt geblieben, wenn sie nicht den Befehl bekommen hätten, bestimmte Koordinaten anzugreifen. Die Soldaten feuerten vier Schüsse auf das Ziel und tarnten sogleich den Granatwerfer.

„Wahrscheinlich haben sie uns anhand des Mündungsknalls lokalisiert“, folgert Ossuchowsky. „Die Antwort kam sofort und schlug 25-30 Meter von uns ein. Für eine 120-Millimeter-Granate ist das sehr präzise. Wir verkrochen uns in den Unterstand und zählten zwölf Einschläge. Dann warf eine Drohne einen Sprengsatz auf den Bunker, in dem wir drei saßen. Das war der schwerste Beschuss während meines gesamten Krieges.“

Alle drei erlitten einen Granatschock. „London“ den leichtesten. Er half seinen Kameraden auf und sie rannten zum zweiten Unterstand. Während sie rannten, traf eine feindliche FPV-Drohne ihren Granatwerfer und die Munition begann zu detonieren.

Der zweite Unterstand war klein und bot gerade genug Platz für sie drei. Dort zählten sie weitere 12 Mörsergranateneinschläge.

 

Anatolii Ossuchowsky: „Ob ich ein risikobereiter Mensch bin? Vielleicht. Aber bis zum Krieg war das größte Risiko für mich, Geld in mein Business zu stecken.“ / Foto © Oleh Ossuchowsky/Ukrajinska Prawda

Als der Beschuss vorüber war, schauten sie nach draußen und stellten fest, dass ihr Hauptbunker völlig zerstört war. Sie beschlossen sich zurückzuziehen.

Der Weg zur benachbarten Mörser-Einheit betrug zweieinhalb Kilometer. Dort berichtete die Gruppe über die Lage und die schweren Verletzungen der Soldaten. Doch bis zur Evakuierung mussten sie noch bis zur Nacht abwarten.

Während sie warteten, erhielten die Soldaten einen weiteren Befehl: Sie sollten zur Stellung zurückkehren und ihre Nachbareinheit unterstützen.

„Die Jungs fühlten sich sehr schlecht. Sie hatten einen Granatschock und mussten sich erbrechen. Aber folgten dem Befehl des Kommandeurs“, sagt Ossuchowsky. „Als wir aufbrachen, waren die Jungs kreidebleich.“

In der Morgendämmerung machten sie sich auf den Weg. Der Himmel im Osten wurde gerade durch die ersten Sonnenstrahlen in silbriges Licht getaucht und in der Luft hing der Geruch feuchter Erde.

So gingen sie los, drei Männer mit Maschinengewehren. „London“ bildete den Schluss.

Wie sie so gingen, bemerkten sie den ersten feindlichen Hinterhalt nicht. Als sie auf Höhe des zweiten waren, tauchten plötzlich zehn Männer auf. Ossuchowsky konnte nicht einmal sein Maschinengewehr anheben, da sah er bereits den Lauf eines feindlichen Gewehrs auf sich gerichtet.

So geriet er in Gefangenschaft.

 

Schokolade in Gefangenschaft

Ossuchowskys Trupp war nicht der einzige, der an diesem Morgen Maschinengewehrläufe auf sich gerichtet sah. Während er gefesselt dalag und über seine Flucht nachdachte, brachten die Russen weitere Gefangene. Vor der Kamera erfragten sie Name und Einheit und stießen sie zu Boden. Insgesamt kamen zehn Personen zusammen.

Eigentlich waren es zwölf gewesen. Zwei ukrainische Kämpfer aber brachten die Russen nach dem Verhör in den Wald. Eine Minute später hallten Schüsse. Ossuchowsky sah sie nie wieder.

„Nach einiger Zeit schauten sich die Orks einander an, dann meinte einer zu uns: ‚Wenn ihr euch gut benehmt, bleibt ihr vielleicht am Leben‘“, erzählt Ossuchowsky.

Als sie den Gefangenen die Fesseln lösten, wurde war ihm klar: Sie würden vorerst am Leben bleiben. Der Gedanke zu fliehen ließ ihn nicht los. Es fühlte sich an, als wäre ein Turbo angesprungen und seine Gedanken rasten.

