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Strafvollzug ist eine tragende Säule der Kreml-Diktatur. Zu seinen Aufgaben gehört Verbreitung von Angst und Willkür: Gegner des Regimes und Abweichler werden in Schauprozessen verurteilt, gegen jeden Beliebigen können Anklagen fabriziert werden, die Haftbedingungen für politische Häftlinge sind noch unmenschlicher als im Durchschnitt des Archipel FSIN.  

Zuletzt häuften sich Meldungen über neu verhängte Haftstrafen für politische Gefangene in Strafkolonien: Menschenrechtler wittern einen Befehl von oben, offenbar sollen die Häftlinge den Rest des Lebens in Haft bleiben. Die Praxis der Strafverlängerung gibt es in Russland schon lange, auch Alexej Nawalny hatte im Straflager immer weitere Haftstrafen verhängt bekommen, bevor er getötet wurde. Neu an der Praxis sind ihre Dimension und Systematik: Obwohl immer weniger Informationen aus dem System FSIN nach außen dringen, kommen vermehrt entsprechende Prozessberichte ans Licht. Die neuen Anklagen beziehen sich nicht auf angebliche Handlungen außerhalb des Gefängnisses, die Strafverfahren werden auf Grundlage angeblicher Äußerungen in der Zelle oder wegen eines konstruierten Konflikts mit dem Lagerpersonal fabriziert.  

The Insider hat sich das System der willkürlichen Strafverlängerung angeschaut und mit Menschenrechtlern gesprochen. Diese empfehlen den politischen Gefangenen, „am besten gar nicht mit Mithäftlingen zu reden“ und jeglichen Kontakt zu FSIN-Beamten zu vermeiden. Doch selbst dies garantiert ihnen keinen Schutz. 

Quelle The Insider

Nach russischem Recht kann jede Äußerung über das Vorgehen von Silowiki oder Militärangehörigen als „Rechtfertigung von Terrorismus“ ausgelegt werden, selbst wenn es nicht um eine direkte Kritik an diesen Handlungen geht. Darum ist dieser Artikel sehr bequem für den FSB. 

Anlass zu Anklagen nach diesem Artikel sind für Menschen in Freiheit oft Publikationen oder Kommentare im Internet. In Haft sind es Gespräche mit Mitinsassen. 

Eine totale Kontrolle solcher Gespräche ist unmöglich: In jeder Haftanstalt und jeder Strafkolonie sitzen mehrere hundert bis tausend oder auch mehr Inhaftierte, die praktisch rund um die Uhr in Kontakt stehen. Hier kann man nicht – wie im Internet – alle „aufwieglerischen Äußerungen“ mit Hilfe von technischen Mitteln überwachen. Diese Funktion erfülle in den Haftanstalten ein Denunziationssystem, erklärt im Gespräch mit The Insider die Vorsitzende der Stiftung Rus Sidjaschtschaja [dt. Einsitzendes Russland] Olga Romanowa. 

„Rechtfertigung von Terrorismus“ – Hinweise von Zellengenossen als Grundlage für Verfahren 

Gelegentlich werden Zellen verwanzt, häufiger aber setzt man Insassen ein, die mit der Lageradministration zusammenarbeiten und in der Folge als Zeugen der Anklage ins Feld geführt werden. So war es im Fall des Mathematikers und Anarchisten Asat Miftachow, für dessen Freilassung es weltweit Aktionen gab. Im September 2023 sollte Miftachow nach viereinhalb Jahren Haft wegen eines eingeschlagenen Fensters in einem Büro der Partei Einiges Russland freigelassen werden. Er hatte nie ein Schuldgeständnis abgelegt. Kaum draußen, wurde der Mathematiker jedoch gleich wieder festgenommen und noch am selben Tag wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“ angeklagt wegen einiger Worte, die er angeblich beim Fernsehen einem anderen Häftling gegenüber geäußert haben soll. 

