Wie sprechen die Menschen in Russland über den Krieg? Was denken sie wirklich? Wie sehen sie ihr Leben, ihre Rolle im militarisierten Getriebe der Putinschen Kreml-Diktatur?
Einwandfreie, wissenschaftlich saubere, freie und offene Meinungsstudien sind in einem Land wie dem heutigen Russland schon seit mehr als zehn Jahren unmöglich. Informationskanäle sind beschränkt, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit beschnitten und Regimekritiker werden verfolgt, verhaftet, verurteilt und gefangen gehalten.
In den ersten zwei Jahren des vollumfänglichen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gab es Versuche, die Haltung der „normalen“ russischen Bevölkerung zum Krieg zu ergründen: zum Beispiel vom Meinungsforschungszentrum Lewada oder auch von dem russischen Exil-Medium Meduza. Die Frage nach Schuld und Mitverantwortung spaltet selbst oppositionelle Kreise bis heute.
Um trotz allem wenigstens einen Eindruck von der Stimmung im Land im vierten Kriegsjahr zu bekommen, hat das Onlinemagazin Ljudi Baikala einen unabhängigen Sozialpsychologen (aus Sicherheitsgründen anonym) mit einer Umfrage beauftragt. Der Wissenschaftler sollte herausfinden, was sich die Leute von einem irgendwann vielleicht möglichen Ende der sogenannten „militärischen Spezialoperation“ („SWO“) erwarteten und wünschten.
Aufgrund der repressiven Kremlpolitik gestaltete sich die Teilnehmersuche schwierig: Der Autor befragte zehn Personen aus verschiedenen Regionen Russlands sowie eine Fokusgruppe aus acht Personen in der Region Irkutsk. Die Interviewpartner konnte er nur „über Bekannte von Bekannten“ finden. „Man merkt, dass es nicht okay ist, einfach so von einer fremden Nummer anzurufen und dann zu sagen: ‚Wissen Sie, wir machen da so eine Recherche ...‘ Die Leute sind sehr angespannt“, so der Forscher gegenüber Ljudi Baikala. Trotzdem konnte er Gesprächspartner:innen für seine Studie gewinnen: „Die Auswahl der Teilnehmer erfolgte nach Alter, sozialem Status und beruflicher Stellung, um Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten zu erreichen. Ich habe versucht, die Positionierung einer Person zur ‚SWO‘ zu berücksichtigen. Nicht im Sinne von positiv oder negativ, sondern danach, ob er oder sie Verwandte hat, die vielleicht tot oder verschollen sind.“
Der Wissenschaftler legte den Befragten keine vorgefertigten Antwortmöglichkeiten vor, wie in der quantitativen Forschung üblich. Stattdessen sollten die Teilnehmenden möglichst ausführlich auf offene Fragen antworten. Daher liefert die Studie keine Prozentzahlen zu bestimmten Standpunkten, aber einen Einblick in die Weltsicht der Antwortenden.
Ljudi Baikala fasst Antworten einzelner Befragter und Fokusgruppenteilnehmenden zusammen. Deutlich wird: Eine überwiegende Mehrheit verbindet „positive Veränderungen“ mit einem Kriegsende, aber eine konkretere Vorstellung von der Zukunft hat niemand.
Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala
Frage: Wie stellen Sie sich Ihr eigenes und das Leben Ihrer Familie in fünf bis sieben Jahren vor?
Diese Frage war für die Befragten offensichtlich die schwierigste. Es fiel ihnen schwer, ihr Leben auch nur ein Jahr im Voraus zu planen – selbst denjenigen, deren Arbeit von effektiver Planung abhängig ist, zum Beispiel Unternehmer.
