Es sollte ein Festtag werden. Stattdessen erschütterte ein schwerer Terroranschlag das südrussische Beslan am ersten Schultag nach den großen Ferien – in Russland traditionell der feierlich begangene 1. September. An diesem Tag im Jahr 2004 überfielen Terroristen die Schule Nr. 1 in der Kleinstadt in Nordossetien und nahmen mehr als Tausend Geiseln. Kinder, Eltern und Lehrer. Das Terrorkommando wollte den Abzug russischer Truppen aus der benachbarten russischen Teilrepublik Tschetschenien erzwingen – und versetzte dem Land mit einem drei Tage andauernden Geiseldrama einen Schock.
Als Drahtzieher übernahm der tschetschenische Rebellenführer Schamil Bassajew die Verantwortung. Nach dem Zerfall der Sowjetunion tobte in Tschetschenien bereits der zweite bewaffnete Konflikt um die Unabhängigkeit der Nordkaukasusrepublik von Russland. Moskau versuchte, eine Abspaltung zu verhindern. Das Geiseldrama trug diesen Krieg auf grausame Art und Weise ins alltägliche Leben. Es gab mehr als 300 Tote, ein Großteil waren Kinder.
Bis heute gibt es dabei viele offene Fragen auch zum Einsatz der Sicherheitskräfte, zahlreiche betroffene Angehörige und auch Menschenrechtsorganisationen werfen offiziellen Stellen eine gezielte Politik der Desinformation und des Verschweigens vor. Am 12. Jahrestag 2016 protestierten fünf betroffene Mütter mit schweren Vorwürfen an die Adresse Wladimir Putins – und wurden dafür verhaftet. Noch in der Nacht verurteilte sie ein Gericht teils zu Geldstrafen, teils zur Ableistung von Sozialstunden.
Der renommierte Journalist Andrej Kolesnikow hat Beslan während der Tragödie besucht und seine Eindrücke in einer Reportage beschrieben. Sein eindringlicher Text, der am 6. September 2004 in der Tageszeitung Kommersant erschien, soll hier als Zeitdokument stehen.
Stilles Gedenken: Blumen und geöffnete Wasserflaschen / Foto © ossetians.com
Tag der offenen Tür
Die Kämpfe in der Schule Nr. 1 setzten sich am Freitag bis in die Nacht hinein fort. Die Schule brannte. Löscharbeiten waren bereits im Gange. Die Feuerwehrautos fuhren in den Hof der benachbarten Schule Nr. 6, füllten ihre Wassertanks auf und kehrten wieder zurück. Bei einem der Autos stand an einen Baum gelehnt ein Ossete um die 30, in schmutziger Kleidung mit Brandlöchern.
„Waren Sie drin?“, fragte ich.
Er nickte: „Wir sind mit der ALPHA da rein, als die Explosionen losgingen.“
Die Schule war im Sommer renoviert worden, und eine Wasserleitung, die in den Turnsaal führte, war noch nicht eingemauert. Rund um sie herum war nach wie vor eine relativ große Bresche in der Mauer. Dort hatten sich die Feuerwehrmänner mit Brecheisen und Vorschlaghämmern zu schaffen gemacht.
„Hat es lang gedauert, bis die Mauer durchbrochen war?“
„Nein, das ging schnell. Das Durchkriechen dauerte. Da war aber noch nicht der Turnsaal, in dem die Kinder festgehalten wurden, sondern so ein gewerblicher Fitnessraum für Krafttraining, glaube ich. In dem Turnsaal, wo sich die Leute befanden, war schon eine Bombe explodiert, und alles brannte. Wir sind rein, und da lagen haufenweise Frauen und Männer und Kinder. Die Kinder alle mit nackten Oberkörpern. Es war kaum möglich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber wir mussten da durch. Also gingen wir.“
Er sagte, seine eigene Stimme höre sich seltsam für ihn an.
„Sage das gerade alles ich?“, fragte er skeptisch.