Asat Miftachow © zona.media

In anderen Fällen werden Häftlinge, gegen die „ermittelt“ wird (d. h. gegen die neue Anklagen vorbereitet werden), mit Agenten der Verwaltung des Straflagers in eine verwanzte Zelle gesteckt. Die „Ermittler“ führen stunden- und tagelang provokative Gespräche, und die Aufzeichnungen werden anschließend zur Begutachtung geschickt, wo einzelne Aussagen für ein neues Strafverfahren herausgefiltert werden. So war es beispielsweise bei den Polithäftlingen Alexej Gorinow und Andrej Petrauskas. 

Alexej Gorinow. © Alexandra Astachowa, zona.media

Im Herbst 2023 wurde gegen den ehemaligen Stadtabgeordneten Alexej Gorinow, der im Juli 2022 zu sieben Jahren Kolonie verurteilt worden war, ein zweites Strafverfahren wegen Verbreitung von „Fakes“ über die russische Armee eingeleitet. Am 31. Dezember 2022 wurde er auf eine Gefängniskrankenstation mit Wiederholungstätern verlegt. Im Fernsehen liefen ununterbrochen Nachrichten, und die Zimmergenossen verwickelten Gorinow in Diskussionen. Das Ganze wurde mit versteckten Abhörgeräten aufgenommen. 

Die Abhörprotokolle und die Aussagen der Mitgefangenen bildeten die Grundlage für die Anklage gegen den Lokalpolitiker wegen „Rechtfertigung der Handlungen des ukrainischen Asow-Bataillons“ (das in Russland als terroristische Organisation gilt) sowie der „Rechtfertigung des Anschlags auf die Krym-Brücke“. Im Zuge des neuen Verfahrens wurde Gorinow zu weiteren drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt und vom allgemeinen in den strengen Vollzug überführt. Insgesamt betrug die Strafe fünf Jahre strengen Strafvollzug. 

Ähnlich aufgebaut war die Anklage gegen Andrej Petrauskas, der wegen eines Brandanschlags auf ein Musterungsamt in Krasnojarsk zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. In seinem Fall waren die „Ermittler“ die ukrainischen Staatsbürger Juri Domantschuk und Artem Krykunow. Ersterer saß 23 Jahre wegen versuchten Mordes an einem russischen Staatsbeamten in Cherson, Letzterer fünf Jahre wegen „Vorbereitung eines Terroranschlags“ im okkupierten Teil der Oblast Luhansk. 

Aus den Akten des Falls, die The Insider vorlagen, geht hervor, dass die Aufzeichnung der Gespräche zwischen Petrauskas, Domantschuk und Krykunow über mehrere Tage lief. Laut psycholinguistischem Gutachten habe Petrauskas die Tätigkeit der Legion Freiheit Russlands und die Bewegung Artpodgotowka gerechtfertigt, die in Russland beide als terroristische Organisationen gelistet sind. Der politische Gefangene war geständig; das Gericht verurteilte ihn zu zweieinhalb Jahren. 

Ein neues Verfahren einzuleiten, ist ein Kinderspiel 

Diese Fälle zeigen, dass es technisch sehr leicht ist, ein neues Verfahren gegen einen Gefangenen einzuleiten. Man braucht weder Beweise noch Zeugen, es genügen die Aussagen von ein paar Mitinsassen oder Gesprächsaufzeichnungen. Jede unachtsame Äußerung kann als Straftat ausgelegt werden. So wird der Paragraf „Rechtfertigung des Terrorismus” zu einem bequemen Instrument, um Druck auszuüben, Menschen in Haft zu halten und um einfach nur Macht zu demonstrieren. 

