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„Wenn ihr wiederkommt, gibt es Schläge“

Seit Mitte 2021 entfachen Belarus und Russland eine humanitäre Krise im polnisch-belarussischen Grenzgebiet: Zehntausende Flüchtende aus Drittländern wurden in den vergangenen vier Jahren an die Grenze geschleust, allein im laufenden Jahr wurden bislang rund 25.000 versuchte Grenzübertritte von Belarus nach Polen registriert. Dabei erfahren Flüchtende immer wieder Gewalt, auf beiden Seiten der Grenze; NGOs gehen von dutzenden Todesopfern aus.  

Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass die belarussischen und russischen Staatsbehörden als organisierte Schleuser agieren und die Migration gegen die EU instrumentalisieren. The Insider liefert eine doppelte Perspektive: Ein ehemaliger belarussischer Grenzsoldat erzählt, wie er Flüchtende über die EU-Außengrenze schleuste. Ein iranischer Geflüchteter berichtet, wie es ihm 2023 mit Hilfe der belarussischen Behörden gelang, diese Grenze zu überqueren.  

Quelle The Insider

„Wir haben ihnen die Richtung gezeigt und gesagt: ‚Europa, Deutschland, Merkel‘ – weder wir noch sie konnten Englisch“ 

A., ehemaliger Soldat beim belarussischen Grenzschutz 

2019 habe ich meinen Schulabschluss gemacht und wollte studieren. Aber mein Notendurchschnitt hat nirgendwo gereicht. Ich wollte mich vor der Armee drücken und habe eine Ausbildung angefangen, aber nach einem halben Jahr habe ich geschmissen. Dann bin ich doch zur Armee, um diese Last loszuwerden – ich hatte keine Lust mich zu verstecken, bis ich 27 war. Ich habe mich zur Musterung gemeldet. Das war alles total sinnbefreit: Ich hatte Rückenschmerzen, aber der Arzt wollte bloß, dass ich mich ein bisschen hin- und herdrehe, und hat mir meine Tauglichkeit bescheinigt. Er hat mich in die höchste Gruppe eingestuft. Ich kam zum Grenzschutz. Damals wusste ich nicht, was das für eine Arbeit ist und wie sie abläuft, ich fand mich einfach damit ab, die anderthalb Jahre abzuleisten. 

A., Ex-Soldat beim belarussischen Grenzschutz © The Insider

Die Ausbildung dauerte zwei Monate, wir lebten in totaler Isolation, es war noch zu Pandemie-Zeiten, alle trugen Masken. Wir lernten Spurenlesen: Zum Beispiel wie man die Bewegungsrichtung und das Geschlecht einer Person bestimmt, wie lang es her ist, dass er oder sie hier war. Wir arbeiteten mit Hunden. 

Abgesehen von allgemeinen Vorschriften folgten wir einem Sondererlass, der von Alexander Lukaschenko unterzeichnet war. Unter anderem hieß es dort, bei Sichtung einer verdächtigen Person im Grenzstreifen sollten wir zwei Warnschüsse in die Luft abgeben und schon beim dritten Schuss auf die Person zielen. Am Schluss gab es eine lange Liste von Verboten und den Strafen, die bei Verstoß drohten. Man konnte gefühlt jederzeit im Gefängnis landen, wegen der kleinsten Sache: Du konntest dafür bestraft werden, dass du aufs Klo gehst oder kurz vom Weg abbiegst. 

Wenn jemand gegen die Vorschriften verstieß, konnte er außerhalb der Reihe drangenommen werden – er musste 24 Stunden auf einem Hocker strammstehen und den Offizieren salutieren. Ablösung gab es nur ein paar Mal am Tag: einmal zum Mittagessen, und sonst nur aufs Klo. Ich stand alle zwei Monate so. Ich bat oft darum, auf Toilette zu gehen, um ein wenig zu sitzen und die Beine zu vertreten. Zum Schluss waren die komplett taub.  

Nach einem Jahr durfte ich auf Heimurlaub, da tauchten nach und nach seltsame Nachrichten auf. Zuerst glaubte ich nicht daran. Ich las zum Beispiel, dass belarussische Beamte an der litauischen Grenze, wo ich diente, Migranten aus dem Nahen Osten, Afghanistan und anderen Ländern nach Europa schleusen. Ich konnte mir so etwas nicht mal vorstellen – ich wusste, dass man dafür ins Gefängnis wandern konnte.             

