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„Das System wird von selbst zusammenbrechen“

Wladislaw Inosemzew gilt als herausragender Wirtschaftsexperte und politischer Denker. Bekannt ist der Wissenschaftler, der auch Mitglied der liberalen Partei Prawoje delo (dt. Die Rechte Sache) ist, vor allem für seine permanente Kritik an der Wirtschaftspolitik des Kreml.

Im Interview mit Jewgeni Senschin entfaltet er in prägnanten Thesen ein Panorama des aktuellen Russland.

Quelle Znak

Das russische System ist im Verfall begriffen: Russland ist nicht in der Lage, etwas zu neuen technischen Entwicklungen beizutragen, die Erdölpreise, von denen das Land abhängt, sinken. Sie betonen aber immer wieder, dass die Lage bisher ziemlich stabil ist.

Erodierende Systeme sind gerade deshalb ziemlich stabil, weil sie den Verfallszustand kennen und daran gewöhnt sind. Nehmen wir mal an, Sie sind in einem europäischen, wirtschaftlich prosperierenden und wohlhabenden Land und plötzlich ereignen sich dort Dinge, die all das erschüttern. Zum Beispiel die Einkommen sinken um ein Drittel oder ein Teil des Territoriums muss abgegeben werden. Dann treten alle möglichen Formen der Störung auf.
Wenn Sie aber über Jahrzehnte in einem Land leben, in dem das Volk der Regierung absolut egal ist, in dem Gewalt immer die Norm gewesen ist, in dem der Staat vor 70 Jahren 20 Millionen Menschen der eigenen Bevölkerung umgebracht hat, in dem man nie im Reichtum gelebt hat und nie etwas von der Welt gesehen hat: Wovor soll man sich dann fürchten?
Etwa davor, dass ein neuer Krieg ausbrechen oder es massenhafte Repressionen geben könnte? Nichts dergleichen steht uns bevor. Unter diesen Umständen lässt sich dieses System nur schwer aus dem Gleichgewicht bringen.

Ich sehe weder die Möglichkeit für eine Palastrevolution noch für einen Volksaufstand noch für sonstwas. Meines Erachtens gibt es nur einen einzigen Ausweg aus dieser Situation: Das System wird von selbst zusammenbrechen, wenn es nichts mehr zu holen gibt. Es muss an seiner eigenen Sinnlosigkeit sterben.

Durch die Propaganda gelingt es, alle Probleme dem Westen anzulasten

Aber der Lebensstandard und die Einkommen sinken. Die Menschen vergleichen doch, wie sie vor, sagen wir, fünf Jahren gelebt haben und wie sie jetzt leben. Die Ergebnisse fallen nicht zugunsten der Gegenwart aus. Wirft denn auch das keinen Schatten auf Putins Lage?

Möglicherweise stimmt das, was Sie sagen. Aber leider hat es bei den Menschen keine Folgen, wenn sie so etwas merken. Niemand versucht, Putin die Schuld zu geben dafür, dass es dem Volk schlechter geht. Durch die Propaganda gelingt es, alle Probleme dem Westen anzulasten: Dem sei es ein Gräuel, dass sich Russland „von den Knien erhebt“ und eine wichtige Rolle im Weltgeschehen spielt.

Was ein mögliches Sinken der Umfragewerte des Präsidenten betrifft, so muss man verstehen: Umfragewerte sind das eine und Wahlergebnisse das andere. Hier sind Polittechnologen am Werk. Daher denke ich nicht, dass Putin bedroht ist. Und ich habe bisher keinen einzigen seriösen Experten gehört, der die These vertreten hätte, dass Putin vor 2018 gehen würde. Abgesehen von dem werten Herrn Kasparow, von Piontkowski und solchen Leuten. Ich schließe nicht aus, dass es nach 2018 irgendwelche Veränderungen geben kann, aber bis zu diesem Zeitpunkt im Grunde nicht.

Ich sehe derzeit niemanden, der Putin stürzen und an seine Stelle treten wollte

Was halten Sie von dieser Variante: Nach einer Aussöhnung mit dem Westen, tritt Putin 2018 als großer Sieger ab – denn danach wird alles bedeutend schlimmer, und das würde seine historische Bedeutung gefährden.