Die erste Idee hatte „London“, als er darum bat austreten zu dürfen. Man führte ihn an einen Ort, der von einer tiefen Senke durchschnitten war – eine hervorragende Fluchtroute, viel sicherer als durch den offenen Wald.

Eine halbe Stunde später bat Ossuchowsky nochmals darum, auf Toilette gehen zu dürfen. Zu jenem Zeitpunkt wurden sie von drei Männern bewacht. Einer von ihnen fiel jedoch aus, weil er 20 Meter entfernt im Gebüsch lag und die entgegengesetzte Richtung beobachtete.

„Ich war mit einem Fuß bereit, die Flucht zu ergreifen. Da sah ich, wie 50 Meter vor mir eine andere Gruppe von sechs Männern durch die Senke kam. Es war klar, dass sie die Wachen hören und mich entdecken würden. Es gab also keine Chance zu fliehen.“

Ossuchowsky kehrte zu den anderen Gefangenen zurück. Als Nächstes kam ihm in den Sinn, sich abzusprechen und auf ein Zeichen hin die Wachen anzugreifen. Aber auch diese Idee war zum Scheitern verurteilt, denn den Gefangenen war es verboten miteinander zu reden.

Aber Ossuchowsky hielt sich nicht daran. Als er zurückkam, setzte er sich neben einen Kameraden aus einer anderen Einheit. Auf seine Männer konnte er nicht zählen, denn sie fühlten sich nach dem gestrigen Beschuss noch elend. Also rückte „London“ näher an den Fremden und flüsterte: „Wollen wir sie angreifen?“

Das Risiko war enorm, dass einige von ihnen dabei ums Leben kommen würden. Andererseits, überlegte Ossuchowsky, könnte ein Teil der Gefangenen doch gerettet werden.

Sein Nachbar sah ihn mit großen Augen an und rückte von ihm ab. „London“ wurde klar: Er musste es selbst organisieren.

„Die Russen erzählten Propaganda-Märchen: ‚Wer in Gefangenschaft kommt, bekommt bei uns Schokolade. Bei uns kann man sich waschen und duschen, nicht so wie bei euch, wo ihr unsere Kameraden erniedrigt. Bei uns ist alles ganz anders.‘“

Sie wollten, dass wir auf sie hörten und alles taten, was sie sagten. Bei einigen unserer Männer hat das scheinbar funktioniert.

Einige Stunden später kam der Befehl, die Gefangenen weiter hinter die Front zu bringen. Das mögliche Zeitfenster zur Flucht verkleinerte sich drastisch.

 

Die Flucht

Wenn man sich zur Flucht entscheidet, ist es wichtig, dass man die Hände frei hat. Obwohl Ossuchowsky noch keinen genauen Plan hatte, war ihm dieser Punkt klar.

Die Gefangenen wurden informiert, dass sie auf einem Pfad etwas zweieinhalb Kilometer über ein vermintes Feld gehen sollten.

Als den Gefangenen wieder die Hände gefesselt wurden, gab „London“ vor, erschöpft zu sein.

„Als ich als Vorletzter an die Reihe kam, sagte ich: ‚Jungs, ich bin 60 Jahre alt. Mein Knie ist verletzt und mein Schädel dröhnt. Ich werde die zweieinhalb Kilometer kaum laufen können.‘ Sie sagten: ‚Nagut, dann werden wir dich nicht fesseln.‘“

Der Mann nach mir war 52 Jahre alt und bat ebenfalls darum, nicht gefesselt zu werden. Der Ork sagte ihm: „Gut, dann geht ihr zusammen am Schluss und helft euch gegenseitig.“

Drei russische Soldaten liefen vor der Kolonne und einer dahinter.

Die Gefangenen sollten im Abstand von höchstens zwei Metern hintereinander gehen. Bei einem Spaziergang wäre dies vielleicht möglich gewesen, doch ein Teil der Männer verfiel in einen Trab und eilte voraus, während andere bereits nach zweihundert Metern außer Atem waren und langsamer weitergingen.

So liefen sie mitten durch ein Minenfeld, das Gras brusthoch und hinter ihnen nur ein einziger bewaffneter Bewacher.