„Natürlich.“
„Komisch. Anscheinend sind das meine Worte, und mir ist das passiert, aber ich höre mich selbst wie von außen, aus der Ferne. Gibt es so etwas?“
„Natürlich“, beruhigte ich ihn.
Er beruhigte sich wirklich.
„Wir haben ein paar Leute aus dem Turnsaal rausgezerrt. Vier habe ich geschleppt. Auf der anderen Seite hat die ALPHA welche rausgetragen. Die Leute lagen wie so Bündel da ... Viele hatte die Druckwelle in die Ecken gedrückt. Oder sie sind selbst dorthin geflüchtet. Nur wenige lebten. Wir mussten herausfinden, wer, aber wie? Ich habe mich zweimal geirrt. Als ich gerade ein Mädchen rausgebracht hatte, krachte die zweite Explosion. Davor hatten uns zwei Mädchen aus dem Fenster zugerufen, mit einem Tuch gewunken, die eine etwas älter, die andere vielleicht sieben. Bei ihnen saßen zwei Duchi, die mit Unterlaufgranatwerfern die ALPHA unterstützten. Ich winkte den Mädchen zu und sagte: ‚Ich bin gleich da!‘, und sie haben gelacht, so glücklich waren sie! Dann die Detonation, und die Mädchen hab ich nie wieder gesehen. Ich werde sie in der Schule suchen, sie müssen doch noch drinnen sein.“
Der Kommandant der Feuerwehr gab Anweisungen:
„Los, Wassertanks auffüllen – und zur Schule! Löschen im ersten Stock! Marsch, alle! Die Rebellen sind tot! Dort ist niemand mehr! Was ist, will da jemand nicht? Los jetzt, alle! Was stehen wir hier noch rum?!“
„Da sitzen noch drei im ersten Stock“, brummte der Ossete, der sich mir mittlerweile als Ansor vorgestellt hatte. „Die lassen noch nicht locker. Da war so ein eiserner MG-Schütze, der hat alle verblüfft. Den haben sie mit Raketenwaffen beschossen und sonst mit allem möglichen, und immer noch war er am Leben. Saß in diesem Zwischenraum zwischen Dach und erstem Stock ... also, ja, auf dem Dachboden ... Er hat, glaube ich, sogar Männer von der ALPHA runtergeschossen. Ein richtiger Profi, hat sich perfekt verteidigt. Und vom Nachbarhaus aus hat uns ein MP-Schütze nicht runtergelassen. Also die haben uns echt Probleme gemacht. Jetzt liegen sie unten. Ich hab sieben gesehen. Darunter einen Neger und einen Araber ...“
Da donnerten ein paar heftige Explosionen.
„Ach, du Scheiße!“, rief Ansor und horchte auf. „Die schießen aus Panzern auf sie. Offenbar gibt es größere Probleme. Aber unsere Leute müssen ja rein, den Brand löschen. Einen der Rebellen haben sie halbtot rausgezerrt, er war verletzt, sie schleppten ihn auf die Dienststelle, ein Wunder, dass die Leute draußen ihn nicht zerfleischt haben, aber die haben sie abgewehrt. Ein anderer, heißt es, hat nicht überlebt. Ich finde auch, dass man die Leute abwimmeln muss, der soll ja der Gesellschaft noch wenigstens irgendeinen Nutzen bringen.“
„Alle einsteigen!“, hörte ich das Feuerwehrkommando.
„Dann muss ich wohl“, sagte Ansor. „Mal sehen, wie und was.“
Ich ging zum Kulturhaus, dem Arbeitsort der Journalisten während dieser Tage. Es war halb drei in der Nacht. Explosionen gab es keine mehr. Nach einer Stunde kamen nach und nach die Feuerwehrautos zurück. Die Feuerwehrmänner berichteten, von Erdgeschoss und Turnsaal sei nichts mehr übrig, und den ersten Stock hätten sie ohne Zwischenfälle gelöscht: Die Rebellen seien tatsächlich alle weg.
