Im vergangenen Jahr haben im Dorf Kaljonowo in der sibirischen Region Burjatien zwei Familienväter ihre Ehefrauen ermordet. Einer der Männer hat sich danach selbst das Leben genommen. Früher, so sagen Einheimische, habe man das Wort „Mord“ hier gar nicht gekannt.
Das Sibirien-Portal Ljudi Baikala hat Kaljonowo besucht, um herauszufinden, wie die Menschen vor Ort mit der Tragödie umgehen und warum jede Gräueltat heute mit Russlands Krieg in der Ukraine verbunden zu sein scheint.
Original 06.08.2025 von Aljona Istomina — Übersetzung 10.09.2025 von Jennie Seitz , Ruth Altenhofer
Kaljonowo mit einer Bevölkerung von knapp tausend Einwohnern liegt am Fuße des Malan-Chala an den Ausläufern der Gebirgskette Chamar-Daban. Das Kreiszentrum Iwolginsk ist 13 Kilometer entfernt, „ein netter Spaziergang“ sagt man hier, und tatsächlich nehmen ihn viele auf sich – fast alle arbeiten in Iwolginsk.
Bis vor kurzem war in Kaljonowo „Mord“ ein Fremdwort; das Tragischste, was hier passierte, waren Suizide. Deshalb haben zwei Taten innerhalb des vergangenen Jahres die Bewohner besonders erschüttert: im Mai 2024 in der Familie Rudnjew und Anfang Juni 2025 beim Ex-Ehepaar Lubsanow – in beiden Fällen brachte der Mann die Frau um.
Das Dorf Kaljonowo hat zwei Geschäfte, ein Kulturhaus, eine Schule, eine große und gut ausgestattete Arztpraxis, sogar eine Hebamme, aber das war es dann auch schon an Infrastruktur. Überall hängen Plakate, auf denen mit viel Geld für den Militärdienst geworben wird. 14- bis 16-Jährige rasen auf Mopeds durch die Gegend.
Die Rudnews waren 25 Jahre lang ein Paar, die Lubsanows nur etwas mehr als ein Jahr verheiratet und zum Zeitpunkt der Tat bereits geschieden. Erstere hatten eine gemeinsame Tochter, Zweitere nur Kinder aus früheren Ehen. Von den Rudnews hieß es, sie würden „hin und wieder trinken, aber nicht saufen“, die Lubsanows wirkten von außen wie eine perfekte Familie.
Manjuna sah ihre Familie nie wieder
Am 5. Juni 2024 kehrte die 36-jährige Journalistin und Ehrenamtliche des Suchtrupps Lisa Alert, Maria Lubsanowa, aus der Militäroperation zurück. Dort hatte sie mehrere Monate als Freiwillige für Soldaten gekocht, meist die traditionellen burjatischen Buus-Teigtaschen mit Fleischfüllung. Sie bekam den Spitznamen „Manjunja“, in sozialen Netzwerken hat Lubsanowa sogar einen Dankesbrief von Soldaten gepostet, adressiert an die „Kameradin Manjunja“. Sie hat den Namen daraufhin auf ihrer VKontakte-Seite übernommen und wurde später auch von Freunden so genannt.
Von der Front zurück aber, hatte sie nicht einmal mehr Gelegenheit, ihre Familie wiederzusehen – sie wohnte in Kaljonowo, im Haus ihrer Eltern, und arbeitete bei der Zeitung Shisn Iwolgi (dt. Leben in Iwolga) in Iwolginsk. Zuerst traf sie den Bürgermeister von Iwologinsk, dem sie ihr Ehrenmesser, ihren Orden und die Urkunde präsentierte. Dann besuchte sie ihre Kollegen in der Redaktion, im selben Gebäude wie die Stadtverwaltung.
In der Mittagspause wartete draußen ihr Ex-Mann Bator auf sie. Die Aufnahmen der Überwachungskamera zeigen, dass er während des Gesprächs wild gestikulierte, während Maria ruhig zuhörte. Dann ging sie noch mal rein, kam mit einem technischen Gerät wieder raus und stieg zu ihrem Ex-Mann ins Auto.
Nach der Mittagspause versuchten Marias Kollegen erfolglos sie zu erreichen. Zuerst ertönten im Hörer undefinierbare Geräusche, dann wurden die Anrufe abgelehnt. Abends waren dann beide Nummern nicht mehr erreichbar – weder Lubsanowas noch Bators.