Ende März 2025 wurde die Journalistin und Politgefangene Marija Ponomarenko wegen „Unruhestiftung in der Kolonie“ zu einer erneuten Haftstrafe verurteilt. Laut Gericht habe sich Ponomarenko geweigert, vor die Disziplinarkommission zu treten, die ihr eine Strafe auferlegen sollte – vermutlich ging es um die Einweisung in eine Isolationszelle. Die Mitarbeiter der Strafkolonie holten die politische Gefangene daraufhin mit Gewalt vor die Kommission, woraufhin Ponomarenko sie angeblich angegriffen habe. Die Journalistin wies den Vorwurf von sich und erklärte, sie sei selbst angegriffen worden: Man habe ihr ein Kissen ins Gesicht gedrückt und ihren Kopf auf den Boden geschlagen. 

Die Praxis, den Paragrafen über „Unruhestiftung in der Kolonie“ gegen Politgefangene anzuwenden, ist nicht neu: Der erste Fall, der breitere Bekanntschaft erlangte, betraf 2016 den Aktivisten Sergej Mochnatkin, der wegen leichter Körperverletzung eines Polizeibeamten am 31. Dezember 2013 bei der Aktion Strategija-31 in der Oblast Archangelsk eine Haftstrafe verbüßte. Im März 2016 wurde der 62-Jährige von Mitarbeitern der Strafkolonie IK-4 zusammengeschlagen, weil er sich weigerte, zur Verhandlung zu fahren. Sie brachen ihm mehrere Wirbel. Angeklagt wurde jedoch er – wegen Gewalt gegen das Lagerpersonal. 

In diesem neuen Verfahren wurde Mochnatkin zu zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt. In der Strafkolonie erhielt er nicht die nötige medizinische Versorgung und konnte erst nach seiner Entlassung 2018 behandelt werden. Die Folgen der Wirbelsäulenverletzung waren bereits zu weit fortgeschritten, mittlerweile konnte er nicht mehr laufen. Sergej Mochnatkin starb 2020 an den Komplikationen einer Operation. 

Ein ähnliches Verfahren wurde 2024 gegen Sarema Mussajewa eröffnet, die Mutter der beiden tschetschenischen Aktivisten und Betreiber des oppositionellen Telegram-Kanals 1ADAT. Laut den Ermittlungen habe sie einen Mitarbeiter des Strafvollzugsdienstes (FSIN) geschlagen und ihm die Schulterklappen abgerissen, als sie nach einer Behandlung im Krankenhaus gemeinsam im Auto fuhren. Mussajewa weist jede Schuld von sich und dementiert die Version der Ermittler. 

Sarema Musaewa © Foto aus dem Familienarchiv

Anders als bei der „Rechtfertigung von Terrorismus“, die allein auf Worten und Interpretationen basiert, erfordert die „Unruhestiftung“ meist eine Art physischen Kontakt mit einem FSIN-Mitarbeiter – was den Falschanklagen allerdings nicht im Wege steht. Die Schwelle für die Einleitung eines Verfahrens ist minimal: Es reicht aus, einen Mitarbeiter zu berühren, die Befolgung einer demütigenden Aufforderung zu verweigern, oder einfach nur „unbequem“ für die Lagerverwaltung zu sein. Als Zeugen treten fast immer Mitarbeiter der betreffenden Kolonie auf, was die Anklage praktisch unanfechtbar macht. 

Unter diesen Bedingungen birgt jede Interaktion mit Mitarbeitern des FSIN ein potentielles Risiko. Besonders für jene Verurteilten, die bereits als „problematisch“ oder „politisch“ gelten. Der entsprechende Paragraf wird zu einem universellen Druckinstrument, das angewendet wird, um zu bestrafen, zu isolieren, die Haftstrafe zu verlängern und/oder jemanden zu demoralisieren. 

Initiative von unten oder Befehl von oben – wer über das Schicksal der Gefangenen entscheidet 

Wer braucht neue Verfahren gegen Personen, die bereits ihre Strafe verbüßen, und was ist der Zweck dieser Anklagen? Jurist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen sind sich einig: Die Zahl der erneuten Strafverfahren ist ein Kriterium, anhand dessen der Erfolg der operativen Dienste des FSB, des Innenministeriums, des Ermittlungskomitees und des FSIN bewertet wird. 