Ich stoppte ein Auto (damals hielten sie auch auf das Handzeichen von Passanten an). Wir fuhren aus Beslan raus und waren schon Richtung Wladikawkas abgebogen, als uns eine lange Wagenkolonne entgegenkam. Lautlos drehten sich die Blaulichter, alle nur erdenklichen Scheinwerfer strahlten. Die Kolonne fuhr sehr langsam, ja, schwebte an uns vorüber. Sie bestand aus mindestens 15 Fahrzeugen. Bei der Einsatzzentrale hielt die Kolonne an. Rundherum wurde sofort abgesperrt. Wir mussten schon los. Wie ich später erfuhr, saß in einem der Autos der russische Präsident, der mit dem Flugzeug aus Moskau in Beslan gelandet war.
Totengedenken
Früh am Morgen sah ich zu, wie das Gebiet rund um die Schule abgesichert wurde. Die äußerste Absperrung verlief an der Wand des Kulturhauses entlang. Nicht einmal in den ersten Tagen der Geiselnahme und während der Erstürmung hatte der Zaun so weit entfernt von der Schule gestanden. Die Osseten wussten nicht, was los war. Sie wollten zur Schule hingehen. Dort waren ihre Kinder. In ganz Beslan gab es, glaube ich, keine einzige Familie, die nicht von dieser Tragödie betroffen war. Sie wollten ihre Kinder sehen. Mir war klar: Eben darum lassen sie sie nicht rein.
Keine einzige Familie, die nicht von dieser Tragödie betroffen war
„Wissen Sie, was da vor sich geht?“, fragte mich eine Frau mittleren Alters und wies mit der Hand Richtung Schule. „Dort geht der Terror weiter, sonst hätten sie keine Absperrung aufgestellt.“
Sie und ihre Nachbarin konnten ihre Kinder nicht finden, die sechsjährige Madina Buchajewa, den 13-jährigen Soso Bigonaschwili und noch weitere – insgesamt sechs.
„Wir haben überall gesucht, in der Leichenschau, in den Krankenhäusern, haben alles genau geprüft ...“, sagte die Frau müde.
„Ich habe geweint, dann kam ein Soldat raus und fragte, wen ich verloren habe, wie sie heißen, und ich sagte, vielleicht sind sie gar nicht tot. Und er ging weg.“
„Agunda ist tot, Asa auch“, zählte die Frau tonlos auf, „was haben die uns nur angetan?“
An einer anderen Stelle der Absperrung kam noch eine Frau auf mich zu:
„Wissen Sie, was da im Keller los ist? Dort sitzen wieder Rebellen mit Geiseln“, sagte sie leise, „Gespräche sind im Gange, noch ohne Ergebnis. Sie wollen nicht verhandeln, stellen keine Forderungen. Dort sind unsere Kinder! Wir suchen sie überall, dabei sitzen sie da unten! Gott im Himmel, wann ist das endlich vorbei!“
Ich versuchte sie zu beruhigen und sagte, dort seien keine Rebellen mehr, und Geiseln könne es auch keine mehr geben, die Absperrung sei nur deshalb da, weil alles vermint sei. Sie hörte mir begierig zu. Und ich ertappte mich dabei, wie ich ihr glaubte anstatt mir selbst.
Ich umrundete fast die gesamte Absperrung. An einer Stelle traf ich auf Männer, die völlig aufgebracht waren. Ansor Margijew vermisste seine zwölfjährige Nichte Elvira.