Er hat sie schon ab und an verdroschen
„Die Bullen haben die Vermisstenanzeige komischerweise gleich aufgenommen“, erzählt Tatjana aus Kaljonowo. „Vielleicht, weil Manjunja noch nie wegen häuslicher Gewalt bei ihnen gewesen war. Obwohl, das hätte sie mal machen sollen – er hat sie schon ab und an verdroschen, tauchte ständig bei ihren Eltern auf, machte Radau, fehlte nur noch, dass er die Fenster einschlug.“
Noch am selben Abend fand man etwa zehn Kilometer außerhalb des Nachbardorfs Kljutschi (14 Autominuten von Iwologinsk) Bators Pkw und darin Marias leblosen Körper mit zahlreichen Messerstichen. Bators Leiche entdeckte man gleich in der Nähe, er hatte sich erhängt. Die vorläufige Version der Ermittler lautete: Mord mit anschließendem Suizid. Es wurde ein Strafverfahren gemäß Paragraf 105, Teil 1 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation eingeleitet: Mord. Ob die Tat geplant war oder im Affekt geschah, muss noch ermittelt werden. Freunde und Bekannte der Getöteten gehen von Eifersucht als Motiv aus.
Zur Beerdigung kamen an die hundert Menschen. „Die Autokolonne wollte nicht abreißen“, beschreiben die Einwohner die Szene.
„Ich kann weder sprechen noch atmen“
In Kaljonowo und in Iwologinsk spricht man positiv von Maria: Sie sei immer freundlich, zuvorkommend und fröhlich gewesen, habe „immer ein Lächeln auf den Lippen gehabt“; von ihr sei eine „Wärme ausgegangen, wie eigentlich von ihrer ganzen Familie“. Marias Mutter Olga arbeitet als Ärztin im lokalen Versorgungszentrum und alle wollen von ihr behandelt werden, der Vater war sein Leben lang Förster.
Auf Marias VKontakte-Profil finden sich lauter Fotos mit Soldaten, mit je ein paar Worten zu jedem von ihnen. Dann auch Bilder von den Sucheinsätzen mit Lisa Alert – in Iwologinsk war sie eins der aktivsten Mitglieder der Such-Organisation. Viele Fotos mit Kindern – bis 2017 hatte Maria im Kulturhaus Kaljonowo Sportkurse für Kinder geleitet.
„Als die ersten Verwundeten von der Militäroperation zurückkamen, oder ein Grus-200, war sie sehr bewegt. Es zog sie dahin, sie sagte, sie könnte viele Menschenleben retten, wenn sie hinfahren würde“, erzählt ein Freund von Maria. Schließlich brach sie mit einem humanitären Einsatz ins okkupierte Mariupol auf. Dafür erhielt sie die Verdienstmedaille der 36. Armee des Östlichen Militärbezirks und – als erste Frau aus Burjatien – ein Messer mit Gravur „für die Stärkung der Kampfmoral der Soldaten“.
Maria hinterlässt einen 14-jährigen Sohn aus erster Ehe. Ihre Freundinnen erzählen, sie sei sehr bekümmert darüber gewesen, dass auch ihre zweite Ehe gescheitert war und sie ihrem Sohn keine richtige Familie bieten konnte.
Ihren Ex-Mann Bator hatte sie bei der Arbeit kennengelernt – er war IT-Fachmann in der Kreisverwaltung. „Er hat ihr richtig den Hof gemacht“, sagt Marias Freundin Anna (Name auf Wunsch der Gesprächspartnerin geändert – LB). „Blumen, Briefchen mit Liebeserklärungen. Ihrem Sohn schenkte er Gadgets, von denen der ganz begeistert war. Überhaupt hat er sich zuerst mit dem Sohn angefreundet, und erst das hat auch Manjunjas Herz zum Schmelzen gebracht.“ Sie habe gedacht, er wäre ein guter Vater.
Seine ‚pathologische Eifersucht f***t sie ab‘.
Bator hatte bereits Kinder von einer anderen Frau. Auf seiner VKontakte-Seite schrieb er, wie sehr er Kinder liebe, und dass „jedes Kind einen Vater braucht“.
Aber die Ehe hielt nicht lange. Mal suchte Maria mit Lisa Alert vermisste Menschen im Wald, mal sammelte sie Spenden für die Armee, mal nahm sie an Festivitäten teil. Das gefiel Bator nicht.