Die beste Variante zum Rücktritt wäre für Putin 2008 gewesen. Aber diese Chance hat er nicht genutzt. Die Frage ist eine andere. Ich wiederhole: Ich sehe derzeit niemanden, der Putin stürzen und an seine Stelle treten wollte. Vor allem, weil die Bevölkerung bereit ist, das gegenwärtige Regime noch lange zu ertragen.
Vielleicht entscheidet er sich ja selbst gegen eine erneute Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2018. Allerdings liegt die Wahrscheinlichkeit dafür meiner Einschätzung nach bei 0,0001 %. Denn Wladimir Wladimirowitsch ist davon überzeugt, alles richtig zu machen. Er glaubt fest daran, dass alle Schwierigkeiten vorübergehend sind und es keinen Anlass für einen Rücktritt gibt.

2015 bleibt als ein Jahr der Korruptionsskandale im Gedächtnis. Da ist der Prozess gegen Jewgenija Wasiljewa, der ehemaligen Leiterin der Abteilung für Vermögensverhältnisse des Verteidigungsministeriums. Die Inhaftierung der Gouverneure von Sachalin, Komi und des ehemaligen Regierungschefs von Karelien. Der Ex-Gouverneur der Oblast Brjansk wurde verhaftet. Und schließlich ist da Nawalnys Film über die Geschäfte der Söhne des Generalstaatsanwalts Tschaika.

Beeinflussen solche Ereignisse die Gesellschaft und das Verhältnis der Bevölkerung zu den Machthabern? Oder ändert sich dadurch nichts Wesentliches?

Der Kampf gegen die Korruption führt weder bei den Eliten noch in der Bevölkerung zu irgendwelchen Reaktionen. Den Film von Nawalny über die Söhne des Generalstaatsanwalts Tschaika haben angeblich Millionen gesehen. Na und?

Die Gesellschaft betrachtet Korruption als etwas mehr oder weniger Normales

Sie erwarten eine Reaktion der Eliten, und dabei gibt es nicht einmal eine Reaktion der Bevölkerung. Denn die Gesellschaft hat sich vollkommen an diese Vorgänge gewöhnt und betrachtet Korruption als etwas mehr oder weniger Normales.
Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Korruption in Russland nicht nur den Eliten zu Gute kommt, sondern auch den einfachen Leuten. Denn wenn es die Korruption nicht gäbe und auch nicht die Möglichkeit, mit der Staatsmacht zu verhandeln, dann wäre das Leben der komplette Wahnsinn.
Das bedeutet, das ganze System gründet darauf, dass die Leute klauen und die diebischen Oberen sie nicht daran hindern, sich mehr oder weniger bequem damit einzurichten. Und das stützt das System. Es nützt nicht nur denen da oben, sondern auch denen da unten, und deshalb wird es keine Reaktion der Bevölkerung auf die Korruption geben.
Und wenn ihr euch später über den Anschluss der Krim freuen wollt, bekommt ihr auch einen wie Tschaika: Denn es ist das gleiche System und es wird von den gleichen Leuten gemacht.

Ich sage Ihnen mal, warum Russland meiner Meinung nach versucht, in die Konflikte im Ausland einzusteigen: Es hält sich für den Mittelpunkt der Welt, für den Träger einer globalen Mission, für den Hort der geistigen Werte in den Zeiten der Apokalypse. Der Grund dafür ist im orthodoxen Erbe und in der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom zu finden. Da die Kirchenleute die heutigen Kremlbewohner auf diese Weise erhöht haben, sind die davon überzeugt, ihre Nase überall hineinstecken zu müssen.

Wenn Sie sich darauf vorbereiten, die ganze Welt zu retten, dann müssen Sie das mit Hilfe von universellen Ideen tun, die von der Mehrheit verstanden werden. In diesem Sinne war die Sowjetunion, unabhängig davon, wie wir sie nun fanden, ein Staat, der über eine solche universelle und globale Ideologie verfügte – den Kommunismus. Ihre weltweite Expansion mit Hilfe des Kommunismus war also in gewisser Weise verständlich.

Putin bietet der Welt heute die Doktrin von der Russischen Welt. Das ist jedoch eine lokal sehr begrenzte Idee. Wenn man die Idee von einer Russischen Welt in den Vordergrund stellt, muss man sich von einer globalisierten Welt verabschieden. Die Russische Idee steht für Autarkie, Autoritarismus, Abwesenheit ideologischer und religiöser Alternativen, täglich dreimaligen Kreuzgang um den Kreml und so weiter. Im globalen Denken einer modernen Welt erscheint das wohl kaum attraktiv. Zu einem solchen Europa hat die Russische Welt keinerlei Beziehung und wird von ihm niemals verstanden und akzeptiert werden. Aber wenn das so ist, dann kümmert euch halt um eure Sachen, oder habt ihr keine Probleme mehr?