Während der Stunden in Gefangenschaft waren Ossuchowsky ein Dutzend möglicher Szenarien durch den Kopf gegangen. In den meisten plante er, den nächststehenden Soldaten zu Boden zu bringen. Nun aber ergab es sich, dass er niemanden angreifen müsste. Er musste nur den richtigen Moment abpassen.

Er holte seinen mitgefangenen Kameraden ein und sagte: „Ich werde fliehen. Bist du dabei?“

Als dieser sich umdrehte, war sein Gesicht war leichenblass. „London“ begriff, dass er allein fliehen würde. 

Anatolii Ossuchowsky im Winter mit einem Kameraden im Schützengraben / Foto © Oleh Ossuchowsky/Ukrajinska Prawda

Er warf einen letzten Blick zurück: Der nächste Gefangene war etwa vierzig Meter entfernt. Dann duckte sich Ossuchowsky und sprang ins Gras. In wenigen Sekunden legte er 50 Meter zurück – zuerst in eine Richtung, dann in die andere. Dann beobachtete er, wie sein Aufseher vorbeilief.

„London“ dachte, wenn sie jetzt durchzählten und seine Flucht bemerkten, würden sie das Feld mit Kugeln durchsieben. Also rollte er sich so am Boden zusammen, dass ihm mögliche Treffer den geringsten Schaden zufügen würden.

Doch niemand schoss ins Feld. Wahrscheinlich entdeckten sie den Fehler erst am Ende des Marsches.

Ich kroch bis zur Mitte des Feldes, etwa 2,5 Kilometer. Auf direktem Wege wäre es viel kürzer gewesen, aber ich erwartete, dass sie mein Verschwinden bereits per Funk gemeldet hätten und deshalb nach mir gesucht würde.“

Dann sah ich in der Ferne den Wald. Wie unsere Drohnenpiloten später sagten, waren es bis dort fünf bis sechs Kilometer. Heute würde ich diesen weiten Weg nicht mehr gehen, denn das Feld war vermint. Auf dem Weg traf ich auf drei-vier Minen, aber das waren schwere Panzerabwehrminen.“

 

Träger fremder Geheimnisse

Seine Knie brannten, als wären sie voller Glasscherben. Oft schien es ihm, als verließen ihn die Kräfte, um weiterzukriechen. Der Weg war beschwerlich und mehrmals wünschte er sich bis zum Morgengrauen auszuruhen.

„Ich legte mich ins Gebüsch und bedeckte mich mit Gras. Es wehte ein leichter Wind. Das war so gut“, entsinnt sich „London“ an die erste schöne Erinnerung dieser Geschichte.

Zwanzig Minuten Pause war alles, was er sich gönnte, obwohl sein Körper nach mehr verlangte. Doch er musste noch an diesem Abend zu seinen Leuten kommen. Denn er trug auch ein wichtiges Geheimnis bei sich.

In Gefangenschaft hatte Ossuchowsky mitgehört, wie die Russen ihre Pläne besprachen. So erfuhr er, dass ein Aufklärungstrupp nachts die Stellungen der ukrainischen FPV-Piloten überraschen und stürmen sollte. Mit einigen dieser Piloten war „London“ befreundet. Nachdem man die Ukrainer ihrer Augen am Himmel beraubt hätte, wäre der Feind zum Angriff übergegangen.

Also musste Ossuchowsky weiter. Er sagte sich: „Egal, was die Knie sagen, du musst deine Leute erreichen und sie vor dem geplanten Überfall warnen.“

Als das Gras und die Büsche aufhörten, stand Ossuchowsky auf und rannte los, so gut er konnte. Von Zeit zu Zeit hob er die Hände, damit niemand auf ihn schoss. Ob die Stellung vor ihm eine eigene oder feindliche war, konnte er nicht wissen. Sicher wusste er nur, in welcher Richtung die ukrainische Armee stand.

Schließlich ragte vor ihm eine Wand aus Stacheldraht empor. Sie war zu hoch, um darüber zu springen. An einer Stelle fand er schließlich ein Loch. Er kroch hindurch und gelangte direkt in den Schützengraben. Dort befanden sich Menschen.

Er erstarrte und lauschte. Die Männer sprachen Russisch.