Die Hälfte der Befragten antwortete verallgemeinernd: „Ich glaube, alles wird gut“, „Ich hoffe, dass alle gesund und glücklich werden.“
Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:
„Ich denke, es wird besser werden, irgendwann muss der Krieg ja zu Ende gehen und sich alles normalisieren. Also ... insgesamt wird es in unserem Land einen positiven Trend geben. Auch in der Familie wird es bergauf gehen.“
Die andere Hälfte hielt Zukunftsplanung für grundsätzlich unmöglich. Die Menschen fühlten sich, so fasst es der Forscher zusammen, „abhängig von äußeren Umständen“. Sie müssten „sich von heute auf morgen überlegen, wie sie unter den sich verändernden Umständen leben sollen, anstatt einem Plan zu folgen“.
Mitarbeiter einer NGO, 36, Oblast Irkutsk:
„Der Planungshorizont in unserem Land ist generell sehr kurz. Über eine Zeitspanne von fünf bis zehn Jahren zu sprechen, ist reinste Spielerei. Es wäre eine glatte Lüge zu sagen, dass wir für die nächsten zehn Jahre etwas genau vorhersagen könnten. Für das nächste Jahr ist das schon schwierig. Buchstäblich vor drei Wochen lebten wir in der einen Realität, und dann kommen – zackbumm – plötzlich irgendwelche Firmen nach Russland zurück. Was bedeutet das? Dass sich das Schicksal tausender Menschen verändert. Heute arbeiten sie in einer Branche ohne Konkurrenz, morgen haben sie plötzlich Konkurrenz usw. Ich wünsche mir sehr, dass alles gut wird, aber wie es tatsächlich wird, kann ich nicht sagen. Das kann nur die Zeit zeigen.“
„ZU VIEL STERBEN“
Frage: Was denken Sie, wie sich ein Ende der „Spezialoperation“ auf Ihr Leben auswirken wird?
Die Mehrheit der Befragten erwartet von einem Ende des Krieges, dass ihre Ängste und Sorgen abnehmen.
Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:
„Die Nachrichten drücken natürlich auf die Stimmung. Also, der Krieg an sich, meine ich. Wenn das alles vorbei ist, gibt es sicher mehr Positives. Rein emotional wird alles leichter, glaube ich.“
Nachfrage: „Was empfinden Sie gerade als emotional schwierig?“
„Das ständige Sterben in den Nachrichten. Der Tod ist überall … Die Nachrichtenkanäle sind voll von Videos davon, überall Mord und Totschlag. Egal ob es ‚unsere‘ Toten sind oder ‚deren‘ Tote. Es gibt einfach zu viel Sterben.“
Drei der Befragten sagten, dass sich ihr Leben gar nicht verändern würde. Vier glaubten, dass nach dem Krieg eine neue Krise im Land ausbrechen könnte. Sie befürchteten, dass Medikamente knapp werden, die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch die Kriegsrückkehrer zunehmen und der Staatshaushalt nur noch in den Aufbau der zerstörten Regionen fließen könnte.
Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen:
„Mein Leben hängt nicht so sehr von dem Beginn oder Ende der ‘Spezialoperation’ ab. Ich habe zum Beispiel monatsweise auf einer Baustelle gearbeitet. Als das im Februar 2022 losging, saßen wir ganz entspannt irgendwo hinter Magistralny (Dorf in der Oblast Irkutsk – Anm. d. Red.), bauten ein Wohnheim für Gasarbeiter, und da ging’s los. Unsere Arbeit ging weiter und weiter, und wir hatten das Gefühl, in einer Art Kapsel zu sein. Als wir vom Bau wiederkamen, so im Mai, hatte sich in der Stadt nichts verändert.“
„Ich habe davon gehört bzw. eine Sendung im Fernsehen gesehen, dass die Kriminalität explodieren wird, der Alkoholismus, Schlägereien, Morde. ‚Ich war da [an der Front – dek], und du nicht‘ – diese Art von Konflikten. Vor der wachsenden Kriminalität habe ich Angst. Wie gefährlich wird das Leben dann sein? Außerdem macht mir die ganze Atmosphäre Angst. Also, ich meine, die Frauen gehen regelrecht auf die Jagd nach ‚SWO‘-Teilnehmern: Sie bringen ein Kind zur Welt, er stirbt, sie bekommt Geld. Das ist die Tendenz, ich sehe das, weil ich in solchen Chatgruppen sein muss. Das ist keine gesunde Situation, alle sind Konkurrentinnen. Männer gab es sowieso nicht viele, und die, die jetzt da sind, werden Folgen davontragen, Verletzungen, Komplikationen, Behinderungen. Vor den Invaliden habe ich Angst.“
Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala
Frage: Was denken Sie, wie sich Ihre Stadt bzw. Ihr Land nach dem Ende der „Spezialoperation“ verändert wird?
