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Griechenland, Europa, Putin

In der Beziehung zwischen Russland und der EU nimmt Griechenland eine besondere Stellung ein: Die Verbindungen zwischen den orthodoxen Staaten sind traditionell eng, beide betrachten sich als Erben der byzantinischen Welt.

Seit 2014 und den Ereignissen in der Ukraine sind Russlands Freunde in EU-Europa rar geworden. Wohl nicht ohne Grund erinnerte Putin nun, kurz vor seinem zweitägigen Besuch in Athen und dem russisch-orthodoxen Mönchskloster auf dem heiligen Berg Athos, in einem Gastbeitrag in der konservativen griechischen Tageszeitung Katherimini an die historische Verbundenheit der beiden Staaten: Moskau sucht den Schulterschluss mit Athen.

In Griechenland ist das politische Spektrum stark polarisiert, sowohl linke wie rechte Parteien sind einflussreich, bei einer schwachen Mitte. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in anderen EU-Ländern beobachten. Umso aufschlussreicher kann ein Blick auf die griechisch-russischen Konstellationen sein, wie ihn Leonid Ragosin von The New Times unternimmt: Wie stehen die unterschiedlichen Strömungen der griechischen Politik zu Russland? Ist Athen wirklich der engste Verbündete Moskaus in der EU?

Quelle The New Times

Im Oktober 2015 versammelten sich in einem verqualmten und graffitibedeckten Hörsaal der Athener Technischen Universität Vertreter von 30 linken Organisationen aus 15 europäischen Ländern zum „antifaschistischen Forum" – European Forum for Donbass. Der Stadtteil, in dem das sogenannte Polytechnio liegt, war immer eine Hochburg der Linksradikalen gewesen: Noch vor kurzem wagte sich die Polizei, mit der die jungen Kommunisten und Anarchisten traditionell auf Kriegsfuß standen, kaum hierher. Die Versammelten einte der Wunsch, die Bewohner des Donbass in ihrem Kampf gegen die „ukrainischen Faschisten“ zu unterstützen.

In breiter Front

Auf dem Podium saßen, vor einer mit roten Hammer-und-Sichel-Fahnen behängten Wand, griechische Kommunisten, Gäste aus dem Donbass und ein junger Deutscher in einem grünen Trikot mit einer – russischsprachigen – „Pro Gaddafi“-Aufschrift.

Der Headliner der Veranstaltung, Sergej Marchel, war ein ehemaliger IT-Mann aus Odessa, der die Ukraine verlassen hat und jetzt in ganz Europa Veranstaltungen zur Unterstützung des Donbass organisiert. Er erklärte, die Teilnehmer hätten sich darauf verständigt, ein internationales antifaschistisches Forum zu gründen.

„Wir haben einen Beschluss darüber gefasst, dass weltweit in allen Ländern eigene Untereinheiten für den Kampf gegen den Faschismus aufgebaut werden sollen, damit alle freiheitsliebenden Menschen in Frieden leben können“, erläuterte Marchel.

Der griechische Organisator Andreas Safiris war selbst im Mai 2015 im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion in den Donbass gereist. „Dort werden einfache Menschen zu Helden“, erinnerte sich der von der Standhaftigkeit der Donbass-Bewohner begeisterte Safiris in unserem Gespräch. „Sechzigjährige Frauen erklärten uns, sie würden lieber hungern und sterben als unter die Herrschaft der ukrainischen Faschisten zu geraten.“

Wir haben einen Beschluss darüber gefasst, dass weltweit in allen Ländern der Welt eigene Untereinheiten für den Kampf gegen den Faschismus aufgebaut werden sollen, damit alle freiheitsliebenden Menschen in Frieden leben können

Die griechische Delegation hatte damals unter anderem den Lugansker Separatistenführer Alexej Mosgowoi getroffen – die Reise fand zwei Wochen vor dessen Tod statt. Die Mosgowoi-Brigade „Prisrak“ [Gespenst – dek] genoss bei den europäischen Linken Kultstatus, weswegen sich Spanier, Franzosen, Griechen und zahlreiche andere ihren Reihen angeschlossen hatten.

