Mit einer handstreichartigen Operation hat das aserbaidschanische Militär am 19. September 2023 die Regierung der selbsternannten Republik Arzach in Bergkarabach zur Kapitulation gezwungen. Der Quasi-Staat hört zum Jahresende auf zu existieren. Fast alle Armenier sind aus der Enklave geflohen. Die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft blieben gleichwohl verhalten. Welche Rolle spielen Russland, die Türkei und der Iran bei dem Konflikt, und wie groß ist die Gefahr für Armenien?
Sieben Fragen an die Politikwissenschaftlerin Cindy Wittke, die sich am Leibnitz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung mit eingefrorenen Konflikten in der Region beschäftigt.
1. Am 19. September, als Aserbaidschan die Enklave eroberte, waren Sie zu einem Forschungsaufenthalt in Jerewan. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
Die Stimmung war bereits angespannt, als ich Anfang September nach Armenien eingereist bin. Ich führe für meine Forschung unter anderem Interviews mit lokalen Expert*innen und auch mit Vertreter*innen von internationalen Organisationen in der Region. Meine Gesprächspartner*innen hatten für den September mit einer erneuten Eskalation des Konfliktes um Bergkarabach gerechnet. Schon der letzte Krieg um die zumeist von Armenier*innen bewohnte Region im Jahr 2020 hatte im September begonnen und wurde im November durch das von Russland vermittelte Trilaterale Statement zunächst beendet. Aserbaidschan sah sich selbst als Sieger des sogenannten 44-Tage Kriegs. Ein weiterer Ausbruch des Konfliktes war jedoch absehbar, da Aserbaidschan noch immer keine effektive politische und militärische Herrschaft über die Region Bergkarabach hatte. Im September 2022 gab es aserbaidschanische Angriffe auf das armenische Kern-Territorium an der Kontaktlinie und seit Dezember 2022 wurde der Latschin-Korridor, der Zugang von Armenien nach Bergkarabach, trotz der Anwesenheit sogenannter Friedenstruppen aus Russland durch Aserbaidschan blockiert. Die Lage war also seit 2020 nie vollkommen befriedet, sondern hatte stets Eskalationspotential.
Dass der Konflikt immer im September eskaliert, hat unter anderem mit dem Klima zu tun: In den Bergen sind die Sommer sehr heiß und die Winter sehr kalt. Der Übergang zwischen den Jahreszeiten ist kurz. Die Situation, die man von September bis November militärisch schafft, wird sehr wahrscheinlich den ganzen Winter und darüber hinaus politisch eingefroren. Dazu kommt, dass der Winter den Armenier*innen in Bergkarabach und auch in Armenien jedes Mal ihre Verletzlichkeit vor Augen führt. Die Bevölkerung von Bergkarabach litt im vergangenen Winter unter Strom- und Gasmangel aufgrund der Blockade und auch Armenien selbst ist arm an Ressourcen und abhängig; die Energie-Infrastruktur ist weitgehend in russischer Hand.
Eine weitere Rolle unter den Eskalationsfaktoren wird gespielt haben, dass sich in der Woche um den 19. September die internationale Staatengemeinschaft zur jährlichen Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York getroffen hat. Schon im Vorfeld gab es eine Sondersitzung des Sicherheitsrates zur Situation in Bergkarabach, auf der die Frage behandelt wurde, ob es sich bei der Blockade von Bergkarabach durch Aserbaidschan um einen Genozid durch Aushungern handelt, wie es der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Moreno Ocampo, in einem öffentlichen Statement schrieb. Letztlich ging es Aserbaidschan meiner Ansicht nach darum, mit militärischen Mitteln Fakten zu schaffen und vor neuen international vermittelten Verhandlungen, sei es in Moskau, Washington oder Brüssel, faktisch das ganze Gebiet von Bergkarabach unter seine politische und militärische Kontrolle zu bringen.
2. Tatsächlich gab es aus New York kaum Reaktionen. Der Sicherheitsrat hat nicht einmal ein Statement veröffentlicht. Liegt der Karabach-Konflikt zu sehr im Schatten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine?
Die gleiche Frage habe ich meinen Gesprächspartner*innen in Jerewan auch gestellt. Einige waren der Ansicht, der 44-Tage-Krieg Aserbaidschans gegen Armenien 2020 sei der eigentliche Auftakt für die Zeitenwende gewesen. Damals habe Russland gesehen, dass die internationale Staatengemeinschaft weder mit Sanktionen und schon gar nicht militärisch einschreitet, wenn ein Land entscheidet, in einem ungelösten Territorialkonflikt, oder sogenannten eingefrorenen Konflikt, mit militärischen Mitteln abseits von Verhandlungen Fakten zu schaffen. Daraus schloss man, dass sich die Welt – insbesondere der sogenannte Westen – auch im Hinblick auf die Ukraine weitgehend auf Appelle beschränken und nicht militärisch intervenieren würde. Aktuell steht meiner Ansicht nach dieser Konflikt und sein Eskalationspotential über die humanitäre Katastrophe in Bergkarabach hinaus im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die überregionalen Verflechtungen werden übersehen.