Der Sozialpsychologe hat während der Gespräche bemerkt: „Es ist einfacher, über die Veränderungen im Land zu sinnieren, weil man darüber was in den Nachrichten gehört hat, oder man schöpft aus seinem Geschichtswissen. Aber wenn es um die eigene Stadt geht, gibt es keine vorgegebenen Antworten, du musst selbst überlegen, was sich hier verändert. Du musst also deine eigene Wahrnehmung einschalten, über den Tellerrand schauen, nicht nur: ‚Was habe ich im Kühlschrank, wie sieht mein Kontostand aus?‘, sondern: ‚Was passiert in meiner Stadt? Ich lebe hier ja nicht alleine.‘ Wenn die Leute über lokale Veränderungen nachdenken, wird es kompliziert, das sieht man auch bei anderen Befragungen.“
Etwa ein Drittel der Befragten äußerte dann auch die Einschätzung, dass sich ein Ende der „Spezialoperation“ gar nicht auf das Leben in ihrer Stadt auswirken würde.
Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen:
„Wenn der Krieg zu Ende geht, fangen sicher irgendwelche Steuerrepressionen an. Unseren Staat kann man nicht verkohlen. Ich glaube, die Wirtschaft ist etwas gereift, gesünder, also wird es die Möglichkeit geben, sich etwas zu entspannen, aber insgesamt die Veränderungen in der Stadt … ehrlich gesagt, haben wir uns abgewöhnt, an die ganzen Versprechungen zu glauben. Sie machen irgendwas zum Schein, aber nicht wirklich.“
Ein Drittel der Befragten erwarteten negative Veränderungen wie sinkende Löhne und einen Anstieg der Kriminalität: „Das Geld wird immer knapper werden“, „Wir werden nachts nicht mehr auf die Straße gehen können, nicht in Clubs oder Restaurants“.
Aber ebenso viele hofften auf Besserung: „Es wird mehr Arbeitskräfte geben“, „Das Budget der Stadt wird wachsen“, „Es wird wieder mehr gebaut“.
Nach den Veränderungen im ganzen Land gefragt, stellen die Befragten ebenfalls genauso viele positive wie negative Prognosen auf. Zu den positiven zählten sie auch eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Russland und den USA. Außerdem, dass dann mit dem Wiederaufbau der „neuen Gebiete“ begonnen wird, dass das Leben insgesamt positiver und die Menschen ruhiger werden, dass es finanziell leichter werden könnte, eventuell sogar durch Steuererleichterungen durch den Staat.
Die Negativprognosen indes lauten: Das Land wird ärmer werden; das Land wird geächtet; der technische Rückstand wird sich drastisch bemerkbar machen; jeder wird in den Staatsapparat streben, um sein Stück vom Kuchen abzukriegen; die Kriminalität wird zunehmen.
Dabei lässt sich nicht beziffern, wie viele der Befragten positiv und wie viele negativ gestimmt sind, weil ein und dieselbe Person zuweilen beide Meinungen äußert. So versuchten die Menschen, die Situation objektiv zu bewerten, meint der Forscher.