„Sie war mit ihrer Mutter im Turnsaal, als bei einer Explosion der Boden einbrach“, erzählte er. „Ihre Mutter blieb unversehrt, aber die Kleine wurde so eingeklemmt, dass man sie nicht rausziehen konnte. Zumindest gelang es der Mutter nicht. Dann stürzte die Decke ein, sie packte einen anderen dreijährigen Jungen, einen fremden Jungen, also nicht fremd, natürlich, wir kennen uns ja alle, und rannte. Sehen Sie, dort sitzt Elviras Vater auf der Bank, den zweiten Tag infolge spricht er mit niemandem, alt ist er geworden. Und die Kleine liegt dort. Ich weiß genau, wo, ich finde sie, aber sie lassen uns nicht rein!“
Die Kleine liegt dort. Ich weiß genau, wo, aber sie lassen uns nicht rein!
Ich hielt einen Burschen auf und fragte ihn, wie ich so nah wie möglich an die Schule herankomme. Er zeigte es mir. Eigentlich war es einfach. Ein Hof, ein Zaun, ein Trampelpfad ... Das nächste Hoftor führte direkt zum Haupteingang der Schule Nr. 1.
Ich hatte gute Sicht auf die Vorgänge im Hof. Auf Tragen schafften die Rettungskräfte schwarze Plastiksäcke aus dem Turnsaal hinaus und reihten sie auf dem Asphalt auf, dort, wo vor drei Tagen der Appell zum Schulbeginn hätte stattfinden sollen. Auf denselben Tragen wurden die Trümmer aus dem Turnsaal gebracht. Der Schutt kam nach links, die Säcke nach rechts. Es waren viele Einsatzkräfte, und sie waren schnell. Pro Minute trugen sie ungefähr fünf Leichen raus. Sie waren schon über eine Stunde am Werk. Machten nur ein paar Raucherpausen.
Am Eingang der Schule stand eine Kette aus ossetischen OMON-Milizen. Sie ließen niemanden hinein, außer die Ermittler der Staatsanwaltschaft und die Rettungskräfte.
Die Schmach des Staatsanwalts
Auf dem Platz vor dem Kulturhaus drängten sich Journalisten und Einwohner Beslans. Der Termin mit den Regierungsvertretern hätte schon vor einer Viertelstunde beginnen sollen.
„Was ist, seid ihr da, um von uns Fotos zu machen?“, riefen die Osseten den Journalisten zu, die tatsächlich waghalsig von oben, von der Freitreppe aus, fotografierten.
„Weg mit euren Kameras, oder wir schlagen sie kaputt, zum Teufel nochmal! Euretwegen sind die Rebellen durchgedreht! Weil ihr gemeldet habt, in der Schule seien 354 Leute!! Das waren doch mehr als tausend! Und dann hat’s geheißen, na gut, dann werden aus euch eben 354! Weg mit Euch!“
„Kommt denn keiner zu uns?“, sagte eine junge Ossetin leise. „Sind die noch bei Trost?“
In der Hand hielt sie ein Schulheft, darin ein großes Foto ihrer zehnjährigen Tochter.
Inzwischen war die Menge in Richtung Absperrung geschwappt. Eine Frau heulte auf, dann noch eine.
„Jetzt haben sie jemanden zertrampelt!“ stöhnte es entsetzt rund um mich auf.
Dicht an die Absperrung herangerückt, kam die Menge nicht vor und nicht zurück. Auf der Erde saß eine alte Ossetin, die Augen geschlossen, ihren Kopf umfasste sie mit den Händen. Sie stöhnte und wiegte sich hin und her. Ihr Gesicht war blass, ganz weiß, mit dicken Schweißtropfen.
„Drei ihrer Enkel sind in der Schule umgekommen“, sagten die Leute in der Menge. „Und einer ist verschwunden. Sie hat gewartet, dass man ihr sagt, wo er ist. Aber offenbar hat sie nicht mehr die Kraft, weiter zu warten.“
Zwei weitere Frauen heulten auf, man trug sie auf Händen aus dem Getümmel und setzte sie auf hölzerne Kisten.