Europa hat es nicht eilig, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben. Können Sanktionen überhaupt bewirken, dass Russland die europäischen Spielregeln annimmt und sich wieder Europa zuwendet?

Wenn es darum geht, ob die Sanktionen die russische Regierung dazu bringen können, etwas gegen ihren Willen zu tun, dann können sie das selbstverständlich nicht. Und die russische Regierung weiß, dass das nicht das Wesentliche ist. Die Europäer werden die Sanktionen so oder so wieder aufheben, weil sie keine Freunde der Konfrontation sind. Offen gestanden sind sie für sie überflüssig wie ein Kropf. Wenn aber in der heutigen Welt eine Seite eine andere überfällt, dann muss es darauf eine Reaktion geben. Die Europäer konnten nicht gegen Russland kämpfen, aber sie mussten irgendwie reagieren und haben deshalb die Sanktionen verhängt.

Aber selbst, wenn die Sanktionen wieder aufgehoben werden, wird das nur wenig ändern. Die Sanktionen sind ein wichtiger und ernstzunehmender Faktor. Und sie untergraben zweifellos einige unserer wirtschaftlichen Möglichkeiten, aber das ist nicht das Entscheidende in unserer Situation.

Es sind nicht die Sanktionen, die unsere Entwicklung zum Stillstand bringen

Derzeit ist es den europäischen Banken verboten, Kredite an russische Unternehmen zu vergeben, doch das bedeutet nicht, dass die europäischen Banken nach dem Ende der Sanktionen mit Krediten nach Russland angerannt kommen. Die hatten in der Zwischenzeit hervorragend Gelegenheit, sich nach neuen Märkten umzusehen.
Außerdem ist der Preis für unsere wichtigste Ressource, das Erdöl, auf ein Drittel gesunken. Und wo bitte liegen die Vorzüge unserer Wirtschaft, mit denen wir ausländische Unternehmen anlocken könnten? Es gibt schlicht und ergreifend keine! Das ist das Erste.
Zweitens sind es nicht die Sanktionen, die unsere Entwicklung zum Stillstand bringen, sondern die Versuche, das eigene Unternehmertum umzubringen. Alle haben schon lange erkannt, wie risikobehaftet Geschäfte in Russland sind. Die Aufhebung der Sanktionen wird also nichts Grundsätzliches ändern.

Mit dem Referendum auf der Krim und der Unterstützung der Volksmilizen in der Ukraine hat die russische Regierung dem Westen gezeigt, dass Russland sich von den Knien erhoben und auf globaler Ebene zu einer entscheidenden geopolitischen Rolle zurückgefunden hat. Sie sind häufig in den USA, sagen Sie, was denkt man dort darüber? Ist es Putin gelungen, zu zeigen, dass er, wie Chruschtschow, mit dem Schuh auf den Tisch donnern kann? Inwiefern ist Russland für Amerika von Interesse und in welcher Form zeigt sich das?

Ich kann ein ganz simples Beispiel nennen. In den letzten anderthalb Monaten habe ich mit vielen amerikanischen Russisten gesprochen, und als erstes, nachdem wir uns begrüßt und Kaffee bestellt haben, erzählen sie mir, dass ihnen alle Forschungsmittel zu russischen Themen zusammengestrichen wurden, weil das niemand brauche. Das höre ich von vielen Leuten. Da haben Sie die Antwort, inwiefern Russland derzeit von Interesse für die USA ist.

Und im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus, gegen den Islamischen Staat?

Die Europäer sind als Menschen mit gesundem Menschenverstand natürlich bereit, mit Russland im Kampf gegen den Terror zusammenzuarbeiten. Wenn vorgeschlagen wird, ein gemeinsames Bodenkontingent für den Kampf gegen den IS zu schaffen, dann sind alle ausnahmslos dafür. Aber wir wollen das nicht. Wir wollen dorthin fliegen und dort schießen, wo uns Assad hinschickt. Aber die Europäer lassen sich aus guten Gründen nicht zwingen, Assad zu lieben. Also, was für eine Art von Koalition könnte es hier im Kampf gegen den Terror geben?

In Bezug auf die geopolitische Rolle Russlands ist, wie Obama es kürzlich treffend ausgedrückt hat, unser Land ein regionaler Akteur. Es spielt seine Rolle in der Ukraine und im gesamten postsowjetischen Raum. Und genau so wird es wahrgenommen. Aber darüber hinaus, was ist da?