„Er hatte sich das anders vorgestellt, dachte, mit ihm würde sie sesshaft werden, wie er sich ausdrückte“, erzählt Anna weiter. „Er wollte wohl, dass sie zu Hause hockt wie eine Glucke. Aber das hielt Maria nicht lange aus. Letzten Dezember reichte sie die Scheidung ein, zu mir hat sie damals gesagt, seine ‚pathologische Eifersucht f***t sie ab‘.“
Aber nach der Scheidung wurde alles nur schlimmer. Sobald Maria die Stelle in Iwolginsk hatte, mietete sie dort eine Wohnung. Gab sie jedoch bald wieder auf und zog zu ihren Eltern nach Kaljonowo, um sich dort vor ihrem Ex-Mann zu verstecken.
„Er ließ ihr keine Luft zum Atmen“, berichtet ein Freund von Maria. „Ende des Winters rief sie mich an und sagte: ‚Das Arschloch hat meine Fenster eingeschlagen‘.“ Lubsanowa sei nicht zur Polizei gegangen und habe niemandem von der Gewalt erzählt, fährt unser Gesprächspartner fort. Sie habe gedacht, dass sie alle Probleme selbst lösen könne. Laut ihren Freundinnen hätten ihre Kollegen und Bekannten keine Ahnung davon gehabt, dass in Marias Ehe etwas nicht stimmte.
Lubsanowas Elternhaus in Kaljonowo ist ein kleines Holzhaus mit hohem Zaun, im Garten wächst Flieder. Die Fenster sind neu und aus Plastik. Auf dem verwitterten Schild am Tor lässt sich mit Mühe das Wort „Förster“ entziffern. Auf das Klopfen hin kommt Marias Mutter Olga raus, mit zerzausten Haaren, das Gesicht verweint. „Ich kann weder sprechen noch atmen“, sagt sie heiser und schlägt das Tor wieder zu. Marias jüngere Schwester Arina antwortet auf VKontake knapp, aber höflich: „Verzeihen Sie, mir fehlt die Kraft.“
Die Menschen hier vertrauen sich nicht dem Erstbesten an
Im Haus der Kultur von Kaljonowo, wo Maria einst gearbeitet hat, bittet uns die Direktorin, vor ihrem Büro zu warten, während sie ihren Vorgesetzten anruft und seine Erlaubnis einholt. Ich höre durch die Tür, wie er offenbar zustimmt.
Die Direktorin führt uns Journalisten in ihr Büro, in dem ihre fünf Mitarbeiter sitzen. Der Reihe nach verweigern sie jeden Kommentar.
Das Gleiche in der Redaktion der Lokalzeitung in Iwolginsk: „Kein Kommentar.“
Aber vor der Tür spricht uns eine junge Frau an: „Seien Sie nicht traurig. Sagen Sie Ihrem Chefredakteur, so ist nun mal Iwolginsk. Die Menschen hier vertrauen sich nicht dem Erstbesten an, sie sind verschlossen.“
In Iwolginsk ist man nicht gut auf Journalisten zu sprechen. Sie hätten alles „falsch dargestellt und die gesamte Region in den Dreck gezogen“. Zum Beispiel habe es geheißen, Bator hätte Maria mit Gewalt ins Auto gezerrt und niemand wäre ihr zur Hilfe gekommen.
Eine Freundin von Maria bestätigt, dass Freunde und Bekannte der Verstorbenen einen Groll gegen die Medien hegen. Allerdings nicht so sehr wegen dem, was geschrieben wurde, sondern wegen der Kommentare dazu.
Wenn dir dein Mann nicht gefällt, musst du ihn ertragen
„Verstehen Sie, in der Provinz herrscht immer noch die Meinung, dass eine Ehe für die Ewigkeit ist. Wenn dir dein Mann nicht gefällt, musst du ihn ertragen“, sagt Anna. „Wenn du es anders machst, wird über dich getratscht und geurteilt. Als Marischka noch lebte, hat keiner je ein böses Wort zu ihr gesagt, aber nach diesen ganzen Artikeln in der Presse tauchten in den Kommentaren nicht ganz so nette Leute auf, die sie verurteilten, ohne sie überhaupt zu kennen. Weil sie zum zweiten Mal verheiratet war. Wie da ihr Privatleben breitgetreten wurde, wie man sie nicht alles beschimpft hat. Für uns, die ihr nahestanden, und vor allem für ihre Familie ist es furchtbar, so was zu lesen.“
„Was soll der Krieg sonst mit den Menschen anrichten?“
In Iwolginsk wechseln sich in die Jahre gekommene sowjetische Wohnblocks mit Zweifamilienhäusern ab. Hin und wieder sieht man reichere Stadtvillen. Außer den üblichen Kneipen, Pfandleihhäusern und zahllosen Lebensmittelläden gibt es in Iwolginsk eine Autowerkstatt, eine Kantine und ein einziges Hotel, das wegen Renovierung auf unbestimmte Zeit geschlossen ist.