Manchmal habe ich 20 bis 25 Menschen geholt, manche von uns noch mehr – alles hing davon ab, wie schnell die nächste Gruppe gebracht wurde

Als ich aus dem Urlaub zurückkam, wirkte alles ganz normal. Beim Schlafengehen fragte ich einen Kumpel, was hier los war. Er sagte ganz merkwürdig: „Das wirst du bald verstehen.“ Fünf bis zehn Minuten später ertönte ein Alarm. Wir bauten uns schnell im Erdgeschoss vor dem Dienstraum auf. Das Seltsame war, dass alle rausmussten – normalerweise rückt in so einem Fall nur eine Einsatzgruppe von fünf bis sechs Leuten aus. Wir bekamen eine komplette Ausrüstung, Waffen, Schlafsäcke, Isomatten. Da verstand ich, dass die Nachrichten, die ich auf Urlaub gelesen hatte, stimmten und ich das jetzt mit eigenen Augen sehen würde. 

Wir wurden in eine riesige Schischiga gesetzt – einen GAZ-66, es war stockfinster und eng. Ich wusste nicht, wohin wir fuhren, es war mitten in der Nacht, niemand erklärte uns irgendwas. Wir wurden auf einem Feld ausgesetzt. Dort warteten fremde Soldaten von anderen Grenzposten. Wir wurden aufgestellt, die Offiziere begannen uns anzuheizen von wegen litauische Feinde und so und gaben uns Anweisungen, wie wir gleich Migranten über die Grenze nach Litauen schleusen. 

Illustration © The Insider, Uliana Yapparova

Wir hatten einen Startpunkt, wo wir auf die Leute warteten, normalerweise direkt an der Grenze, ungefähr 500 bis 600 Meter entfernt; die Orte wechselten ständig. Über Funk bekamen wir die Koordinaten mitgeteilt, wo wir warten sollten. Meistens kamen kleinere UAZ-Geländewagen, manchmal ganze Busse. Aus denen stiegen Menschen in ganz normaler Kleidung. Wir setzten sie ins Auto, brachten sie zum Grenzstreifen, zeigten ihnen mit Gesten die Richtung und sagten einzelne Wörter wie „Europa“, „Deutschland“, „Merkel“, weil niemand von uns wirklich Englisch sprach, und die meisten von ihnen auch nicht. 

In meinem UAZ konnte ich fünf Menschen mitnehmen. Ich fühlte mich völlig ausgeliefert: Was, wenn einer plötzlich ein Messer zückt oder auf die Idee kommt, mir mein Gewehr abzunehmen? Ich habe drei Nächte lang nicht geschlafen. Manchmal habe ich 20 bis 25 Menschen geholt, manche von uns noch mehr – alles hing davon ab, wie schnell die nächste Gruppe gebracht wurde. Zuerst passierte das alles nur nachts, tagsüber war niemand unterwegs. Die Litauer sollten möglichst lange im Unklaren bleiben, woher die Migranten plötzlich kommen. Wir brachten sie auch nicht direkt an die Grenze, weil die Litauer Drohnen und Wärmekameras haben. Das hätten sie sofort mitgekriegt. 

Einmal sahen wir abends im Fernsehen Lukaschenko – in der belarussischen Propaganda-Sendung Panorama, die oft in der Einheit lief. Er schrie dort: „Zeigt mir die Leute her, die da Menschen über die Grenze schleusen!“ Ich sitze und denke: Das bin doch ich, hier sitze ich. In diesem Moment gab mir das sehr schwer zu denken, wie oft mein Präsident eigentlich lügt. 

Irgendwann waren es so viele Menschen, dass wir Tag und Nacht damit beschäftigt waren. Wir hörten auf, normale Zivilisten und Autos zu kontrollieren – in diesem Moment hätte leicht jemand eine Bombe oder Schmuggelware im Wert von einer Million Dollar reinbringen können. Es war deutlich, dass das Schleusen von Migranten jetzt Staatsaufgabe Nr. 1 war. 

Ich erinnere mich an eine Unterhaltung mit einem Migranten. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Er erzählte mir, es sei aus Afghanistan und hergekommen, weil ihm jemand ein besseres Leben in Deutschland versprochen hätte. Er verkaufte sein Haus, sein Grundstück, sein Auto und steckte seine ganzen Ersparnisse in die Reise, ein Zelt und warme Sachen … Ich sage zu ihm: „Back home, geh zurück nach Hause.“ Und von ihm kam nur: „No home.“ Er hatte kein Zuhause mehr und würde hier bis zum Ende ausharren. 