Fast wäre der dünne Hoffnungsfaden in ihm gerissen. Den ganzen Weg über hatte er sich gesagt, dass er bis zum Abend bei seinen Leuten sein musste. Nun schien es, als müsste er umkehren, um weiter die ukrainischen Stellungen zu suchen. Da wurde ihm klar, dass seine Kräfte erschöpft waren.

Ossuchowsky kroch zurück und versteckte sich im Gebüsch, um nicht entdeckt zu werden. Plötzlich hörte einige Worte auf Ukrainisch.

Selbst jetzt, da er sich an diesen Moment erinnert, füllen sich seine Augen mit Tränen. Nie zuvor – nicht in der glühenden Hitze Afghanistans, oder auf den regennassen Straßen Londons, oder nachdem er zum ersten Mal seit langer Zeit seine Heimat wiedergesehen hatte – nie in seinem Leben hatte sich Ossuchowsky so gefreut, seine Muttersprache zu hören.

Da richtete er sich auf und rief den Soldaten zu: „Slawa Ukrajini!“

 

***

 

Der Weg ins Krankenhaus war nicht leicht. In kurzen Sprints ging es unter dichtem Feuer von einem Beobachtungspunkt zum nächsten. Dabei fühlte es sich an, als würden die Granaten gleich neben einem einschlagen. Nach einem erneuten Granatschock kam „London“ erst wieder zu sich, als ihm Wasser ins Gesicht gegossen wird.

Anatolii Ossuchowsky im Krankenhaus mit seinem jüngeren Bruder Oleh / Foto © Oleh Ossuchowsky/Ukrajinska Prawda

Ossuchowsky berichtete den Kommandeuren, was er über die Pläne des Feindes gehört hatte. Die Drohnenpiloten und andere Soldaten hatten Zeit, ihre Stellungen zu verlassen, die angegriffen werden sollten. Artillerie und Infanterie erfuhren, wo sie die Russen suchen mussten. Später erzählte einer der verwundeten Kämpfer im Krankenhaus, dass sie eine der Gruppen aufgespürt und eliminiert hätten, vor denen Ossuchowsky seine Führung gewarnt hatte.

Der Krieg ist für ihn noch nicht vorbei, obwohl seine Frau von Zeit zu Zeit fragt: „Vielleicht lässt du jetzt andere kämpfen und kommst zurück?“ – „Wen meinst du mit ‚andere‘?“, antwortet Anatolii. „Die Zwanzigjährigen?“

Vielleicht wurde der Ausdruck „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ von Menschen erfunden, denen die Kraft fehlte, ihr Ziel unnachgiebig zu verfolgen. 

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Unabhängigkeit à la Ukraine

Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen und sterben für die Unabhängigkeit ihres Landes. Heute im Kampf an der Front oder durch russische Luftangriffe im Hinterland. Seit über zehn Jahren im Untergrundwiderstand in annektierten und besetzten Gebieten und in Kämpfen gegen von Russland unterstützte Separatisten. In früheren Zeiten in von Moskau verschärften Hungersnöten, durch Kugeln des sowjetischen Geheimdienstes und in sowjetischen Arbeitslagern. Ukrainische Nationalisten bekämpften im 20. Jahrhundert neben Russland auch jüdische und polnische Gemeinschaften in ihrem Land, teils zusammen mit den deutschen Nationalsozialisten. Zuvor gab es jedoch auch eine Vorstellung von einer unabhängigen sowjetischen Ukraine – ob staatsbürgerlich oder föderalistisch.  

Woher rührt dieses unbedingte Streben nach staatlicher Souveränität? Was feiert die Ukraine mit ihrem Nationalfeiertag seit 1992 jedes Jahr am 24. August? Wie entwickelte sich das ukrainische Konzept von Eigenstaatlichkeit? 

Der ukrainische Historiker Andrii Portnov skizziert die historische Entwicklung von Ideen und Praktiken einer unabhängigen Ukraine in den vergangenen zwei Jahrhunderten bis heute.  