„Patriotische“ Losungen sieht man hier wirklich überall, zum Beispiel an den Türen der Schule. Plakate mit Appellen zur Verteidigung der Heimat für Geldsummen von bis zu zehn Millionen, Fotos und Porträts von Helden, den Buchstaben Z, von den Bewohnern an Haustore und Zäune gemalt.
Auf Schritt und Tritt stößt man auf Kühe, die in kleinen Herden zusammenstehen, das spärlich vorhandene Gras zupfen und gleichgültig in die Gegend glotzen. Wenn ein Auto kommt, zeigen sie null Reaktion – man muss einen Bogen um sie herumfahren.
Von Iwolginsk sind es nur sieben Kilometer bis Werchni Iwolginsk, wo sich ein buddhistisches Kloster befindet, der Iwolginski Dazan. Innerhalb nur eines Jahres entstand dort ein neuer Tempel – Zogtschen dugan. Links davon sind die Gerüste weiterer Dazane zu sehen, die Baustellen sind von morgens bis abends im Dauerbetrieb.
Die Gäste des buddhistischen Klosters reisen nicht nur aus ganz Russland an, sondern auch aus dem Ausland. Viele besuchen auch Iwolginsk, deshalb gibt es dort so viele Geschäfte. Die Einwohner sagen, der Tourismus schaffe viele Arbeitsplätze, und die Männer müssten nicht auf Schicht fahren wie in anderen Dörfern, wo es zu wenige Jobs gebe. Allerdings „sind bei uns viele zu faul zum Arbeiten, und Männer verfallen dem Alkohol, obwohl sie leicht Arbeit finden könnten“.
In Burjatien wird Alkohol offiziell nur zwischen 10 und 20 Uhr verkauft. Doch das scheint in Iwolginsk niemand einzuhalten. Zumal es einen Laden gibt, in dem man rund um die Uhr was bekommt. Nach 20 Uhr, erzählt die Verkäuferin, kann sie nicht mal eine Zigarettenpause einlegen, weil so viele Kunden kommen. Tagsüber lungern Jugendliche vor der Kneipe herum.
„Ist doch allen klar, warum so was passiert, aber zu sagen traut sich’s keiner“, meint Jelena, eine Frau um die 50. Zusammen mit einer Nachbarin hütet sie Kühe. „Was soll der Krieg sonst mit den Menschen anrichten? Diese Anspannung immer, und die Männer dürfen sich ja nicht fürchten, also bahnt sich diese ganze Angst und Anspannung ihren Weg in die Aggression. Da wird einem richtig bange. Das ist erst der Anfang, die ersten Kriegsrückkehrer, und seht euch an, was passiert.“
„Och, weiß der Himmel, wie die noch zurückkommen werden“, wirft Jelenas Nachbarin ein. „Mein Sohn ist im Krieg und ein Neffe von Olga … Wir sind moralisch schon auf alles gefasst, sind ja unsere Kinder. Aber dass sie einen Knacks in der Psyche davontragen, davon können wir ausgehen. Viele Veteranen fangen an zu saufen wie die Löcher, können gar nicht mehr aufhören, und nach allem, was sie an der Front erlebt haben, kann man’s ihnen nicht verdenken. Aber der Suff bringt nur Unglück.“
Die Frauen erzählen, wie sie in der Kirche und im Dazan für ihre Jungs beten, die jetzt an der Front sind.
Wankenden Schrittes nähert sich ein Mann.
„Alle meine Freunde sind im Krieg gefallen“, sagt er. „Habt ihr etwas Kleingeld für eine Flasche?“
Vor der Kneipe spricht man über den tragischen Vorfall.