Als die Litauer den Grenzschutz verschärften, änderte sich alles. Wir hörten auf, die Migranten wie früher mit den UAZ zu transportieren, weil sie jetzt auch in unsere Richtung kamen: Die Litauer machten es uns jetzt nach – sie fingen die Gruppen ab, die wir in ihre Richtung geschickt hatten, und schickten sie zurück. Das war ein kompliziertes Spiel: Wir versuchten herauszufinden, wo die Litauer sind, und sie – wo wir sind und in welche Richtung wir die Menschen schicken. Das Ganze wuchs sich zu einer waschechten humanitären Krise aus, weil viel zu viele Menschen auf einmal im Grenzgebiet waren. Wir rückten immer näher an die Grenze vor, und sie auch. Wir keilten die Menschen quasi von beiden Seiten ein. 

Für mich war das das Abscheulichste, was ich in der Armee gemacht habe

Einmal, es war Anfang Herbst, trafen wir uns an einem Kanal, der die Staatsgrenze bildet. 35 bis 40 Menschen standen im Wasser. Wir trugen verschiedene Arten von Sturmhauben, aber nicht weil es kalt war, sondern weil die litauische Seite Journalisten eingeladen hatte und uns befohlen wurde, unsere Gesichter zu verhüllen. Wenn jemand versuchte, aus dem Wasser zu kommen, drängten wir ihn zurück. So ging es fast einen ganzen Tag lang. 

Illustration © The Insider, Uliana Yapparova

Wir versuchten, die Kinder zu uns zu nehmen und sie aufzuwärmen, weil es nachts sehr kalt war, aber sie weigerten sich. Sie waren erschöpft von den Lügen, von unseren und denen der Litauer, die ihnen auch sagten, dort sei „Europa“. Sie waren einfach müde vom ganzen Hin- und Herlaufen. Menschen zu sehen, die dermaßen frieren, besonders Kinder im T-Shirt bei fünf Grad, war psychisch extrem hart. 

Ein paar Mal versuchten wir mit unserem Truppenleiter zu sprechen, sagten: „Herr Oberst, wir verstoßen gegen alles, was wir haben – das ganze Handbuch, alle 300 Seiten, die uns die ganze Zeit beigebracht wurden.“ Manche hatten kleine Abzeichen als Auszeichnung für Festnahmen, auf die sie stolz waren. Und jetzt schleust derselbe Mensch Illegale über die Grenze, schaut auf seinen Anstecker und denkt sich: „Wozu das Ganze?“ Der Oberst zeigte nur nach oben – die Entscheidungen werden dort getroffen. Ich wollte keinen Aufstand anzetteln oder lautstark meine Position vertreten. Und wenn mein Vorgesetzter, ein Oberst, nichts ausrichten kann, was sollte ich da schon tun? Ich fand mich damit ab, schweigend zu Ende zu dienen. 

Meinen Dienst beendete ich ohne Zwischenfälle. Aber vor der Entlassung gab es einen Moment beim KGB, als ich durch alle Instanzen durchmusste. Ich habe dagesessen und gewartet, dann kam ein Offizier raus, ein normaler Leutnant, der für unsere Gruppe zuständig war. Er redete eigentlich nur von der Migrationskrise, sagte, ich dürfte niemals jemandem etwas davon erzählen. Drohte mir, dass man mich auf jeden Fall finden würde, wenn ich in irgendwelchen Telegram-Kanälen auftauche oder Nachrichten poste. Gab mir einen Zettel, den ich unterschreiben sollte. Ich unterschrieb und ging. 

Ich habe diese ganze Geschichte immer noch nicht verdaut. Für mich war das das Abscheulichste, was ich in der Armee gemacht habe. Jetzt, nach vier Jahren, kann ich wenigstens ruhig darüber sprechen. 

 

„Sie warnten uns: Wenn ihr wieder nach Belarus kommt, gibt es Schläge“ 

M., Geflüchteter aus dem Iran 

Ich bin in einem Dorf im iranischen Kurdistan geboren und aufgewachsen. In meiner Kindheit wollte ich unbedingt Ingenieur werden, aber aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten musste ich die Schule abbrechen. Mit dem Heiraten hat es auch nicht geklappt. Ich habe schon früh auf dem Hof gearbeitet, mich um die Pferde gekümmert.