Der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass Russland nicht mehr als Regionalmacht behandelt wird, sondern als Rowdy

Der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass Russland nicht mehr als Regionalmacht behandelt wird, sondern als Rowdy. Als solcher wurde Putin kürzlich von Hillary Clinton bezeichnet. Russland versuchte zu jenem Zeitpunkt einen unkonventionellen Zug. Es zog in den Kampf nach Syrien und wollte damit demonstrieren, dass es nicht nur eine Regionalmacht sei, sondern auch Interessen in anderen Regionen der Welt habe.
Aber das hat nicht einfach so funktioniert, denn, wenn man gegen den internationalen Terrorismus kämpfen möchte, dann nach den Spielregeln des Westens. Zunächst musste Assad weg und anschließend der IS vernichtet werden. Und das alles in Abstimmung mit den USA. Dann wären die Amerikaner vielleicht bereit, sich mit Russland auszusöhnen, sogar in der Ukraine-Frage.
Wenn Sie allerdings nach Syrien fliegen und dort die unglücklichen syrischen Turkmenen bombardieren, dann nimmt ihnen natürlich niemand mehr die ehrlichen Absichten im Kampf gegen den Terrorismus ab und keiner wird mehr mit ihnen zusammenarbeiten wollen.

Europa ist unser wichtigster Absatzmarkt für Öl und Gas. Nicht nur für den Iran, sondern zum Beispiel auch für Katar oder die USA ist der europäische Markt ein Leckerbissen. Worauf müssen wir uns einstellen?

Russlands größter Konkurrent auf dem europäischen Gasmarkt sind weder der Iran noch Katar, sondern die alternativen Energiequellen. Wir haben gesehen, dass es in Deutschland bereits 2015 einige Tage gab, an denen mehr als die Hälfte des Energieverbrauchs durch Wind- und Sonnenenergie abgedeckt wurde. Und die Beschlüsse, die von den Weltmächten auf dem UN-Klimagipfel in Paris Ende letzten Jahres gefasst wurden, sind ein Hinweis auf die enormen Investitionen, die in die alternativen Energien fließen werden. Das sollte uns durchaus beunruhigen.

Sie sagen, dass Sie keine weltweite Krise erkennen können. Nun behaupten Wirtschaftswissenschaftler wie Sergej Glasjew aber das Gegenteil. Mehr noch, in ihren Augen ist die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise gerade deshalb so tiefgreifend und langanhaltend, weil sie mit dem Übergang in ein neues technisches Zeitalter verbunden ist – und dem Kampf verschiedener Wirtschaftssysteme und Staaten um den Platz an der Sonne. Ist das so?

Tatsächlich stehen wir am Anfang eines neuen technischen Zeitalters. Dieser Prozess, der sich im Grunde genommen alle paar Jahrzehnte wiederholt, weil der Fortschritt nicht stillsteht, führt zum Einsatz neuer Technologien. Doch die andere Frage ist, wie diese neuen Strukturen mit der Wirtschaftskrise zusammenhängen. Erinnern wir uns beispielsweise an das Aufkommen der Computertechnik in der ersten Hälfte der 80er Jahre, als Microsoft, Dell und Apple auf den Markt kamen. Auch damals gab es eine Krise, aber nicht wegen der neu aufgekommenen Computertechnik, sondern wegen des von den Arabern erklärten Ölembargos. Also bin ich mir nicht sicher, ob die Krise zwangsläufig der Begleiter eines neuen Zeitalters ist.

Zu glauben, dass Russland seinen Durchbruch erlebt, das ist auf gewisse Art schizophren

Was Russland betrifft, so sind Glasjew und seine Freunde aus mir nicht ersichtlichen Gründen der Meinung, dass es eine Chance für Russland gibt, in diesem neuen Zeitalter seinen Durchbruch zu erleben. Das ist auf eine gewisse Art schizophren.
Denn wenn wir die Geschichte betrachten, sehen wir, dass jede neue Entwicklung, ob das nun Dampfmaschine, chemische Industrie, Fließbandproduktion, Computer oder Biotechnologie sind, dort stattfindet, wo die zuvor existierenden Technologien bis zum Ende ausgereizt worden sind. Das heißt, dass es niemals eine Situation gegeben hat, in der der Maschinenbau in Großbritannien die höchste Entwicklungsstufe erreicht hätte und anschließend Paraguay plötzlich eine führende Rolle in der Computerproduktion gespielt hätte.