„Ich war aber doch erstaunt, da ein Foto von Mosgowoi mit einem Porträt von Zar Nikolaus II. zu sehen. Ich hatte den Eindruck, der Mann ist Monarchist“, berichtete ein Teilnehmer, der anonym zu bleiben wünschte. Der griechische Donbass-Besucher ließ sich jedoch dadurch nicht weiter beirren, schließlich müsse man „in breiter demokratischer Front gegen den Faschismus kämpfen“, das sei seine Meinung.

Die Frage ist nur: Wen bezeichnet man eigentlich als Faschisten? Diejenigen, die in Griechenland den dortigen Linken als Faschisten gelten, sind schließlich selbst ebenfalls Russland- und Putinfreunde.

Der Goldenen Morgenröte entgegen

Mit Ilias Kasidiaris treffen wir uns an seinem Arbeitsplatz – dem griechischen Parlament, wo er die rechtsextreme Partei Chrysi Avgi vertritt, die „Goldene Morgenröte“. Der zweite Mann in der Organisation (er selbst) sowie weitere Führungsfiguren der Goldenen Morgenröte sind derzeit in ein Verfahren verwickelt wegen Gründung einer kriminellen Organisation, die mit politischem Terror, mehreren Morden und der Verbreitung nazistischer Ideologie in Verbindung gebracht wird. Wobei er letztere auch schon auf seinem eigenen Körper verbreitet: Seine in griechischer Ornamentik gestaltete Hakenkreuz-Tätowierung geriet griechischen Fotojournalisten bereits mehrfach vor die Linse.

Die Goldene Morgenröte ist aus der neonazistischen Subkultur aufgestiegen, und obwohl ihre Mitglieder heute die Verbindung ihrer Ideologie mit dem klassischen Faschismus leugnen, ist die Nachfolge in ihrer Rhetorik und ihren Attributen doch klar erkennbar.

Kasidiaris hat umfangreiche Pläne zur Stärkung des russisch-griechischen Bündnisses. Unter anderem will er, dass Russland Gasleitungen durch griechisches Territorium verlegt und bei der Förderung von Erdgas im griechischen Schelf behilflich ist. Der Mythos von der möglichen Energie-Autarkie Griechenlands ist bei den griechischen EU-Gegnern populär, wird allerdings von Geologen nicht bestätigt.

„Da ja die Amerikaner eine Militärbasis auf Zypern haben – was unseren (den griechischen) Interessen ganz und gar nicht förderlich ist – warum soll man nicht auf [der griechischen Insel] Syros auch eine russische Basis aufbauen, wenn von russischer Seite ein solches Interesse besteht“, sagt der Abgeordnete. Ihm zufolge gab es solche Überlegungen bereits unter der Regierung Kostas Karamanlis, der von 2007 bis 2009 griechischer Ministerpräsident war.

Alle Schuld den Amerikanern

Was den Ukraine-Konflikt betrifft, so gibt Kasidiaris alle Schuld den Amerikanern, die den Kiewer Maidan angezettelt und das Land in den Krieg getrieben hätten. In Russland, so Kasidiaris, arbeite seine Partei eng mit Shirinowskis LDPR und der Partei Rodina [Heimat – dek] zusammen, die ehemals vom heutigen russischen Vizepremier Dimitri Rogosin geführt wurde.

Zwei Vertreter der Goldenen Morgenröte nahmen an einem Kongress politisch weit rechts angesiedelter Organisationen teil, den Rodina im Frühjahr 2015 in Petersburg ausgerichtet hatte. Die Veranstaltung verfolgte in erster Linie das Ziel, eine Koalition zur Unterstützung des russischen Vorgehens und der prorussischen Kämpfer in der Ostukraine zu bilden. So gesehen unterschied sie sich nur wenig von der weiter oben geschilderten Zusammenkunft der Linken in Athen, nur dass hier Leute teilnahmen, die in Fachkreisen für gewöhnlich als Neonazis gelten.

Einer von ihnen war Alexander Miltschakow, Spitzname „Fritz“ – ein bekennender Petersburger Nazi, Anführer des im Donbass aktiven Diversions- und Sturmtrupps Russitschi, der sich aus seinen Nazi- und Neopaganisten-Freunden zusammensetzt.