Im Strafvollzugssystem FSIN hätten die operativen Kräfte eine führende Rolle, und das sei der Grund für die vielen Strafverfahren gegen Häftlinge, meint Olga Romanowa: 

„Die wichtigste Abteilung im FSIN sind die operativen Einsatzkräfte. Russland ist praktisch das einzige Land der Welt, in dem der wichtigste Dienst nicht die sozialen, medizinischen oder Bildungsbehörden sind, sondern der operative Dienst. In jeder Institution ist der oberste Chef immer der Leiter des Sicherheits- und des operativen Einsatzdienstes. Was macht dieser Dienst in den Haftanstalten? Geständnisse und Selbstanklagen erzwingen und ‚Verbrechen aufdecken‘. Je mehr Strafen sie verlängern, je mehr Verstöße sie finden, desto besser für sie. Und wenn nichts los ist, dann denken sie sich eben was aus.“ 

Des weiteren, merkt Romanowa an, deute in den letzten Jahren alles auf ein Kommando „von oben“ zur Verlängerung der Haftstrafen für politische Gefangene hin: „Man hat den Eindruck, da muss es einen Befehl geben. Wir stellen einen Anstieg solcher Fälle fest: in den letzten eineinhalb Jahren, 2024 und Anfang 2025, schon mehr als hundert. Und das betrifft erstmal nur politische Paragrafen.“ 

Dennoch vermutet sie, dass die Einleitung neuer Strafverfahren gegen Häftlinge oft von den operativen Kräften des FSIN ausgehe.  

Jewgeni Smirnow, Anwalt bei Perwy Otdel (dt. Erste Abteilung) ist überzeugt, dass bei so prominenten Strafverfahren wie gegen Asat Miftachow oder Sarema Mussajewa die Initiative nicht vom FSIN ausgeht, sondern vom FSB oder den Extremismuszentren. „Ich glaube nicht, dass über solche Fälle die FSIN-Mitarbeiter vor Ort entscheiden“, sagt Smirnow gegenüber The Insider. „Normalerweise stehen so prominente Verfahren unter der Kontrolle ihrer Initiatoren. Das sind entweder hohe Tiere bei der Polizei oder Tschekisten. Die begleiten sie die ganze Zeit über, solange die Person ihre Strafe absitzt. Und sowas wäre ohne Zustimmung des FSB wahrscheinlich unmöglich.“ 

Smirnow ist der Meinung, wiederholte Anklagen gegen politische Häftlinge hätten den Zweck, diese unter Druck zu setzen und zu demonstrieren, was mit einem passiert, wenn man Widerstand zu leisten versucht. Ein neues Urteil bringe außerdem verschärfte Haftbedingungen, weil der Verurteilte somit als Wiederholungstäter gelte:       

„Ein strengerer Tagesablauf, weniger Briefe, weniger Päckchen und weniger Besuch. Eine legale Methode, die Strafe unmenschlicher zu machen.“ 

Illustration © Alissa Kananen / Verstka 

Privilegien, Drohungen, kompromittierendes Material: Wie Insassen zu „Zeugen“ werden  

Anklagen wegen „Unruhestiftung“ werden aufgrund der Aussagen von „geschädigten“ Mitarbeitern und Zeugen unter ihren Mitinsassen erhoben. Die Frage nach deren Motiven stellt sich hier nicht: Man ist solidarisch unter Kollegen, ordnet sich dem Vorgesetzten unter, der den Befehl gab und hat, wie im Strafvollzug üblich, generell ein negatives Bild von den Häftlingen. Bei Anklagen wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“ spielen hingegen die Aussagen von Mitinsassen eine Schlüsselrolle. Warum machen die bei Provokationen mit? Wie bringt die Gefängnisverwaltung sie zum Kooperieren?  