Ich kann kein einziges Indiz erkennen, das auf eine Führungsrolle Russlands im neuen technologischen Zeitalter schließen lässt. Vorreiter dieser neuen Zeit werden erneut die USA, Japan, Kanada, Deutschland und so weiter sein. Eben jene Länder, die das bereits in den vergangenen Jahrzehnten waren. Und das ist eigentlich alles, was es dazu zu sagen gibt.

Welchen Platz wird Russland in dieser neuen Struktur einnehmen? Besser gesagt, welchen Platz möchte es von sich aus besetzen?

Jedes Land sollte – abhängig von den vorhandenen Ressourcen – eine Strategie entwickeln, um maximalen Wohlstand zu erreichen. Wenn klar ist, dass man Erdöl hat, sollte man über die 15 Jahre, solange es teuer ist, Mittel einsetzen, um einen neuen Motor zu entwickeln, der die Wirtschaft ankurbelt. Den arabischen Emiraten ist das sehr gut gelungen – heute sind Unternehmen wie die Emirates Airways und der Flughafen Dubai die größten Steuerzahler. Sie haben ein hervorragendes Drehkreuz für den Personen- und Warenverkehr geschaffen und mit Dschabal Ali außerdem einen exportorientierten Fertigungsplatz. Sie haben eine Reihe neuer Städte gebaut, unter anderem Anziehungspunkte für Touristen.

Russland hat bisher nichts Vergleichbares geschaffen. Und hat das, allem Anschein nach, auch nicht vor. Wir haben uns also selbst die Rolle des Rohstofflieferanten ausgesucht.

Der Weg, den wir gewählt haben, ist perspektivlos

Wenn wir bislang so gehandelt haben, dann lassen Sie uns darüber nachdenken, wie es weitergehen könnte: Wir könnten entweder westliche Unternehmen zu uns einladen, wie Kasachstan es tut, die Erdölförderung erhöhen, die Produktion weiterentwickeln und sie äußerst flexibel gestalten. Beispielsweise könnten wir entlang aller Küsten Fabriken zur Gasverflüssigung errichten, die weltweit größte Tankerflotte aufbauen und Erdöl- und Erdgaslieferant für die Regionen der Welt werden, die einen extrem dringenden Bedarf haben, und so global eine ausgleichende Funktion übernehmen. Ein Beispiel: Die Preise für Erdöl in Japan sind gestiegen, und wir haben unsere Tanker dorthin geschickt. Das ist eine mögliche Strategie.

Es gibt auch eine andere Strategie. Und zwar: Überall Pipelines hinverlegen, die Hälfte des aufkommenden Schmiergelds in die eigene Tasche stecken und hoffen, dass sich an der Konjunkturlage nichts ändert. Das ist der Weg, den wir gewählt haben. In meinen Augen ist der absolut perspektivlos.

Aber es gibt doch in Russland immer noch Menschen, die Hochtechnologien entwickeln und realisieren. IT-Spezialisten aus Russland beispielsweise sind heutzutage im Ausland sehr geschätzt. Existieren bei uns wirklich keinerlei Voraussetzungen oder Möglichkeiten, um in irgendeiner Weise den Anschluss an die neuen technologischen Entwicklungen zu finden?

Alle diese weltweiten Entwicklungen bilden ein komplexes globales Netz. Das besteht aus den enormen Leistungen von hunderttausenden von Experten auf der ganzen Welt. Auch russische Fachleute können Teil dieses Netzes sein. Entwicklungen müssen sich aber in konkreten Produkten materialisieren. So wie die Computertechnologie in Chips, Mobiltelefonen und so weiter. Die neuen technologischen Entwicklungen werden unter anderem Medizin und Biotechnologie voranbringen. Aber beispielsweise die Nanotechnik ist ja nicht einfach die Ionisierung von Luft. Sie ist Maschinenbau unter Verwendung von Nanoteilchen und Nanozusatzstoffen. Das heißt, man braucht grundlegende Produktionsstrukturen, in die die Innovationen integriert werden. Die gibt es aber in Russland nicht.

Die USA und China sind nicht nur zwei eng verbundene Volkswirtschaften, sondern auch geopolitische Konkurrenten. Hinzu kommt die Krise: der Zusammenbruch der Börse. Einige Experten sehen das als Vorzeichen für einen Weltkrieg. Denn der Zweite Weltkrieg war ja auch eine Reaktion auf die Große Depression.