„Der ist halt echt ein Arschloch, anders kann man’s nicht sagen“, meint einer in knallroten Shorts und hellgrünem T-Shirt. „Wieso gibt’s von solchen Arschlöchern immer mehr? Die kommen so aus der Ukraine zurück. Und dann ticken sie nicht mehr richtig, nach diesem Gemetzel. In Burjatien gab’s kürzlich noch so einen Fall, da hat einer Frau und Kind umgebracht und sich dann erhängt. Habt ihr davon gehört? Natürlich nicht! Weil die Medien schön geschwiegen haben. Und wisst ihr, warum? Weil nämlich dieser Typ kurz davor aus dem Krieg zurückgekehrt ist.“
„Mir bleibt nur mein Vater“
In Kaljonowo erwürgte Ende Mai letzten Jahres Nikolai Rudnew seine Frau Larissa. Sie hatten 25 Jahre zusammengelebt.
Laut Ermittlungskomitee hatten die Rudnews seit dem Morgen zusammen getrunken. Gegen Abend sei ein „auf Eifersucht beruhender Konflikt“ entflammt. Nikolai habe eine Gabel genommen und seiner Frau damit mehrmals in Brust und Hals gestochen, dann habe er das Besteck weggeworfen und angefangen, sie zu würgen. Jetzt sitzt Nikolai wegen Mordes (§ 105 des russischen StGB) eine Haftstrafe ab.
Die Dorfbewohner nennen das Paar eine „Trinkerfamilie“. Was nach hiesigem Maßstab bedeutet, dass sie immerhin nicht permanent besoffen waren. Sie konnten schon mehrere Tage hintereinander durchzechen, aber dann auch mal drei Tage nüchtern sein – um dann wieder zur Flasche zu greifen. Aber ihr Garten war gepflegt, die Wohnung sauber, und Nikolai nahm jeden Job an, der sich bot.
Ist natürlich fatal, so was einem betrunkenen Kerl zu servieren!
„In diesem Streit gab es so ein Detail, über das jetzt das ganze Dorf Bescheid weiß“, erzählt der Nachbar der Rudnews. „Nur eins weiß keiner – wer dieser Verehrer war. Nikolai ist damit nicht mal vor den Ermittlern rausgerückt, und wie Larissa das vor den Tratschweibern im Dorf verheimlichen konnte, die ja sonst immer alles über alle wissen, bleibt ein Rätsel. Vielleicht ein Auswärtiger? Na, jedenfalls hat ihm die Larissa im Rausch gesteckt, dass sie einen Lover hat. Für den sie Nikolai verlassen will. Ist natürlich fatal, so was einem betrunkenen Kerl zu servieren! Na, und dann hat er angeblich zuerst versucht, sie mit einer Gabel zu erstechen, und dann angefangen, sie zu würgen. Er hat mehrmals aufgehört, geweint, versucht, sie wieder ins Bewusstsein zu holen … Aber dann wieder gewürgt.“
Der Holzzaun versperrt den Blick auf das heruntergekommene kleine Haus. Wütendes Hundegebell. Jetzt wohnt Galina Rudnewa hier, Larissas und Nikolais einzige Tochter.
„Galina unterstützt ihren Vater“, erzählt eine Dorfbewohnerin. „Sie sagt, sie hat jetzt nur noch ihn, andere Verwandte gibt es nicht. Ist ja klar, sie ist noch ledig, hat noch keine Kinder. Sie packt ihm was für das Straflager ein, besucht ihn im Gefängnis … Die Leute verurteilen sie zwar nicht unbedingt, aber so richtig verstehen können sie sie nicht. Andererseits – ich weiß ja selbst nicht, wie ich mich in so einer Situation verhalten würde.“
Ein paar Tage hintereinander versuchen wir, Galina im Haus der Rudnews anzutreffen. Aber sie ist nie da. Auf mein Klopfen hin schreit die Nachbarin heraus: „Sie wird halt bei einer Freundin sein!“
Rund um das Haus von Galinas Freundin spielen Kinder, auf dem Vorplatz sitzt eine Frau ohne Finger, neben ihr eine Wodkaflasche. „Erschreckt euch nicht“, sagt die Frau schüchtern anstelle einer Begrüßung. „Alles in Ordnung? Weil, viele haben Angst vor mir.“
Hier hilft man uns endlich, Galina zu finden.