Unternehmerin, 60, Oblast Irkutsk:
„Vielleicht werden die Menschen ruhiger, die nicht wollen, dass ihre Angehörigen bei der ‚Spezialoperation‘ landen oder dass die überhaupt stattfindet. Aber sonst, nein, ich denke nicht, dass sich groß was ändert. Vielleicht wird es sogar schwieriger … Schwieriger, weil eine große Masse von Menschen Gewalterfahrungen gemacht hat. Weil man, wenn man jemanden getötet hat, wahrscheinlich nicht mehr so leben und denken kann wie vorher. Wenn da plötzlich so viele solche Menschen sind, ist das nicht gut. Es wird nicht leichter. Irgendwann wird sich natürlich wieder alles zum Besseren wenden, aber das braucht Zeit.“
„WAHRSCHEINLICH KOMMT DAS MILITÄR AN DIE MACHT“
Frage: Welche Schwierigkeiten sehen Sie für eine Zukunft nach der „Spezialoperation“? Was muss der Staat nach deren Ende sicherstellen?
Bei diesen Fragen kommen die Teilnehmenden häufig auf die Kriegsrückkehrer zu sprechen, sowohl im positiven als auch im negativen Sinn.
Rentnerin, 65, Kaukasus:
„Wahrscheinlich wird das Militär an die Macht kommen. Die kehren aus dem Krieg zurück und fangen an, die Korruption zu bekämpfen, aber richtig. Beseitigen alle Diebe, die jetzt die Staatskassen leerräumen. Weil sie als Helden zurückkommen und vor nichts mehr Angst haben … Ich glaube, wenn das Militär an die Macht kommt, werden sie den Präsidenten unterstützen, aber sie werden viel strenger sein. Weil sie jetzt an das Gesetz der Zeit gewöhnt sind – erschießen und fertig. Das wird dem ganzen Land guttun.“
Andererseits werden mit den Veteranen der „Spezialoperation“ auch künftige Probleme verbunden. Etwa ein Drittel der Befragten sehe zwar keine Schwierigkeiten, vor denen sie Angst hätten. Doch der Rest fürchte vor allem einen Zuwachs der Kriminalität, eine mögliche Überlastung des Gesundheitswesens und der sozialen Dienste durch die Kriegsrückkehrer. Manche befürchteten auch, dass es zu einer Ungleichheit zwischen den Teilnehmern der „Spezialoperation“ und dem Rest der Bevölkerung kommen könnte und damit zu einem Wertekonflikt zwischen diesen Gruppen.
Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen:
„Bald wird ein Kind, ein normales, gesundes Kind aus einer vollständigen Familie nicht mehr studieren können, wenn die Männer dieser Familie nicht im Krieg waren. Weil es Quoten geben wird, Vorrang für Kinder von Kriegsversehrten, ‚SWO‘-Teilnehmern, Gefallenen und so weiter. Es wird eine Spaltung geben, ein Kastensystem, Benachteiligungen. Wenn einer studieren will, kann er ja nichts dafür, dass keiner aus seiner Familie an der Front war. Aber wenn einer im Gefängnis war und als Soldat gedient hat – dessen Kind wird aufgenommen, auch wenn es schlechte Noten hat. Ist das etwa gerecht?“
„Vor allem, wenn der im Krieg gefallen ist.“
„Und noch etwas, wissen Sie, plötzlich haben Frauen von Häftlingen einen ganz anderen Status. Früher nannte man sie verächtlich Knastweiber. Heute zieht der Mann in den Krieg, wird getötet, die Frau kriegt eine Rente, extra Kindergeld, einen Haufen Geld. Und schon ist sie eine gute Partie.“
Der Studienautor weist darauf hin, dass die Kriegsheimkehrer generell als neue soziale Schicht gelten. Und das, obwohl keiner der Befragten von persönlichen Erfahrungen im Umgang mit ihnen berichtete, weder positiv noch negativ. Die bestehenden Befürchtungen seien wahrscheinlich auf Nachrichten zurückzuführen, die die Leute in den Medien und sozialen Netzwerken sehen.