Staatsflagge und Unabhängigkeitsdenkmal (seit 2001) mit Berehynja und Kalynazweig auf dem Maidan Nesaleshnosti in Kyjiw / Foto © Peggy Lohse/dekoder

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts existierte auf der politischen Landkarte Europas kein Staat namens Ukraine. Die letzten Elemente der kosakischen Staatlichkeit waren Ende des 18. Jahrhunderts durch das Russländische Reich zerstört worden. Doch das Fehlen einer Staatsstruktur bedeutete nicht das Fehlen einer nationalen Bewegung.  

Die ukrainische Intelligenz, inspiriert von den Ideen Herders und anderer romantischer Philosophen, schlug ein Projekt zur kulturellen und politischen Emanzipation der ukrainischsprachigen bäuerlichen Bevölkerung der beiden bestehenden Reiche vor: aus dem zaristischen Russland und Österreich-Ungarn.  

Drahomanow: Staatenlose Ukraine prädestiniert für Ideal-Föderalismus 

Eine Schlüsselfigur des ukrainischen politischen Denkens im 19. Jahrhundert war der Althistoriker Mychajlo Drahomanow, der 1876 wegen seiner politischen Überzeugungen aus dem Zarenreich emigrieren musste. Im Exil gab Drahomanow die Zeitschrift Hromada (dt: Gemeinde) in Genf heraus und wurde 1889 Leiter der Abteilung für Weltgeschichte an der Universität Sofia.  

Nach Drahomanows Ansicht war die Ukraine, die aufgrund der historischen Umstände keine eigene Oberschicht und keinen eigenen Staat besaß, so ideal für die sozialistischen „Praktiken der staatenlosen Ordnungen“ geeignet, und die Ukrainer – „die zahlreichste der bäuerlichen Nationen Osteuropas“ – sollten eine Schlüsselrolle für die Verwirklichung eines idealen Föderalismus spielen. Dieses Ideal bestand in der Gleichberechtigung aller Nationalitäten. 

Drahomanow betrachtete nicht die Erlangung einer eigenen ukrainischen Staatlichkeit als höchstes Ziel. Im Gegenteil, er argumentierte am Beispiel Deutschlands, dass die nationale Einheit innerhalb eines Staates nicht unbedingt zu mehr Freiheit führe. Gleichzeitig forderte er sowohl die polnische als auch die russische sozialistische Bewegung nachdrücklich auf, die ethnisch-kulturelle Eigenständigkeit der Ukrainer anzuerkennen und auf imperialistische Bestrebungen zu verzichten. 

Batschynsky: Nationalstaat als notwendige Etappe zur sozialistischen Revolution 

Die erste theoretische Begründung für die politische Unabhängigkeit der Ukraine stammt aus dem Jahr 1895 und wurde von dem Lwiwer Marxisten Julian Batschynsky verfasst. In seinem Essay Ukrajina Irredenta versuchte Batsсhynsky, die von Friedrich Engels vorgeschlagene Analyse des Klassencharakters des Staates auf ukrainischen Boden zu übertragen. 

Batschynsky verglich die ukrainische mit der irischen Frage und stellte fest: „Die politische Unabhängigkeit der Ukraine ist eine unabdingbare Voraussetzung für ihre wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung, buchstäblich für die Möglichkeit ihrer Existenz.“1 Diese politische Unabhängigkeit sollte dann für „alle Einwohner der Ukraine“ ohne Unterschied hinsichtlich ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion gelten.  

In Anlehnung an Engels betonte Batschynsky, dass der Nationalstaat eine notwendige Etappe in der gesellschaftlichen Entwicklung und ein unvermeidliches Produkt der kapitalistischen Verhältnisse sei. Dementsprechend betrachtete er die politische Unabhängigkeit der Ukraine als Voraussetzung für die Herausbildung einer ukrainischen Bourgeoisie und folglich für die beschleunigte Schaffung von Bedingungen zur Intensivierung des Klassenkampfes und der sozialistischen Revolution. 