Ja, die weltweite Krise der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts endete mit dem Zweiten Weltkrieg, das ist so. Allerdings brach zum Beispiel der Erste Weltkrieg zu einem Zeitpunkt aus, als der Zustand der Weltwirtschaft ausgezeichnet war. 1913 gab es einen industriellen und wirtschaftlichen Aufschwung und nichts deutete auf irgendwelche kriegerischen Auseinandersetzungen hin. Ich kann keine festen Gesetzmäßigkeiten erkennen, die darauf schließen lassen, dass gerade eine Wirtschaftskrise zu einem Weltkrieg führen sollte.

Dass in Russland ständig über Krieg gesprochen wird, ist ein Zeichen dafür, dass irgendjemand nicht friedlich und ruhig leben kann

Daher ist die Vorstellung, dass die Welt an irgendeiner Schwelle zu irgendeinem Weltkrieg stehe, der Versuch, eine Art selbsterfüllende Prophezeiung zu konstruieren. Und die wird gerade von Ländern und Regionen äußerst aktiv eingesetzt, die sich selbst irgendeine Art von Erschütterung wünschen. So versuchen sie, diese in irgendeiner Weise heraufzubeschwören.

Dass in Russland ständig über Krieg gesprochen wird, ist ein Zeichen dafür, dass irgendjemand nicht friedlich und ruhig leben kann. Dass man es nicht als Wert an sich anerkennt, wenn auf der Welt alles in Ordnung ist. Ständig möchte man die Ursache irgendwelcher Probleme sein, damit man nur ja nicht übersehen wird.

Die russische Führung versucht ja ganz offensichtlich, die Situation in verschiedenen Regionen der Welt aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und dann bemüht sie sich darum, mit den früheren westlichen Partnern über irgendetwas verhandeln zu können, nach dem Prinzip: Wenn wir nur irgendetwas Garstiges tun, dann werden sie schon gezwungen sein, mit uns zu verhandeln.

Mit einem Wort: Es geht um die Idee, dass jeden Augenblick ein Krieg ausbrechen könnte. Das ist eine provinzielle Sichtweise, die aktiv von der russischen Propaganda geschürt wird. Lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen.

Unser Gespräch hinterlässt bei mir ein beklemmendes Gefühl. In Ihren aktuellen Artikeln beschäftigen Sie sich immer wieder mit der Emigration der „Bevölkerung mit gesundem Menschenverstand“. Nur: Was tun, wenn es keine Möglichkeit zur Emigration gibt, auch wenn man hundert Mal einen gesunden Menschenverstand besitzt? Protestieren? Den Mund halten? Still und leise Geld für die Ausreise ansparen?

Emigration, das ist eine schwere Entscheidung. Sie bedeutet, das Haus zu verkaufen und das Geschäft aufzugeben. Und wenn sich Menschen dazu entschlossen haben, darf man sie nicht verurteilen. Nur ist es sehr traurig, dass Russland diese Menschen verliert. Denn genau diese Menschen werden hier gebraucht, Menschen, die bereit sind, etwas auf die Beine zu stellen. Daher rate ich ganz und gar nicht dazu, aus dem Land wegzulaufen.

Dennoch sehe ich sehr klar, dass sich der Trend zur Emigration verstärkt. Und ich verstehe diese Menschen und respektiere ihre Entscheidung. Und denen, die bleiben, rate ich zu schweigen, denn derzeit gibt es ganz objektiv keine Voraussetzungen dafür, dass sich irgendetwas ändert. Und ich würde derzeit auch niemandem empfehlen, zu versuchen, etwas zu verändern. Probleme gibt es so schon genug, weshalb sich dann auch noch der Verfolgung aussetzen?

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Russische Wirtschaftskrise 2015/16

Die Wirtschaftskrise im Herbst 2014 hatte Russland ökonomisch vor eine unsichere Zukunft gestellt. Drei unabhängige Entwicklungen setzten die russische Wirtschaft gleichzeitig unter Druck: der Einbruch des Ölpreises, wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland sowie strukturelle Probleme, das heißt fehlende Anreize zu Investitionen und zur Steigerung der Produktivität. Erst mit der Erholung des Ölpreises 2017 kam es wieder zu einem leichten Wirtschaftswachstum.