Ein Jurist, der mit solchen Fällen betraut ist, hat The Insider anonym erzählt, wie die FSIN-Mitarbeiter mit Privilegien im Alltag oder kompromittierendem Material manipulieren: „Der Eine darf anrufen, der Andere kriegt Tee, der Dritte Zigaretten, oder man darf fünf Minuten extra raus oder in irgendein allgemeines Krankenhaus. Oder wir erzählen nichts (Kompromittierendes – Anm. The Insider) über dich weiter. Ein typisches Bullenspiel, sie spinnen permanent Intrigen. Das betrifft nicht nur Politgefangene, das machen sie immer. Das gehört zu ihren Arbeitsmethoden.“ 

Anwalt Jewgeni Smirnow fügt hinzu, dass die Häftlinge der Lagerverwaltung zu hundert Prozent ausgeliefert sind und ihre Aussagen demnach erzwungen sein können: 

„Sie sind komplett abhängig. Die Verwaltung hat jede Macht über sie und kann sie mit allem Möglichen bedrohen, von kleinen Gemeinheiten im Gefängnisalltag bis hin zu Folter. 

Denken wir nur an Alexej Nawalny in seiner ersten Kolonie. Sie haben es praktisch geschafft, alle Häftlinge fertigzumachen, die mit ihm Kontakt hatten. Es war verboten, mit ihm zu kommunizieren, ihm zu helfen oder sonst wie zu interagieren. Das betraf nicht nur einen, auch nicht zwei oder zehn Häftlinge. 

Ein paar Leute zu finden, die bereit sind, jemanden in ein Gespräch zu verwickeln und heimlich zu filmen – das ist in der Strafkolonie nicht schwer.“ 

Zum Agenten werde oft, wer ohnehin bereits mit der Verwaltung kooperiere oder sexualisierter Gewalt oder deren Androhung ausgesetzt sei, sagt Olga Romanowa: 

„So genannte ‚Wollige ‘ kooperieren für kleine Vorteile: damit sie von Prügeln verschont bleiben oder einen Dienst übernehmen dürfen, für eine Machtposition als Stubenältester, für mehr Besuche, eine Chance auf Bewährung. Obwohl das mit der Bewährung oft leere Versprechen sind. Aber schon allein die Aussicht darauf, nicht geschlagen zu werden, ist ein starker Anreiz. Außerdem werden sie beauftragt, andere zu schlagen. Und wer schlägt, wird nicht geschlagen. Ein weiteres wirksames Anwerbungsmittel ist sexualisierte Gewalt: die Androhung einer Vergewaltigung, die auf Video aufgezeichnet und veröffentlicht oder an die Familie verschickt werden soll, wenn man nicht mitmacht. Sowas zieht vor allem bei Männern aus dem Kaukasus.“  

Wie man sich als Häftling schützt. Tipps von Juristen  

Wie wir sehen, ist es ein Kinderspiel, gegen einen Häftling eine neue Anklage zu erheben: Die Verwaltung findet unter den Verurteilten mühelos „Zeugen“, die eine „Rechtfertigung von Terrorismus“ bestätigen, ihren Mithäftling provozieren oder Gewalt anwenden, um ihn dann eines Angriffs zu beschuldigen. Aber kann man sich trotzdem irgendwie absichern davor, gleich die nächste Haftstrafe aufgebrummt zu bekommen, während man noch einsitzt?      

„Als Politgefangener praktisch nicht“, meint Olga Romanowa. „Wenn wir uns zum Beispiel Gorinow ansehen – der gehört zu den stillsten Menschen überhaupt. Den haben sie 16 Stunden lang gefilmt, um irgendwann doch noch fünf oder acht Wörter aus ihm rauszukriegen. Das zog sich über Wochen, bis sie was in der Hand hatten, für das sie ihm die Haft verlängern konnten. Und wenn man gar nichts sagt? Dann schreiben sie eben: ‚Hat einen Wächter angegriffen.‘ Zeugen lassen sich immer finden.“ 

Jewgeni Smirnow empfiehlt, sich die Zellengenossen genau anzusehen und „seine Zunge zu hüten“:  