Lypynsky: Nation der Staatsbürger 

Der Sturz der Monarchie und die demokratische Februarrevolution von 1917 in Russland ermöglichten es der ukrainischen Intelligenz, die Ideale des Sozialismus, der Föderation und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung umzusetzen. Die in Kyjiw ausgerufene Ukrainische Volksrepublik hielt sich allerdings nicht einmal ein Jahr und wurde durch die militärische Aggression der russischen Bolschewiki gestürzt. Seit 1918 durchlebte die Ukraine ein Kaleidoskop von Regierungswechseln, ausländischen (deutschen, polnischen, französischen) Interventionen, Bauernaufständen und antijüdischen Pogromen. Im März 1921 wurde mit dem in Riga unterzeichneten Frieden eine neue Staatsgrenze festgelegt, nach der die ukrainischen Provinzen des ehemaligen Russländischen Reiches (mit Ausnahme Wolhyniens) zur Sowjetukraine unter bolschewistischer Herrschaft wurden und die westukrainischen Gebiete, die zuvor zum Österreichischen Kaiserreich gehört hatten, an den 1918 wiederhergestellten polnischen Staat abgetreten wurden. 

Die Niederlage der ukrainischen Revolution, die stark von sozialistischen und föderalistischen Parolen geprägt war, führte zu einem schmerzhaften Umdenken über die Aufgaben und Methoden der ukrainischen Bewegung. Wjatscheslaw Lypynsky, ein christlich-konservativer Denker, schlug dabei originelle Ansätze vor: Schockiert von den Erfahrungen der Revolutionsjahre 1917–1921 lehnte Lypynsky Demokratie und Sozialismus kategorisch ab. Aber seine Vision von der Zukunft der Ukraine schloss auch nationalen Exzeptionalismus oder Chauvinismus aus. Für Lypynsky waren die Mitglieder der ukrainischen Nation „alle Bewohner dieses Landes und alle Bürger dieses Staates“.  

Er selbst stammte aus einem polnischen Adelsgeschlecht und betonte: „Ein Ukrainer ist jeder, der will, dass die Ukraine keine Kolonie mehr ist“ – also jeder, der für die Gründung eines ukrainischen Staates eintritt. Lypynskys grundsätzlich integrativer Ansatz hatte großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des ukrainischen politischen Denkens. 

Donzow, Bandera & Zweiter Weltkrieg: Radikalisierungen im Kampf um Eigenstaatlichkeit 

In der Zwischenkriegszeit der 1920er und 1930er Jahre erwies sich Lypynskys Einfluss jedoch als schwächer als der eines anderen politischen Theoretikers: Dmytro Donzow veröffentlichte 1926 in Lwiw sein Buch Nationalismus2 und predigte darin Ideen der nationalen Exklusivität und des rücksichtslosen Kampfes um Staatlichkeit.  

Die Konstante bei Donzow war eine radikal antirussische Haltung. Unter dem spürbaren Einfluss des deutschen Nationalsozialismus machten sich in seinen Texten militanter Antisemitismus und Rassismus breit. Donzows Kernthesen deckten sich mit der Rhetorik der 1929 gegründeten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die proklamierte, für die Eigenstaatlichkeit zu kämpfen. Da sie die Methoden der legalen demokratischen Politik grundsätzlich ablehnte, konzentrierte sich die OUN im Untergrund auf junge Menschen.  

Die jungen Nationalisten betrachteten die interethnischen Beziehungen im Sinne des Sozialdarwinismus als einen zerstörerischen Kampf ums Dasein. In Ablehnung jeglicher Rechtsstaatlichkeit strebte die OUN eine Revision der nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Grenzen an und suchte dementsprechend Kontakte zu Deutschland, das ebenfalls unmittelbar an einer solchen Revision interessiert war. Mit Blick auf Mussolinis Italien und Hitlerdeutschland befürwortet die OUN eine Einparteiendiktatur und das Führerprinzip. 1940 spaltete sich die OUN in zwei Fraktionen, die nach ihren Führern benannt wurden: die Banderiwzi (nach Stepan Bandera) und die Melnykiwzi (nach Andrii Melnyk).   

Nachdem am 22. Juni 1941 Deutschland die Sowjetunion überfallen hatte, rückte am 30. Juni die Wehrmacht in Lwiw ein. Am selben Tag verkündete die OUN (B) in der Stadt die „Wiederherstellung des ukrainischen Staates“. Da diese Erklärung von den deutschen Behörden nicht genehmigt worden war, wurden Bandera (der sich zu diesem Zeitpunkt in Krakau aufhielt) und sein Abgesandter Jaroslaw Stezko verhaftet und in einer Sonderbaracke des Konzentrationslagers Sachsenhausen interniert (wo sie bis September 1944 festgehalten wurden). 