Schon 2013 war die russische Wirtschaft trotz hoher Ölpreise kaum gewachsen (+1,8 Prozent)1. Da in Russland schon seit vielen Jahren weniger investiert wird als in vergleichbaren Ländern, wird pro Arbeitsstunde in Russland noch immer nur halb so viel hergestellt wie im EU-Durchschnitt.2 Durch die fehlende Wachstumsdynamik und weniger Spielraum im Staatshaushalt war die Ausgangslage vor der aktuellen Krise deutlich schlechter als im Vorfeld der globalen Finanzkrise 2009 (Wachstum in Russland 2008: +5,2 Prozent3).

Als der Ölpreis sich 2014 innerhalb weniger Monate halbierte, zog dies den Wert der russischen Exporte und damit auch die Nachfrage nach dem Rubel nach unten. Zusätzlich schwächten die westlichen Wirtschaftssanktionen die Währung. Großkonzerne wie Rosneft mussten Rubel in Dollar eintauschen, um ihre Kredite bei westlichen Banken zurückzuzahlen. Insgesamt flossen aus Russland 2014 netto 154 Milliarden US-Dollar Kapital ab – mehr als doppelt so viel wie 2013.4 Der Rubel verlor in der zweiten Jahreshälfte knapp 50 Prozent seines Werts zum Dollar.

 

Über den schwachen Rubel wurde die Krise für die russische Bevölkerung deutlich spürbar. Fast alle importierten Güter verteuerten sich schlagartig. Dies betraf keineswegs nur die bei der Mittelschicht beliebten Waren wie Elektronik, Möbel und Autos, sondern auch Lebensmittel und Medikamente. Die Beschränkung des Lebensmittel-Angebots durch die russischen Gegensanktionen verschärften diese Entwicklung noch. Die Inflation stieg in der Folge auf über 15 Prozent, für Lebensmittel auf über 20 Prozent.5 Da die Gehälter stagnierten, senkte die Inflation die realen Einkommen der russischen Bevölkerung, was den privaten Konsum im ersten Quartal 2015 um 8,8 Prozent einbrechen ließ.6 Im Vergleich zum Vorjahr erhöhte sich die Zahl der von Armut betroffenen Menschen in Russland um 2,1 Millionen.7

Der schwache Rubelkurs und die Inflation bewegten die russische Zentralbank im Dezember 2014 zu einer radikalen Erhöhung des Leitzinses auf 17 Prozent (zum Vergleich: In der Eurozone waren es zu diesem Zeitpunkt 0,05 Prozent).8 Höhere Zinsen können zwar eine Währung stärken und die Inflation dämpfen, allerdings erhöhen sich mit ihnen auch die Kosten der Kreditfinanzierung für Unternehmen und Privathaushalte. Durch den hohen Leitzins, das weiter sinkende Realeinkommen und die wetterbedingt besonders üppige Ernte stiegen die Verbraucherpreise im Jahr 2017 um nur noch 2,5 Prozent – für Russland ein historisch niedriger Wert.

Die fehlende Konsumnachfrage und die gestiegenen Finanzierungskosten stellten die russischen Unternehmen in der Wirtschaftskrise vor große Probleme.9 Im Jahr 2015 schrumpfte die russische Wirtschaft um 2,5 Prozent. Auch für 2016 gab die russische Statistikbehörde ROSSTAT noch ein leichtes Minus bei der Wachstumsrate bekannt (-0,2 Prozent).10

Das russische Finanzministerium verzeichnete 2015 ein Defizit im Staatshaushalt in Höhe von 3,4 Prozent des BIP. 2016 fiel der Fehlbetrag mit 3,7 Prozent des BIP noch größer aus, wobei die Regierung ihre Bilanz durch (Teil)Privatisierung von Staatskonzernen um etwa ein Prozent des BIP aufbesserte. Bei dem Fehlbetrag schlagen vor allem die gesunkenen Einnahmen aus Öl-Exporten sowie die um ein Drittel gestiegenen Militärausgaben zu Buche. Das Defizit verringerte sich 2017 auf 1,5 Prozent und wurde, wie bereits in der Krise 2009, aus dem Reserve-Fonds finanziert, der etwa 5 Prozent des russischen BIPs beträgt. Im Jahr 2018 erwartet das Finanzministerium durch den wieder gestiegenen Ölpreis einen leichten Haushaltsüberschuss.11