M., Geflüchteter aus dem Iran © The Insider

Die Massenproteste Frau, Leben, Freiheit brachten mich auf den Gedanken, den Iran zu verlassen. Im Winter 2023, als die Proteste abebbten, wurde mir klar, dass es keinen Ausweg gab. Ich hatte an den Protesten teilgenommen und war von den Überwachungskameras erfasst worden. Ich war schon einmal verhaftet worden – während der Proteste gegen die steigenden Benzinpreise 2019. Im Gefängnis wurde ich gefoltert. Ich wollte das nicht noch einmal erleben. Ich wusste, dass ich nicht zu meiner Familie aufs Dorf zurückkonnte – gegen mich gab es wieder einen Haftbefehl. 

Ich tauchte für ein paar Monate in anderen Städten unter, bis mir klar wurde, dass ich so nicht leben konnte. Da fassten ich und ein paar andere den Entschluss wegzugehen. Ein Mann, den alle nur Chadschi nannten, half uns. Über ein Schmugglernetzwerk besorgte er uns gefälschte Ausweise und Papiere, damit wir nach Russland fliegen konnten. Von dort aus wollten wir mit dem Auto weiter nach Belarus. 

Wir kamen am 9. Juli 2023 gegen 9:30 Uhr morgens in Moskau an. Am Flughafen wurden wir abgeholt, in ein Auto gesetzt und ins Hotel Kosmos gebracht. Dort blieb ich bis 20:30 Uhr, dann schickten sie uns ein Taxi. Am nächsten Tag, Punkt 11:30 Uhr, kamen wir in Minsk an, in einer Unterkunft, die man für uns gemietet hatte. 

Im Haus wimmelte es von Menschen, ein richtiger Ameisenhaufen. Es gab drei Etagen: Im Erdgeschoss wohnten die Organisatoren, zwei bis drei Leute; im ersten und zweiten Stock alle anderen, alleinstehende Männer wie wir. Frauen und Kinder waren woanders untergebracht. 

Der Hausherr war ein Iraner, aber ehrlich gesagt, verhielt er sich wie ein Gauner. Jeder von uns musste ihm 200 Dollar „zum Einkaufen“ geben. Er ging los und kam mit Schlafsäcken, etwas Essen, einem Rucksack, Armeestiefel und anderen Kleinigkeiten zurück. Wir versuchten uns irgendwie zu drücken, wollten das Geld nicht bezahlen. Aber was willst du machen? Wir kannten niemanden, hatten keinen Ort, wo wir hingehen konnten. Wir waren illegal nach Belarus eingereist. 

In diesem Haus lernten wir Iraner kennen, die schon einmal versucht hatten, die Grenze zu überqueren, aber erfolglos. Ihnen war das Essen ausgegangen, sie waren gezwungen gewesen, nach Minsk zurückzukehren, in dasselbe Haus. Sie erzählten uns: „Man kommt unmöglich rüber. Sie haben uns heftig verprügelt.“ Wir glaubten ihnen erst nicht, aber als wir es selbst versuchten, konnten wir uns davon überzeugen, dass es die Wahrheit war. 

Es ist ja wirklich so: Du kannst nichts tun. Du bist in einem fremden Land, in irgendeinem Wald – selbst wenn du willst, kannst du nicht wegrennen

Am vierten Tag kamen Taxis, kleine Geländewagen. Sie setzten je zwei Menschen in ein Auto. Wir erreichten die belarussisch-polnische Grenze. Dort sollten wir von Guides – sie wurden „Leader“ genannt – in Empfang genommen und in ein Flüchtlingslager gebracht werden. Aber im Wald kamen ein paar Männer auf uns zu – als wären sie uns extra entgegen gekommen – und nahmen uns die Rucksäcke ab, überhaupt alles, was irgendwie Wert hatte. Im Lager bekamen wir kaum zu essen. Manchmal habe ich drei Tage lang nichts gegessen, nur Wasser getrunken. Du wirst praktisch zu einer Geisel in den Händen der Schmuggler. Es ist ja wirklich so: Du kannst nichts tun. Du bist in einem fremden Land, in irgendeinem Wald – selbst wenn du willst, kannst du nicht wegrennen. 

Das Lagergelände wurde „Sperrzone“ genannt – es grenzte direkt an den Stacheldrahtzaun auf der belarussischen Seite. An diesem einen Ort waren 60 bis 70 Menschen, größtenteils aus dem arabischen Raum: Iran, Pakistan, sogar aus Südafrika. Die komplette Internationale. 