„Konkrete Regeln, die garantiert schützen, gibt es nicht. Man muss da seine Antennen ausfahren, ein Gespür entwickeln, welche Themen gefährlich werden können, und Zellengenossen, die über solche Themen sprechen, mit Vorsicht begegnen. Das ist wie mit denen, die sie dir in die Zelle setzen, die sich einschmeicheln und einen über sein Strafverfahren ausfragen (um die Informationen dem Ermittler weiterzugeben – Anm. The Insider). Hier ist es genauso – die Leute bauen Vertrauen auf und fangen dann über Sachen zu reden an, die man in Russland nicht diskutieren darf: den Krieg, die Mobilmachung, die Politik der Regierung, irgendwelche Ereignisse, die die Behörden als Terroranschläge einstufen. Lauter gefährliche Themen, die für die Menschen ein großes Risiko bergen. Deswegen muss man vorsichtig sein und immer denken, bevor man redet.“ 

Der anonyme Jurist, der Häftlinge berät, hat noch strengere Empfehlungen zum richtigen Verhalten in Haft:

„Man muss den Leuten schon vor der U-Haft klarmachen, dass sie mit niemandem über nichts reden dürfen, außer vielleicht über das Wetter und das grüne Gras draußen. Aber am besten spricht man gar nicht. Mir hat ein Mandant erzählt, dass manche drei Tage lang schweigen, sich hin und wieder in einem Winkel mit Vertrauten flüsternd austauschen und dann wieder mit keinem sprechen. So ist es richtig, so lässt sich eine neue Anklage vermeiden.“ 

Was die Verfahren wegen „Unruhestiftung“ betrifft, meint der Jurist, hätten die oft, wenn auch nicht immer, einen teilweise realen Straftatbestand. Er betont, dass man auf eine gute Beziehung zur Verwaltung achten und sich nicht provozieren lassen sollte, auch wenn das Gefängnispersonal es ständig versucht.     

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Das russische Strafvollzugssystem

Alexej Nawalny trat 2021 in den Hungerstreik, um gegen ausbleibende medizinische Hilfe und Schlafentzug im Gefängnis zu protestieren. Alexander Dubowy gibt einen Einblick in das russische Strafvollzugssystem – und die Behörde dahinter, den Föderalen Strafvollzugsdienst FSIN.

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Extremismuszentren

Die Abteilungen zur Bekämpfung des Extremismus sind eigenständige Polizeieinheiten in allen Regionen Russlands. Sie arbeiten mit einem sehr großzügig interpretierten Extremismusbegriff. Neben Rechtsradikalen überwachen sie auch außerparlamentarische Oppositionelle und Demonstrierende jeglicher Couleur. Dafür besitzen sie weitreichende Befugnisse. Die Mitarbeiter sind an Verhaftungen beteiligt und wenden Medienberichten zufolge brutale Verhörmethoden an.

Die so genannten Extremismuszentren in den russischen Regionen werden von einem Hauptsitz am Innenministerium in Moskau aus koordiniert. Sie wurden im Jahr 2008 auf Grundlage der regionalen Verwaltungen zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens und des Terrorismus (RUBOP, seit 2001 UBOP) geschaffen. Letztere wurden in der spätsowjetischen Zeit und den frühen 1990ern etabliert, um der wachsenden Kriminalität Herr zu werden, galten aber selbst als besonders korruptionsanfällig und waren auch bei anderen Mitarbeitern des Gewaltapparats oft unbeliebt.

Diese Umstrukturierung markierte zugleich auch einen Prioritätenwechsel staatlicherseits: Unter Putin waren kriminelle Banden zu großen Teilen zerschlagen oder aber in den Staatsapparat integriert worden, sie wurden jetzt nicht mehr als Bedrohung der öffentlichen Ordnung angesehen. Der Kampf gegen Oppositionelle jeglicher Couleur hingegen hatte seit 2003 eine immer größere Bedeutung bekommen, ebenso der Wunsch, politisierte Jugendszenen, von Neonazis bis hin zu Anarchisten, unter Kontrolle zu bekommen.