3. In Aserbaidschan werden seit einiger Zeit Stimmen laut, die behaupten, es gäbe gar kein Armenien und keine Armenier. Sie bezeichnen Armenien als „West-Aserbaidschan“. Das erinnert an die russische Propaganda, die das Existenzrecht der Ukraine infrage stellt. Muss man fürchten, dass Aserbaidschan seine Angriffe auf armenisches Territorium ausweitet?
Ich denke, dass man hier tatsächlich in gewisser Hinsicht dem Moskauer Vorbild folgt: Rhetorisch und diskursiv werden Bilder und Narrative geschaffen, denen dann militärische Operationen folgen – interessanterweise wurde das Vorgehen gegen Bergkarabach als militärische Anti-Terror-Operation bezeichnet. 2020 konnte Präsident Ilham Alijew argumentieren, dass Aserbaidschan lediglich seine territoriale Integrität in den international anerkannten Grenzen herstellen wolle und Bergkarabach von Armenien okkupiert sei. Das war nun in 2023 schon anders, und selbst wenn Bergkarabach de jure aserbaidschanisches Territorium ist und die Verfassung des Landes Aserbaidschan zum Beispiel keinen Autonomiestatus für ethnische Minderheiten vorsieht, heißt das nicht, dass Aserbaidschan mit den auf diesem Gebiet lebenden Menschen – also den Armenier*innen – tun und lassen kann, was es will. Trotzdem ist auch dieser weitere „Test“ aus aserbaidschanischer Sicht erfolgreich verlaufen; innerhalb von 24 Stunden hat Bergkarabach kapituliert und die de facto Regierung hat die Auflösung der selbsternannten, nicht anerkannten Republik Arzach für 2024 verkündet.
International gab es im Vergleich zum Krieg gegen die Ukraine nur leisen oder mahnenden Protest im Hinblick auf die humanitäre Lage der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach, die nach heutigem Stand weitgehend nach Armenien geflohen ist. Die dringende Frage ist jetzt aber, ob Aserbaidschan noch weiter geht, und mit militärischer Gewalt etwa einen Korridor in die Exklave Nachitschewan herstellt, die von Armenien und Iran umschlossen ist und nur eine sehr schmale Grenze mit der Türkei hat. Wenn man Alijew zuhört – und ich glaube, das sollte man genauso tun, wie man Wladimir Putin vor 2022 hätte aufmerksam zuhören sollen – dann gibt es gute Gründe hier tatsächlich um die territoriale Integrität des armenischen Staates besorgt zu sein.
Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck / Foto © Cindy Wittke
4. Wer könnte Alijew stoppen?
Die Akteure, die das tun könnten, sind zuvorderst unmittelbar in der Region zu suchen: die Türkei, Russland und der Iran. Ich fand es bemerkenswert, dass der russische Verteidigungsminister, einen Tag nachdem Aserbaidschan seine militärische Operation gegen Bergkarabach begonnen hatte, in Teheran war. Ich denke, dass man hier eventuell versichert hat, dass iranische Interessen hinsichtlich des Transits von Gütern durch Armenien oder Aserbaidschan gewahrt werden, und dass es keinerlei Ambitionen gibt, Aserbaidschans Territorium auch auf iranisches Territorium auszudehnen. Man darf nicht vergessen, dass im Iran eine Minderheit von circa fünf Millionen Aserbaidschaner*innen lebt. Wenn Alijew seine Visionen eines größeren Aserbaidschans skizziert, wird man in Teheran natürlich hellhörig. Die Balance der Kräfte ließe durchaus zu, dass unterschiedliche Akteure sich dafür einsetzen, dass Aserbaidschan nicht noch den nächsten Schritt tut.
5. Das hört sich nicht so an, als könnte das die Armenier wirklich beruhigen.
Armenien ist in einer der misslichsten politischen Lagen, die man sich denken kann. Die armenische Innen- und Außenpolitik hat das Schicksal des Landes immer eng mit dem der Karabach-Armenier*innen verbunden. Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck.