An den Antworten auf die Frage, was der Staat nach Kriegsende gewährleisten müsse, sehe man außerdem: In erster Linie sollten sich die Behörden sich um die Integration der Kriegsheimkehrer kümmern. Gefragt seien vor allem psychologische Unterstützung für Soldaten und ihre Familienmitglieder, ihre Integration in den Arbeitsmarkt und Rehabilitationsangebote.
Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala
„DIE MENSCHEN KÖNNEN DIE REALITÄT, IN DER SIE LEBEN, NICHT AKZEPTIEREN“
Frage: Welche Perspektiven eröffnen sich nach Kriegsende für Sie und Ihre Angehörigen?
In der Befragung ging es an keiner Stelle darum, ob der Krieg mit einem Sieg oder einer Niederlage für Russland enden würde oder sollte. Dennoch zeichnete sich ab, dass diejenigen Befragten, die dieses Thema überhaupt in ihren Antworten aufgriffen, ausschließlich von einem Sieg Russlands sprachen. Sie gehen aber auch davon aus, dass ein Sieg Russlands den Hass anderer Länder hervorrufen könne.
Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen:
„Das war ganz richtig formuliert: Wir sagen ‚nach der SWO‘ und meinen damit, dass wir siegen und das alle akzeptieren. Dass die Sanktionen vorbei sind, zumindest die meisten. Und dass wir wieder reisen können, dazu müssen auch etliche Sanktionen weg, sonst kriegen wir kein Schengenvisum, zumindest nicht als normale Staatsbürger. Wenn es in diese Richtung geht, dann ist hoffentlich Aussicht auf Freiheit. Weiß’ nicht, ob es Instagram wieder geben wird, aber YouTube wäre schon gut. Ich will Freiheit.“
„Ideal wäre: Wir siegen, und alle freuen sich darüber. Ich weiß ja, dass sich keiner freuen wird. Weil die besiegte Partei sich nicht freuen kann, und das sind leider alle, mit denen wir so gern wieder Friede-Freude-Eierkuchen machen würden. Sie werden zwar aufhören, diese ganzen Sachen über uns zu schreiben, werden die Sanktionen aufheben und wieder unsere Ressourcen nutzen und Handelsbeziehungen aufnehmen, aber verzeihen werden sie uns nicht.“
Obwohl es vor allem um Persönliches ging, kamen die Befragten in ihren Überlegungen immer wieder auf Perspektiven zu Russland und seiner Gesellschaft im Ganzen zu sprechen. Der Sozialpsychologe vermutet dahinter ein Streben nach Gemeinsamkeit. Und obwohl die Frage auf positive Entwicklungen abzielte, sprach rund ein Viertel der Befragten auch über negative Konsequenzen. Offenbar haben diese Menschen Schwierigkeiten damit, die Realität, in der sie leben, zu akzeptieren.
„In der Psychologie gibt es den Begriff der Selbstidentifikation“, so der Wissenschaftler. „Wenn ein Mensch sich nicht mit der Umgebung, mit der Situation um sich herum identifizieren kann, dann sieht er Dinge eher negativ. Das heißt, es geht ihm schlecht, weil er sich in diesem Kontext nicht wiederfindet. Das heißt nicht, dass solche Leute nichts tun oder nicht arbeiten, nein, sie leben ganz normal, haben Arbeit, haben Geld. Das sind keine gescheiterten Existenzen. Aber auf emotionaler Ebene haben sie es schwer.“
Unternehmerin, 60, Oblast Irkutsk:
„Positive Perspektiven sehe ich überhaupt keine. Na ja, vielleicht lassen die Sanktionen nach. Vielleicht können die Leute doch wieder ein bisschen in die Welt hinaus. Natürlich wünsche ich mir, dass die Grenzen wieder aufgehen, dass man wieder reisen kann, wieder in den Urlaub fahren … einfach in Ruhe leben. Das Leben ist sowieso kurz, und wenn man dann noch lauter Stress hat, bleibt gar nichts mehr davon übrig. Jeder Tag sollte einem Freude machen. Ich weiß ja nicht, meiner Meinung nach ist nichts Gutes in Sicht.“
BACK TO USSR
Frage: Was wird es in der Gesellschaft nach Kriegsende Neues geben, was es vorher nicht gab?