Die Leute blieben, als hofften sie auf ein Wunder
Immer noch trat keiner von denen, auf die man wartete, aus dem Gebäude. Die Leute blieben, als hofften sie auf ein Wunder. In den vergangenen drei Tagen hatten sie sich daran gewöhnt, auf diesem Platz auf Wunder zu hoffen. Und das Wunder geschah. Am Mittag des zweiten Tages erschien vor dem Kulturhaus der Staatsanwalt von Nordossetien Alexander Bigulow.
„Derzeit wird der Ort des Geschehens inspiziert“, sagte er. „Die Ermittlungen werden fortgesetzt.“
„Verpiss dich!“, schrie jemand aus der Menge. „Da drin sind unsere Kinder!“
Er tat, als hätte er nichts gehört.
„Verpiss dich!“, schrie jemand aus der Menge. „Da drin sind unsere Kinder!“
„Das Betreten des Schulgeländes ist untersagt. Die Listen der Toten und Verletzten werden fortlaufend aktualisiert. Das ist alles, was in meinem Kompetenzbereich liegt und was ich euch sagen kann.“
Er stieg von der Freitreppe herunter.
„Dreckskerl!“, schrien sie von unten, wurden aber nicht handgreiflich.
„Meine Tochter ist verschwunden!“, rief eine Frau. „Wie soll ich sie finden? Wie sollen wir sie alle finden?!“
„Kommen Sie zu mir, um das zu besprechen“, antwortete er über die Schulter.
„Und deine Nummer, du Drecksack?!“, sagte sie stöhnend zu seinem Rücken.
Der Staatsanwalt löste sich aus der Menge, sah sich um und fragte bekümmert einen seiner Gehilfen: „Haben Sie Wasser? Aber kaltes.“
„Kaltes glaube ich nicht“, antwortete der mit gedämpfter Stimme.
„Schlecht“, der Staatsanwalt schüttelte den Kopf, „stand da wie ein Vollidiot.“
Informationen nach oben
Ich kehrte über den bewährten Weg zur Schule zurück. Dort war bereits schwere Technik im Einsatz. Es waren jetzt immer mehr Leute im Hof. Ich sah, wie sich ein paar Menschen in Zivil auf den Eingang zu bewegten, schloss mich ihnen an (sie achteten gar nicht auf mich) und gelangte mühelos durch das Tor.
Ein Bagger schaufelte den Schutt beiseite, den man aus dem Turnsaal getragen hatte. Im Turnsaal selbst war es relativ sauber. Der Saal kam mir sehr klein vor, erstaunlich klein. Ich konnte nicht fassen, wie hier drei Tage lang mehr als tausend Menschen gewesen sein sollten.
Viele der Säcke schienen viel zu groß und federleicht
Der Gestank war schlicht unerträglich. Die Rettungskräfte arbeiteten bedächtig, räumten Aula und Speisesaal aus. Sie meinten, dass auch dort Menschen sein könnten. Wieder fuhr ein Kühlwagen in den Hof, der mit den Leichen beladen wurde, die immer noch auf dem Asphalt lagen. Viele der schwarzen Säcke schienen viel zu groß und federleicht. Darin waren die Leichen der Kinder.
Etwa 40 Meter entfernt lagen hinter einem kleinen Nebengebäude, Richtung Eisenbahnschienen, die Leichen der Rebellen auf dem Asphalt. Dorthin führten Beamte der Staatsanwaltschaft zwei Männer. Einer war dünn und klein, in auffallend sauberen Jeans und T-Shirt; der andere war groß und trug einen schmutzigen und zerrissenen Trainingsanzug. Ihre Köpfe waren mit Unterhemden umwickelt, mit Schlitzen für die Augen. Polizisten hielten diese Männer am Arm.
Die Beamten der Staatsanwaltschaft begannen mit der Identifizierung. Die Beiden brummelten aufgeregt vor sich hin und deuteten dabei auf die Leichen. Sie benahmen sich irgendwie seltsam, flüsterten ihre Aussagen den Beamten ins Ohr, als fürchteten sie, dass noch jemand sie hören könnte.