In dieser Situation muss das Land nun noch Hunderttausend Flüchtlinge aufnehmen. Armenien hat Erfahrungen mit dem Zuzug von Flüchtlingen. Es hat eine große Zahl von Christen aufgenommen, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind. Vor einem Jahr sind dann viele Russen vor der Mobilmachung und im Zuge der Sanktionen gegen Russland aus ihrer Heimat nach Jerewan gekommen. Armenien hat von den Sanktionen gegen Russland indirekt profitiert. Die IT-Branche boomt, die Wirtschaft wächst, und die Währung ist stark. Aber das ist kein nachhaltiges Wachstum, von dem die Gesamtbevölkerung und das Land nachhaltig profitieren. Die Mehrzahl der Menschen, die jetzt aus Stepanakert und anderen Orten aus Bergkarabach ankommen, haben oftmals alles zurückgelassen und blicken auf Krieg und Blockade zurück. Sie brauchen Unterkunft, sie müssen versorgt werden und irgendwann werden sie auch Wohnungen brauchen. Bei den Protesten, die ich in Jerewan mitbekommen habe, haben die Demonstrant*innen der Regierung vorgeworfen, das Land nicht ausreichend auf diese Situation vorbereitet zu haben.
Sicherheitskräfte vor dem Regierungsgebäude in Jerewan, auf deren Schildern die Arzach-Flagge zu sehen ist, werden von aufgebrachten Demonstrierenden mit Bildern aus Karabach konfrontiert und als „Türken“ beschimpft / Foto © Cindy Wittke
6. Wird die Regierung Paschinjan das überstehen?
Ich war schon früher in Krisensituationen in Armenien, aber ich habe noch nie erlebt, dass sich Armenierinnen und Armenier auf der Straße angesichts ihrer unterschiedlichen Positionen anschreien. Diese emotionale Aufgeladenheit und Aggressivität kannte ich nicht; mir wurde berichtet, dass es 2020 nach dem Abschluss des Trilateralen Statements in Moskau – aus dem verlorenen Krieg – bereits ähnlich war. Menschen, die eine besonders starke Position für Arzach einnahmen, beschimpften gemäßigtere Armenier*innen sowie Polizei und Sicherheitskräfte als „Türken“. Das Land ist wirklich in einer Identitätskrise. Wenn das jetzt in einen politischen Selbstzerstörungsmodus umschlägt, käme das Moskau zupass, das gern wieder eine pro-russische Führung unter seiner Kontrolle installieren würde. Andererseits muss man sagen, dass die Regierung die Situation derzeit noch relativ gut gemanagt hat. Es wurden keine Wasserwerfer oder gepanzerten Fahrzeuge gegen Demonstrant*innen eingesetzt, die den Sitz der Regierung auf dem Platz der Republik stürmen wollten. Die Plätze der Hauptstadt wurden nicht gesperrt, die Regierungsgebäude wurden mit Menschenketten geschützt und die nach 2018 neu aufgestellte Polizei hat auf Dialog gesetzt, auch wenn es zu gewaltsamen Zusammenstößen und Verhaftungen kam. Die Situation ist existenziell für Armenien. Dennoch möchte ich die Hoffnung auf die Resilienz der Armenier*innen und des Demokratieprozesses nicht aufgeben.
7. Was war eigentlich Ihre Forschungsfrage, mit der Sie nach Jerewan gereist sind?
Seit mehreren Jahren untersuche ich die oft widersprüchlichen Völkerrechtspolitiken von Staaten im sogenannten postsowjetischen Raum aus einer vergleichenden Perspektive. Meine Fallstudien sind Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, die Ukraine und Russland. Das Projekt basiert auf der Beobachtung, dass die Staaten, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion (wieder) hervorgegangen sind, seit 1991 vor der enormen Herausforderung stehen, im Rahmen ihrer Staatsbildungs- und umfassenden Transformationsprozesse ihre eigene Völkerrechtspolitik zu formulieren und umzusetzen. Konflikte um Territorien wie um Bergkarabach haben diese Prozesse entscheidend geprägt. Für meine Forschung führe ich unter anderem Experten-Interviews mit Völkerrechtler*innen in der Region durch; so auch in Armenien. Die jüngere Generation – häufig im Westen ausgebildet – hat sich sehr dafür eingesetzt, Armeniens Position und die der in Bergkarabach lebenden Armenier*innen mithilfe des Völkerrechts zu stärken und Aserbaidschans politischen und vor allem militärischen Handlungsspielraum einzuschränken. Aber wenn es um mögliche politische Verhandlungslösungen zwischen Armenien und Aserbaidschan geht, herrscht auch unter diesen Expert*innen keine Einigkeit. Das unterstreicht einmal mehr die Zerrissenheit des Landes in dieser konflikthaften Gemengelage. Im Moment schauen wir vor allem auf die Vertreibung der Karabach-Armenier*innen und auf die humanitäre Katastrophe. Aber es geht noch um mehr. Es geht wirklich auch um den demokratischen Weg und letztlich um die bedrohte Staatlichkeit Armeniens.
Expertin: Cindy Wittke
Interview: Julian Hans
Veröffentlicht am 04.10.2023