Wie auch im Westeuropa der Nachkriegszeit wurde in Russland in den 2000ern der Extremismusbegriff sehr weit interpretiert. Er wurde mehr und mehr zu einem politischen Kontrollinstrument, das sowohl gegen gewaltbereite Radikale als auch gegen ein buntes Spektrum ideologischer Strömungen angewandt werden konnte. Im russischen Fall gehören dazu neben Neonazis und anderen Rechtsradikalen auch diverse religiöse Gruppen, die als „nichttraditionell“ eingestuft werden, aber auch Künstler, politische Aktivisten und Regimekritiker. Die Grundlage dafür bildet oft ein im Jahr 2002 verabschiedetes Gesetz, das „Anstiftung zu Hass oder Feindschaft sowie die Verletzung der Würde“ unter Strafe stellt und in der Praxis sehr großzügig interpretiert wird.1

Die Extremismuszentren haben sich hierfür als ein durchaus schlagkräftiges Mittel erwiesen. Sie trugen unter anderem dazu bei, dass seit 2008 die vormals recht große und verzweigte Nazi-Skinhead-Szene durch Verhaftungs- und Verbotswellen dezimiert wurde. Heute agieren rechtsradikale Gruppierungen praktisch nur noch unter staatlicher Aufsicht. Auch andere Gruppen werden von E-Zentren überwacht: Deren Mitarbeiter sammeln Informationen zu Regimegegnern und Protestierenden jeder Art, darunter Liberale, Antifaschisten oder Friedensaktivisten. Sie haben Zugang zu Datenbanken anderer Behörden, auch auf die persönlichen Daten aller Steuerzahler. Neben Polizisten, Sondereinsatzkräften und Geheimdienstmitarbeitern sind die Vertreter der E-Zentren regelmäßig – meist in Zivil – auf Demonstrationen und anderen Protestaktionen präsent und oft an Verhaftungen beteiligt. Aus mehreren Städten gibt es Berichte über brutale Verhörmethoden einschließlich solcher, die in den Bereich der Folter fallen.2 Zudem gibt es Hinweise darauf, dass von den E-Zentren extremistische Aktionen gezielt erfunden werden, um – durch deren „Bekämpfung“ – die eigene Statistik aufzubessern.3


1.Daten zu dieser Praxis sammelt das Moskauer SOVA-Zentrum
2.siehe z. B. lenta.ru: Ėkstremisty iz Nižnego
3.siehe z. B. lenta.ru: Sotrudnik Centra „Ė“ zastavil bomža raskleivatʼėkstremistskie listovki
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Ermittlungskomitee

Das Ermittlungskomitee (Sledstwenny komitet/SK) ist eine russische Strafverfolgungsbehörde. Sie gilt als politisch überaus einflussreich und wird häufig mit dem US-amerikanischen FBI verglichen.

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Ildar Dadin hatte mehrfach friedlich in Moskau demonstriert und war dafür vor zwei Jahren zu Gefängnis verurteilt worden. Nun hat der Oberste Gerichtshof die Strafe aufgehoben. Dadins Form des Protests war das Piket, ein kleinerer, stationärer Ausdruck des Nichteinverstandenseins. Oft wird er von Einzelnen veranstaltet und war lange Zeit ohne Anmeldung möglich  bis die Bedingungen für diese Protestform mehrmals verschärft wurden.

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Am 6. Mai 2012 wurden beim Marsch der Millionen nach Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Polizei etwa 650 Menschen verhaftet. Mischa Gabowitsch über den Bolotnaja-Prozess und die vorangegangenen Proteste 2011/12.

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Marietta Tschudakowa (1937–2021) war Professorin für Literaturwissenschaften und in Russland darüberhinaus auch als Historikerin und Publizistin bekannt. Sie war in der politischen Opposition aktiv, in der sie zu den liberalen Kräften gezählt wurde.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)