„Überlasst sie uns!“, ertönte ein durchdringender Schrei aus der Menge, die auf dem Bahndamm hinter der Absperrung stand. Die Leute hatten mitbekommen, was da passierte. Der Ermittler sah auf die Gefangenen und schüttelte den Kopf; mit Bedauern, wie mir schien.
„Gebt sie uns!“, schrie wieder jemand.
Da rief der Ermittler laut: „Kann ich nicht!“
Man brachte die Gefangenen weg.
Etwa zehn Meter weiter saßen ein paar Leute im Gras.
224 plus 18, die aus dem Fenster geworfen wurden, die liegen extra, plus 79 gestern. Was macht das? 328? Und dann noch die vier Säcke mit Körperteilen
„Na, zählen wir mal“, sagte einer. „Wir müssen Informationen nach oben liefern. Ganz nach oben.“
„Na, und? Im Moment ist doch alles klar. 224 plus 18, die aus dem Fenster geworfen wurden, die liegen extra, plus 79 gestern. Was macht das? 328? Und dann noch die vier Säcke mit Körperteilen.“
„Nein, 321. Aber dazu noch die Leichen, die im Spital liegen. Und 28 von diesen Scheißkerlen.“
„Nein, von den Scheißkerlen 26. Aber die zählen nicht. Rausgeworfen wurden aber 21, nicht 18, glaub ich.“
„Wie viele wurden aus dem Fenster geschmissen, findet das schnell raus! 18? Und bei den Rebellen, zählt ihr da die Weiber mit?“
„Klar, die auch.“
„Ok, das wär’s. Ruft oben an!“
„Aber wir wissen doch nicht, wie viele in den Krankenhäusern in der Leichenschau liegen.“
„Das geht ja uns nichts an. Los, ruf an!“
Totenwasser
Am nächsten Tag fanden in Beslan die ersten Begräbnisse statt. Am Nachmittag ging ich durch die Stadt, die mir wie ein Friedhof vorkam: So gut wie aus jedem Haus hörte man Schluchzen.
In der Schule war es sehr still. Schon seit gestern war der Zugang gestattet. In der Mitte des Turnsaals standen auf Stühlen Kerzen und geöffnete Zwei-Liter-Plastikflaschen mit Mineralwasser, fünf Flaschen. Ein paar Plastikbecher waren ebenfalls mit Wasser gefüllt. Daneben lagen Blumen und ein Stofftier, ein gelber Plüschelefant mit erhobenem Rüssel. Überall waren Blumen: auf den Fensterbrettern, in den Klassenzimmern, auf den Korridoren. Auf den Fensterbrettern lagen außerdem unzählige Damenschuhe und Kindersandalen. Es herrschte einfach Totenstille. Ängstlich vermieden die Leute jegliches Geräusch.
Die Leute hielten ihre Regenschirme über die Kerzen
Der beginnende Regen wurde schnell zum Wolkenbruch, und ich dachte, die Kerzen im Turnsaal, der ja kein Dach mehr hatte, würden jetzt gleich erlöschen. Aber die Leute schützten sie bereits mit Regenschirmen, die sie über die Stühle hielten.
Der Fitnessraum nebenan, der gewerbliche, von dem Ansor erzählt hatte, war erst recht winzig. Auf dem Boden lagen Gewichte, Hanteln und kaputte Geräte herum. In der Wand war, wie Ansor gesagt hatte, ein relativ kleines Loch. Ein Mensch konnte sich gerade durchzwängen. Die Wand war dick, fünf Ziegel.
Daneben waren die Toiletten. Der Wasserhahn lief. Der Boden in der Dusche war schon komplett überschwemmt. Ich hätte den Hahn zudrehen können. Aber ich dachte, dass das jeder an meiner Stelle hätte tun können, wenn er gewollt hätte. Niemand wollte. Sie hatten den Wasserhahn aufgedreht und die Mineralwasserflaschen auf die Tische gestellt, beides aus dem gleichen Grund.