Etwa ein Drittel der Befragten glaubt, dass es in der Gesellschaft nichts Neues geben wird, rund 20 Prozent befürchten negative Veränderungen. Rund die Hälfte kann sich aber auch positive gesellschaftliche Veränderungen vorstellen. Genannt werden beispielsweise eine neue „patriotische“, „heroische“ Erinnerungskultur, neue Werte abseits von materiellen Zielen und „Raffgier”.
Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen:
„Was Neues – das klingt, als ob es was Gutes sein müsste. Na ja, wahrscheinlich ziehen sie irgendwann die Schrauben an. Sagen darf man nichts, Versammlungen und Demonstrationen verboten. Irgendwas werden sie sich bestimmt einfallen lassen und uns allen Zügel anlegen, damit wir nicht Reißaus nehmen, sobald die Grenzen aufgehen.“
Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:
„Ich hoffe, dass die Männer, die von dort [von der Front – dek] zurückkommen, neue Werte mitbringen. Auch was Gutes, nicht nur Negatives. Was hat die heutige Gesellschaft denn für Werte? Immer nur das scheiß Geld. Überall Geld, Geld, Geld. Schön wär’s, wenn es auch andere Werte gäbe, ich weiß nicht … Vielleicht eine Art Gleichheit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit. Wahrheit, endlich mal.“
Rentnerin, 65, Kaukasus:
„Was Neues … Ich glaube, in der Kindererziehung wird das Gewissen eine größere Rolle spielen. Unsere Kinder werden mehr auf ihr Gewissen hören. Wir kämpfen ja gegen den Faschismus, nicht? Es wird keine Hakenkreuze mehr geben, auch nicht mehr diese schrecklichen Filme, die müssen einfach aus unserem Leben verschwinden, dann wird alles anders.“
Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen:
„Ein Aufschwung des Patriotismus, mehr Zusammenhalt. Weil wir ja wirklich in der Sowjetunion ein Riesenland hatten, wir waren echt tüchtig, die Ersten im Weltall, aber nach dem Zerfall kam erstmal sehr lange nichts. Jetzt kann das, wie es aussieht, wiederkommen, an den Schulen wird schon Patriotismus unterrichtet.“
Bei ihren Überlegungen zu Werten sprechen Teilnehmer verschiedenen Alters über die Sowjetunion wie über ein Land, in dem sie gelebt haben. Sie idealisierten die Sowjetzeit mit ihrer „richtigen Ideologie“ und ihrem „richtigen Umgang mit Menschen“: „Bemerkenswert ist, dass auch Jugendliche so reden“, sagt der Forscher. „Allerdings halte ich das für einen Informationseffekt. Also, das sind Sachen, die viele sagen und die auf Social Media verbreitet werden. Und so hört und liest das alles auch die Jugend und nimmt es auf wie ein Märchen, an das zu glauben schön und beruhigend ist.“
„POTENZIAL FÜR DIE ARBEIT AN DER GESELLSCHAFT“
Frage: Wie müssen sich die Menschen nach dem Krieg verändern? In welche Richtung müssen die Regierung, die Wirtschaft gehen?
Auch auf diese Frage hin sprachen die Teilnehmenden von „Wertewandel“, darüber, dass die Menschen kollektive Verbesserungen anstreben müssten und nicht nur persönlichen Reichtum. Sie sollten warmherziger und mitfühlender sein. Laut dem Autor der Studie sei diese Sehnsucht nach Miteinander in der russischen Gesellschaft bereits vor rund zehn Jahren aufgekommen: „Das war natürlich noch ein schwaches Stimmchen, wenn man so will, aber es war schon vor der ‚SWO‘ da. Es kann eben sein, dass die ‚SWO‘ diesem Kollektivdenken, der Zusammengehörigkeit mehr Schwung verliehen hat.“
Unternehmerin, 61, Sankt Petersburg:
„Die Menschen müssen zu 100 Prozent freundlicher werden. Humaner, auch zu den besiegten Feinden. Ich finde diesen Tanz auf den Knochen widerlich, dieses ‚Ätsch-bätsch, sie haben verloren!‘, verstehst du? Man kann ja trotzdem nett sein.“
Außerdem sind in den Antworten auf diese Frage zum ersten Mal auch jene Russen erwähnt worden, die das Land verlassen haben.