Ein weiterer extrem wichtiger Kontaktmann der Goldenen Morgenröte in Russland ist der Philosoph Alexander Dugin, eine Kultfigur in Neonazikreisen in ganz Europa. Die Partei teile – so Kasidiaris – seine Überzeugung, dass Russland (und nicht, zum Beispiel, das moderne Griechenland) der Erbnachfolger des Byzantinischen Reiches sei. Allerdings, sagt Kasidiaris, hätten die Goldene Morgenröte und Dugin unterschiedliche Meinungen zur Türkei: Der Russe Dugin betrachte das Land als Verbündeten, während es für die rechten Griechen ein Erzfeind sei.

2014 hatte Dugin, Professor an der MGU, zwei hohe Mitglieder der Goldenen Morgenröte in der Universität empfangen, die zum Abschluss des Treffens erklärten, sie würden Russland als den wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die „amerikanische Expansionspolitik“ betrachten.

Syriza hin ...

Dugin – ein Mann von aufgeschlossenem Charakter – ist dabei nicht nur mit den griechischen Neonazis befreundet, sondern auch mit deren Erzfeinden von der linken Partei Syriza, die aktuell in Griechenland die Regierung stellt.

Dugin hatte 2013 auf Einladung von Nikos Kotsiatis, der heute das Amt des griechischen Außenministers bekleidet, einen Vortrag an der Universität Piräus gehalten. Allerdings ließen wiederum die griechischen Grenzbeamten Dugin am 18. Mai 2016 nicht ins Land – „auf ein Ersuchen Ungarns hin“.

Ich verstehe nicht, wie eine Partei, die sich offen für Adolf Hitler begeistert, ein Freund Russlands sein kann, das dermaßen unter dem Nationalsozialismus gelitten hat

Bei Vertretern von Syriza, unter denen viele ehemalige Kommunisten sind, rufen die herzlichen Beziehungen der Ultrarechten mit Russland Eifersucht und Ratlosigkeit hervor. „Ich verstehe nicht, wie eine Partei, die sich offen für Adolf Hitler begeistert, ein Freund Russlands sein kann, das dermaßen unter dem Nationalsozialismus gelitten hat“, sagt Panos Trigazis, Koordinator der Arbeitsgruppe für außenpolitische Fragen im Syriza-Parteivorstand.

Als die Partei im Zuge der Wirtschaftskrise und der Enttäuschung der Griechen über die Europäische Union an die Macht kam, schien es klar, dass dies die russlandfreundlichste Regierung aller Zeit in Europa werden würde. Noch in der Rolle der Opposition war Syriza für eine Aufhebung der Sanktionen eingetreten, die die EU aufgrund des russischen Vorgehens in der Ukraine verhängt hatte. Kurz vor seiner Vereidigung als Premierminister traf sich der Parteichef Alexis Tsipras mit dem russischen Botschafter.

Wenn wir sagen, die Beziehungen zu Russland müssen ausgebaut werden, heißt das nicht, dass wir unserer europäischen Orientierung den Rücken kehren wollen

Den Posten des Verteidigungsministers in Tsipras Kabinett bekam Panos Kammenos, Chef der kleinen rechtspopulistischen Partei Unabhängige Griechen und ein persönlicher Freund des Unternehmers Konstantin Malofejew, der eine Schlüsselrolle bei der Angliederung der Krim durch Russland und der Organisation des bewaffneten Aufstandes im Donbass gespielt hatte.

Informationen verschiedener europäischer und amerikanischer Medien zufolge war Kammenos in Moskau zu Gast bei der Hochzeit von Giannis Karageorgis – einem griechischen Reeder, mit dem Malofejew die Gründung einer TV-Senderkette in Griechenland und anderen Balkanländern plant.

… Syriza her

Doch das anfänglich herzliche Verhältnis zwischen dem Kreml und dem Vorstand von Syriza kühlte allmählich ab. Tsipras erhielt nicht die russischen Kredite und Verträge, mit deren Hilfe er gehofft hatte, das Land aus der Krise zu führen, und sah sich gezwungen, demütigende Kompromisse bei Verhandlungen mit den führenden Ländern der EU einzugehen.