Die Mitschuld einiger ukrainischer Nationalisten am nationalsozialistischen Holocaust und die von der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) initiierte ethnische Säuberung der polnischen Bevölkerung von Wolhynien wurden zu den dunkelsten Seiten der Geschichte des ukrainischen Untergrunds.  

Bereits in den ersten Nachkriegsjahren kritisierten einige ukrainische emigrierte Denker die autoritären Methoden der OUN. Insbesondere der Philosoph Wassyl Rudko bezeichnete die ungezwungene Opferung von Menschen für die abstrakte Losung einer Volksrevolution als charakteristisches Merkmal der OUN und argumentierte, dass Donzows Ideologie den Weg für Totalitarismus und Gewaltkult geebnet habe. In den späten 1940er Jahren schrieb auch der Historiker Borys Krupnyzky über die Gefahren des modernen Nationalismus.  

Chwyljowy: „Unabhängiger republikanischer Organismus als Teil der Sowjetunion“? 

Infolge des Zweiten Weltkriegs wurden alle westukrainischen Gebiete, die bis 1939 zu Polen gehört hatten, Teil der Sowjetukraine. Mit anderen Worten: Es war Stalin – der Politiker, der für den Holodomor von 1932–33 und die Massenrepressionen verantwortlich war –, der das uralte Ideal der ukrainischen Bewegung verwirklichte: die Vereinigung aller ukrainischen Gebiete in einem Staat.  

Dieser Staat – die Sowjetunion – war 1922 gegründet worden, die Sowjetukraine war eine der Gründungsrepubliken. Obwohl die Sowjetherrschaft in der Ukraine mit militärischer Gewalt errichtet wurde, erkannten die Bolschewiki das Mobilisierungspotential der ukrainischen Nationalbewegung, der ukrainischen Sprache und der ukrainischen Nationalität. In den 1920er Jahren schien es vielen, als sei die Sowjetukraine nun die gewünschte Form der ukrainischen Staatlichkeit. So stellte zum Beispiel noch der Schriftsteller und Mykola Chwyljowy in seinem Pamphlet Ukraine oder Kleinrussland? (1926) fest: „Wir sind in der Tat ein unabhängiger Staat, dessen republikanischer Organismus ein Teil der Sowjetunion ist. Und die Ukraine ist nicht deshalb unabhängig, weil wir Kommunisten das wollen, sondern weil der eiserne und unwiderstehliche Wille der Gesetze der Geschichte es verlangt, weil wir nur so die Klassendifferenzierung in der Ukraine beschleunigen können.“  

Doch schon in den späten 1920er Jahren verbot die Sowjetregierung solche Äußerungen, die meisten kulturellen Eliten der Ukraine wurden Opfer von Repressionen, und die Praxis der Russifizierung, das heißt auch der Annäherung der ukrainischen Sprache an das Russische, wurde im Bildungswesen durchgesetzt. Trotz dieser sich weiter verstärkenden Tendenzen hat die Sowjetunion bis zu ihrem Ende weder den republikanischen Status der Ukraine noch die Eigenständigkeit der ukrainischen Sprache und Nationalität abgeschafft. 

Seit 1991: Demokratische Unabhängigkeit unter sowjetischem Erbe 

Im Jahr 1991 brach die Sowjetunion an den Grenzen von 15 Sowjetrepubliken zusammen. Im Falle der Ukraine hatte die bewusste Entscheidung der lokalen Parteieliten für eine Loslösung von Moskau und eine unabhängige Existenz einen entscheidenden Einfluss auf diesen Prozess. 1992 veröffentlichte die Deutsche Bank einen Bericht,3 demzufolge die Ukraine dank Industrialisierung, dem hohen Bildungsstand der Bevölkerung und ihrer natürlichen Ressourcen zu denjenigen Republiken mit den besten Voraussetzungen für ein wirtschaftliches, politisches und soziales Wachstum gehörte.  