NGO-Mitarbeiter, 36, Oblast Irkutsk:
„Ich finde, es gibt in der Gesellschaft widersprüchliche Signale. Einerseits hält ein Teil der Bevölkerung angesichts des gemeinsamen Problems umso besser zusammen. Da steckt Potenzial für die Arbeit an der Gesellschaft. Andererseits sehen wir eine Tendenz zur Spaltung, da manche das Land verlassen haben. Superbrutale, drakonische Maßnahmen vonseiten des Staates gab es nicht gegen sie. Ich glaube, wir müssen als Gesellschaft einfach einsehen, dass die Menschen eine Wahl haben, für die sie dann auch die Verantwortung tragen.“
Um einiges vielfältiger waren die Antworten auf den zweiten Teil der Frage – wie sich die Regierung ändern müsse. Zwei der Befragten sagten, sie könne bleiben wie sie ist, zwei andere bezweifelten das.
Hausfrau, 47, Krym:
„Oj, ich weiß gar nicht, wie sich die Regierung ändern sollte und ob überhaupt. Ich hab in meinem Leben so viele Machtwechsel erlebt, dass ich heute finde – besser bleibt alles beim Alten.“
Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:
„Die Regierung muss sich grundlegend ändern, weil sie es war, die diese ‚SWO‘ zugelassen hat. Auf Kosten von Menschenleben wird der Krieg zu Ende gehen, und die Überlebenden müssen Entschädigung fordern. Damit so was nicht wieder passiert.“
Alle anderen Befragten nannten außerdem Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen: Ausbau von psychosozialen Diensten und Landwirtschaft, Aneignung von Territorien, Bekämpfung der Korruption, Milderung von Verboten und Beschränkungen, Verringerung von Kreditzinsen und so weiter.
Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala
„EINE INNERE KAMPFBEREITSCHAFT HABEN DIE LEUTE DEFINITIV NICHT“
Ziel der Befragung war es auch, Ressourcen und Motivation der Teilnehmenden zur Beteiligung am Wiederaufbau eines Lebens nach Kriegsende zu ermitteln. In Summe ergeben aber die erhaltenen Antworten, dass vor allem staatliche Ressourcen gefordert würden. „Damit sind nicht nur materielle Ressourcen gemeint, sondern auch organisatorische Ressourcen und Informationsstrukturen, auch moralische und emotionale Unterstützung“, sagt der Sozialpsychologe und Leiter der Befragungen. Die Teilnehmenden erwähnen oft psychologische Hilfe, die zur Stabilisierung der Gesellschaft, zur Versöhnung verschiedener Bevölkerungsgruppen und für die Arbeit mit Kriegsrückkehrern und ihren Angehörigen notwendig sei.
Rund 70 Prozent der Befragten rechnen mit positiven Veränderungen nach Kriegsende: „Sie sagten nicht direkt: ‚Wir haben diesen Krieg satt, wann ist er endlich vorbei‘, aber es war klar, dass alle schon auf den Frieden warten. Eine innere Kampfbereitschaft haben die Leute definitiv nicht.“
Oft erwähnten die Befragten gewünschten Werte wie Zusammenhalt, Kollektivdenken, Patriotismus. Die vorherrschende Stimmung sei allerdings ängstliche Besorgnis, weil keiner so recht wisse, wie das Leben nach dem Krieg wirklich aussehen könnte.