1.The World Bank: GDP growth (annual %) 
2.OECD.Stat: Level of GDP per capita and productivity 
3.The World Bank: Russia Economic Report 33: The Dawn of a New Economic Era? (hier interessant: S. 5) 
4.International Monetary Fund: Russian Federation: 2015 Article IV Consultation – Press Release; And Staff Report 
5.OECD.Stat: Consumer prices – annual inflation und OECD.Stat: Consumer prices – annual inflation, food 
6.OECD.Stat: Key Short-Term Economic Indicators: Private consumption (volume) 
7.The World Bank: Russia Monthly Economic Developments, August 2015 
8.The World Bank: Russia Economic Report 33: The Dawn of a New Economic Era? (hier interessant: Figure 19) 
9.Eine Ausnahme sind exportierende Unternehmen außerhalb der Ölindustrie, die vom schwachen Rubelkurs profitieren.
10.Bis Juli 2015 belief sich das Defizit allerdings bereits auf 2,8 % des BIP, siehe: Ria Novosti: Deficit federalʼnogo bjudžeta Rossii za janwarʼ-ijulʼ sostavil 2,8 % VVP 
11.Kluge, Janis (2018): Russlands Haushalt unter Druck, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studie 14/2018 
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Als Reaktion auf die Angliederung der Krim und Russlands militärisches Eingreifen in der Ostukraine verhängten die EU und die USA im Jahr 2014 Sanktionen gegen Russland. 2018 beschlossen die USA neue Sanktionen, unter anderem wegen Hackerangriffen und Syrien. Seitdem wird diskutiert: Sind Sanktionen sinnvolle Mittel, um Moskau Grenzen aufzuzeigen? Oder schüren sie nur die Eskalation? Janis Kluge über die Strafmaßnahmen und ihre Wirkung.

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Als Reaktion auf die westlichen Sanktionen, die nach der Angliederung der Krim gegen Russland verhängt wurden, reagierte Russland mit Gegensanktionen. Das russische Handelsembargo beinhaltet vor allem Einfuhrverbote für Lebensmittel. Während westliche Hersteller Exportverluste erlitten, verteuerten sich in Russland, nicht zuletzt durch die umstrittene Vernichtung von Lebensmitteln, die Preise für zahlreiche Nahrungsmittel.

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Die Higher School of Economics zählt zu den wichtigsten russischen Hochschulen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die Reformuniversität wurde Anfang der 1990er gegründet, um Wirtschaftsexperten für den Aufbau der Marktwirtschaft auszubilden. Heute zählt die Hochschule zu den führenden Forschungsuniversitäten in Russland und nimmt auch politisch eine wichtige Rolle ein.

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Jewgeni Jasin (1934–2023) war ein liberaler russischer Ökonom, der zunächst als Berater von Boris Jelzin und von 1994 bis 1997 dann als Wirtschaftsminister die Wirtschaftsreformen der Jelzinzeit entscheidend mitprägte. Auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik war er weiterhin gesellschaftspolitisch aktiv: Jasin war Forschungsdirektor der Higher School of Economics, leitete die Stiftung Liberale Mission und war Kolumnist beim unabhängigen Radiosender Echo Moskwy. Als Vertreter der wirtschaftsliberalen Elite kritisierte er die zunehmende Autokratisierung in Putins Regime und forderte mehr Rechtsstaatlichkeit ein.

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Jegor Gaidar (1956–2009) war einer der wichtigsten Reformer der 1990er Jahre und gilt als Vater der russischen Marktwirtschaft. In der russischen Gesellschaft ist Gaidar sehr umstritten: Während seine Befürworter ihm zugute halten, dass er die Rahmenbedingungen für das private Unternehmertum in Russland schuf und das Land vor dem totalen wirtschaftlichen Kollaps bewahrte, lastet ihm der Großteil der Bevölkerung die Armut der 1990er Jahre an. Nach Gaidars Tod wurde ihm zu Ehren eine Stiftung gegründet: Diese fördert unter anderem (Wirtschafts)Wissenschaftler und engagiert sich für eine liberale Grundordnung. 

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Es war kein Zufall, dass die russische Präsidentschaftswahl 2018 am 18. März stattfand. Die Wahlbeteiligung und die rund 90-prozentige Zustimmung für Putin auf der Krim stellt der Kreml als eine Art zweites Referendum über die Zugehörigkeit der Halbinsel zu Russland dar. Gwendolyn Sasse über die mythenumwobene Region, das Narrativ der „russischen Krim“ und die Selbstwahrnehmung der Krim-Bewohner nach der Angliederung an Russland. 

 

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