„Ja, mein Vater hat meine Mutter erwürgt“, sagt Galina. „Ich weiß, dass viele im Dorf nicht nur ihn verurteilen, sondern auch mich. Mir doch scheißegal. Mutter ist tot, mir bleibt nur mein Vater. Einen anderen hab ich eben nicht. Und außer ihm hab ich keine Verwandten.“
„Er ist doch nur aus Dummheit dahin“
Am nächsten Morgen kommen Beamte aus der Bezirkshauptstadt nach Kaljonowo, zu einer Trauerkundgebung und der Bestattung des 20-jährigen Artjom.
Das ist bereits der sechste Bewohner von Kaljonowo, der gefallen ist. Insgesamt sind rund 40 Personen aus diesem Dorf in den Krieg gezogen – als Freiwillige oder per Einberufung. Iwolginsk hat fünf Kriegstote zu betrauern, der ganze Bezirk 82 laut Daten von Ljudi Bajkala.
Die Feier soll um zwölf Uhr beginnen, doch bereits gegen elf kommen Leute zu Artjoms Eltern nach Hause. Alle tragen Schwarz. Um 11:50 fährt ein Kleinbus der Armee vor, aus dem Soldaten in Uniform steigen.
Sie nehmen der schluchzenden Mutter Artjoms Porträt aus der Hand, damit stellt sich einer in die Mitte, zwei andere flankieren ihn mit Maschinengewehren. Auf dem mit Atlasseide bezogenen Sargdeckel liegen eine Tellermütze und Orden.
„Der Sarg ist zu, weil er tagelang unterwegs war und nach Verwesung riecht“, erklärt mir der Bruder des Toten.
An die 40 Dorfbewohner und zehn angereiste Militärangehörige stehen eine Stunde lang rund um den Sarg. Keiner spricht, man hört nur das Weinen der Angehörigen. Die Großmutter kippt ein paarmal um, ringt nach Luft. Man hilft ihr hoch, aber wegbringen lässt sie sich nicht.
Dann verladen die Soldaten den Sarg in einen Transporter. Verwandte von Artjom springen auf die Ladefläche und halten ihn fest. Die Prozession steuert das Denkmal für die Gefallenen des Großen Vaterländischen Kriegs an. Allmählich versammeln sich dort immer mehr Menschen, zu Beginn der feierlichen Rede sind es an die hundert. Für so eine kleine Ortschaft ist das viel.
Besprochen werden gefallene Soldaten statt ermordeter Frauen
Die Mitarbeiterinnen des Kulturhauses, die sich am Vortag nicht zu Maria Lubsanowas Tod äußern wollten, erzählen nun, wo Artjom geboren ist (in Kaljonowo), wie gut er in der Schule war, welche Wettbewerbe er gewann, welche Urkunden er bekam und mit welchen Orden er post mortem für seine Kriegsdienste ausgezeichnet wurde. Das ist schon sein ganzer Lebenslauf. Neben den Rednern stehen Beamte, die Verwandten ganz vorn, mit Abstand zu den „Außenstehenden“.
Zum Friedhof fahren rund 30 Personen – nur Verwandte und Freunde. Der erste Schuss in die Luft. Die Frauen kreischen, manche ducken sich auf den Boden. Noch ein Schuss. Wieder ein Kreischen. Manche halten sich die Ohren zu. Ein dritter Schuss. Stille.
„Er war schwer in Ordnung, fleißig, gut in der Schule. Die Armee hat ihn abgelehnt. Er hat sich zu Hause um alles gekümmert – Brennholz, Wirtschaft“, erzählt Artjoms Onkel. „Er hat mir immer geholfen, und nicht nur mir, jedem, den er kannte, man brauchte nur zu fragen, er sagte nie nein.“
Das läuft alles falsch.
Nach der Schule hatte Artjom eine Stelle in Iwolginsk angenommen. Er kaufte sich ein Auto, transportierte damit Brennholz und wurde eines Tages ohne Papiere erwischt. Er bekam eine Bewährungsstrafe, meldete sich aber nicht rechtzeitig bei der Polizei und wurde zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Dort unterschrieb er schnell den Vertrag und ging als Soldat an die Front.
„Er ist doch nur aus Dummheit da hin“, sagt Artjoms Onkel. Er dreht eine Zigarette zwischen den Fingern hin und her und schenkt sich einen Wodka ein. „War noch grün hinter den Ohren, hatte noch nie nen Mädel. Das läuft alles falsch.“