Eines Tages kamen ein paar belarussische Soldaten zu uns. Sie nahmen uns fest und brachten uns an einen anderen Ort. Wir dachten, sie würden uns foltern, misshandeln, aber sie durchsuchten uns nur und ließen uns bis zum Abend allein. Dann wurden wir abgeholt und irgendwo an die Grenze gefahren. Die Grenze war dort in Abschnitte unterteilt, jeder mit einer eigenen Nummer. Uns brachten sie zum Beispiel in den Sektor mit der Nummer 330. Sie sagten: „Von hier aus lauft ihr selbst – durch den Wald, zu eurem Punkt.“ 

Also gingen wir alleine durch den Wald, suchten nach dem richtigen Orientierungspunkt. Sie hatten uns ein Stück Draht mitgegeben, eine Metallstange, mit der man den Zaun aufhebeln konnte. Aber sie warnten uns: Wenn ihr wieder nach Belarus kommt, gibt es Schläge. Und wirklich – wenn jemand in der Gegenrichtung geschnappt wurde, wurde er erbarmungslos verprügelt.  

Wir versuchten mehrfach, die Grenze zu überqueren. Jedes Mal wurden wir sofort von polnischen Grenzbeamten aufgegriffen, die uns schlugen und wieder auf die andere Seite des Stacheldrahts fuhren. Die Übertrittsversuche nannten wir „Game“. Bei einem solchen „Game“ – schon in der Pufferzone – wurde einer unserer Freunde so brutal verprügelt, dass er nicht mehr sitzen konnte. Wir massierten ihn und wärmten ihn auf, so gut es ging. Er litt tagelang. Die Blutergüsse und blauen Flecke sahen aus, als hätten ihn die iranischen Geheimdienste gefoltert … 

Als wir wieder vom polnischen Grenzschutz gefasst wurden, nahmen sie uns alle unsere Sachen weg, unsere Jacken und Schuhe, packten uns in einen GAZ, fuhren uns an die Grenze und drängten uns wieder nach Belarus. Die ganze Nacht liefen wir barfuß durch den Wald – ohne Jacken, zitternd vor Kälte.

Ein anderes Mal wurden wir wegen eines Neulings mit iPhone aufgespürt. Wir haben ihm gesagt: „Du darfst auf keinen Fall dein iPhone einschalten, die kann man viel zu leicht orten.“ Aber er hat nicht auf uns gehört und es trotzdem angeschaltet. Die Polen waren sofort zur Stelle und umzingelten uns. Ich trug einen Poncho, weil es regnete. Sie befahlen uns: „Ausziehen!“ – dachten, ich wäre eine Frau. Ich zog ihn aus. Dann sprühten sie mir Tränengas ins Gesicht. Sie legten mir Handschellen an, nahmen mich zur Seite, gaben mir Wasser. Und nachts verfrachteten sie uns wieder hinter den Stacheldraht, nach Belarus. 

Schließlich schafften wir es doch über die Grenze. Es war frühmorgens, gegen halb vier. Vor uns hatte schon jemand den Zaun durchgeschnitten und eine Öffnung gemacht. Wir stiegen hindurch, aber wieder tauchte der Grenzschutz auf. Wir versteckten uns und warteten stundenlang – bis 9 Uhr, als es endlich still wurde. Abends kamen wir an die Stelle, wo der Taxifahrer warten sollte. Wir stiegen ein und fuhren los – und gegen 16 Uhr waren wir in Deutschland. 

Es war eine Grenzstadt, ein Teil gehörte zu Polen, der andere zu Deutschland. Wir stiegen in dem Teil aus, wo Deutschland begann. Der Fahrer sagte: „Das ist Frankfurt an der Oder.“ Dann kam die deutsche Polizei, nahm uns fest und brachte uns aufs Revier. So fing mein Leben in Deutschland an. 

Ich stellte einen Antrag auf Asyl, ein Jahr später bekam ich eine Absage. Ich war sehr enttäuscht: Nach allem, was ich durchgemacht hatte, war das echt frustrierend. Jetzt liegt mein Fall beim Anwalt, wir haben Berufung eingelegt. Nach zwei Jahren lebe ich immer noch im Flüchtlingsheim. Ich wurde nicht in einen anderen Ort überführt, die Bedingungen haben sich nicht gebessert. Ich stecke in einer Sackgasse. Ich weiß nicht, was ich tue, wenn sie beschließen, mich abzuschieben. 

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Gnose Belarus

Alexander Lukaschenko

Vor 30 Jahren trat Alexander Lukaschenko nach gewonnener Wahl sein Amt als Präsident der Republik Belarus an. Er schaffte demokratische Freiheiten ab und errichtete ein autokratisches System. Waleri Karbalewitsch über Lukaschenkos Machtwillen und Gründe für die Beständigkeit der Diktatur.  

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)