Die hohen wirtschaftlichen Erwartungen in Verbindung mit der tiefen Enttäuschung über die staatliche Planwirtschaft der späten Sowjetunion und dem spürbaren Mangel an vielen Gütern erklären weitgehend die beeindruckenden Ergebnisse des Referendums über die Unabhängigkeit der Ukraine: Am 1. Dezember 1991 beteiligten sich 84,2 Prozent der registrierten Wähler an der Volksabstimmung, 92,3 Prozent von ihnen sprachen sich für die Unabhängigkeit aus.  

Am selben 1. Dezember wurde der ehemalige Vorsitzende der örtlichen Kommunistischen Partei, Leonid Krawtschuk, zum ersten Präsidenten der unabhängigen Ukraine gewählt. Und die Person des ersten Präsidenten war eine wichtige Sache: So ist der neue Staat nämlich nicht aus einer Revolution hervorgegangen, sondern wurde auf demokratischem Wege auf den Fundamenten der alten sowjetischen Institutionen errichtet. 

Die unabhängige Ukraine erbte die durch die sowjetische Expansionspolitik geschaffenen Grenzen, die Industrie- und Verkehrsinfrastruktur sowie alle durch die sowjetische Politik verursachten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme. Der neue Staat gewährte allen Menschen auf seinem Territorium automatisch die Staatsbürgerschaft, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Sprachkenntnissen.  

Die Ukraine verzichtete 1994 auch auf die sowjetischen Atomwaffen, die auf seinem Territorium stationiert waren – was damals die einzig richtige Antwort auf die schmerzliche Erfahrung des Unfalls von Tschornobyl 1986 und die allgemeine Auffassung von der Notwendigkeit einer weiteren nuklearen Abrüstung zu sein schien.  

Es ist erwähnenswert, dass es der unabhängigen Ukraine trotz aller wirtschaftlichen und sonstigen Schwierigkeiten gelungen ist, im Gegensatz zu ihren Nachbarn Russland und Belarus, ein politisches System mit regelmäßigen Regierungswechseln und kompetitiven Wahlen zu schaffen. Seit Dezember 1991 wurden in der Ukraine sieben Präsidentschaftswahlen abgehalten, und sechs Personen haben das Amt übernommen. Zum Vergleich: In Belarus gab es zwischen 1994 und 2024 einen Präsidenten, in Russland drei. 

Die Trennung der Ukraine von der UdSSR im Dezember 1991 verlief unblutig. Und auch die politische Entwicklung der unabhängigen Ukraine war bis Januar 2014 nicht von physischer Gewalt geprägt. Dies änderte sich erst mit dem Euromaidan, dann mit der Annexion der Krym durch Russland im März 2014 und dem Ausbruch des Krieges im Donbas im April 2014.  

Die vollumfängliche Invasion Russlands am 24. Februar 2022 und die Fähigkeit der ukrainischen Gesellschaft, sich dagegen zu wehren, haben viele Beobachter dazu veranlasst, den aktuellen Russisch-Ukrainischen Krieg tatsächlich als Krieg um die politische und kulturelle Unabhängigkeit der Ukraine zu bezeichnen. 

 

Diesen Beitrag als Auftakt zu einer Gnosen-Reihe über die Ukraine veröffentlichen wir in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS).


1 Julijan Bačynsʹkyj, 1924. Ukrajina irredenta. Berlin: Vydavnyctvo ukrajinsʹkoji molodi. 
2 Dmytro Ivanovyč Doncov, 1926. Nacionalizm. Lʹviv: Nove žyttja. 
3 Ivan Mikloš, 2015. Quo vadis, Ukraine? Is there a chance for success? (Quo vadis Ukraino? Czy istniejeszansa na sukces?), mBank - CASE Seminar Proceedings 139, CASE-Center for Social and EconomicResearch. 
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1917 war nicht nur das Jahr der Revolutionen in den Zentren des russischen Staates, sondern es war auch das Jahr, in dem etablierte Ordnungen an den Peripherien des Imperiums zerbrachen. Robert Kindler über nationale Unabhängigkeitsbewegungen, bolschewistische Nationalitätenpolitik und die Gewalteskalationen des Bürgerkriegs. 

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)