„Ja, die früheren Regierungen haben den Ausbau der Beziehungen mit Russland vernachlässigt“, bemerkt Panos Trigazis jetzt. „Aber wenn wir sagen, die Beziehungen müssen ausgebaut werden, heißt das nicht, dass wir unserer europäischen Orientierung den Rücken kehren oder Europa verlassen wollen.“

Übrigens gibt es innerhalb von Syriza selbst höchst unterschiedliche Sichtweisen auf Russland. Der Anführer der prorussischen Fraktion, Panagiotis Lafazanis, hatte bis Juli 2015 einen Ministerposten in der Tsipras-Regierung inne, verließ dann jedoch die Partei und wechselte in die Opposition. Zur selben Zeit verabschiedete sich Finanzminister Yanis Varoufakis aus dem Kabinett, der – im Gegensatz zu seinem Parteikollegen – Putins Politik wiederholt kritisiert und von diktatorischen Tendenzen in Russland gesprochen hatte.

Griechenland muss viele Faktoren berücksichtigen, unter anderem die Zypern-Frage

Trigazis ist nicht einverstanden mit Varoufakis' Sichtweise. „Wenn Russland eine Diktatur wäre, dann säße die Kommunistische Partei nicht im Parlament“, meint er. Seiner Ansicht nach erfülle Russland die Kriterien eines demokratischen Mehrparteiensystems. Außerdem, fügt er hinzu, spiele Russland eine Schlüsselrolle im Kampf gegen das Bestreben der USA, eine unipolare, auf Washington zentrierte Weltordnung zu errichten.

Die internationale Gemeinschaft muss sich ausreichend flexibel zeigen, damit in Bezug auf derart große Gefüge wie das Kosovo oder die Krim nicht das Gefühl von Rechtlosigkeit entsteht

Im Hinblick auf das russische Schlüsselthema, die Ukraine, äußert Trigazis einen vorsichtig prorussischen Standpunkt: Syriza respektiere die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine, aber die müsse wiederum „die Gefühle von nationalen Minderheiten respektieren“. Und weiter: „Die ethnischen Russen in verschiedenen Regionen der Ukraine wollen mehr Autonomie. Ich denke, diese Frage kann auf demokratischem Wege gelöst werden.“

Mit der Krim ist es noch vertrackter: Die Halbinsel, führt Trigazis aus, sei Teil eines föderalen Systems gewesen – so wie der Kosovo innerhalb Serbiens und des ehemaligen Jugoslawiens. „Die internationale Gemeinschaft muss sich ausreichend flexibel zeigen, damit in Bezug auf derart große Gefüge wie das Kosovo oder die Krim nicht das Gefühl von Rechtlosigkeit entsteht“, sagt er, und fügt hinzu, man müsse die „historischen Ungerechtigkeiten“ bedenken, unter denen die Krim in der Vergangenheit gelitten habe.

Aber in jedem Fall werde die Syriza-Regierung, offenbart Trigazis, das Thema Krim nicht aktiv vorantreiben oder gar die Krim als Teil der Russischen Föderation anerkennen, denn: Priorität hat es nach wie vor, auf die territoriale Integrität der Insel Zypern hinzuarbeiten, die 1974 teilweise durch die Türkei annektiert worden war.

Zudem erkennt Griechenland auch die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an. Insofern tritt die Syriza-Regierung für einen umfassenden Ansatz ein, der sowohl den Zypern- als auch den Kosovo-Faktor zu berücksichtigen hätte.

In der Praxis bedeutet das: Syrizas Unterstützung für die russische Position bezüglich der Ukraine wird sich auf reine Rhetorik beschränken. Bisher jedenfalls hat Griechenland keinen Versuch unternommen, von seinem Veto-Recht bei der Verlängerung der Sanktionen gegen Russland Gebrauch zu machen, und auch in Zukunft wird es das nicht tun.

Der Grad der griechischen Loyalität wird von der russischen Polit-High-Society stark überzeichnet.

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Grüne Männchen

Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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