Die russische Rüstungsindustrie reißt sich um Mitarbeiter und ködert neues Personal mit üppigen Löhnen: 45.000 Rubel für einen Verladearbeiter in Kowrow, 50.000 für einen Schneiderlehrling in der russischen Stadt Iwanowo, wo Uniformen genäht werden – was nach wenig klingt (ein Euro entspricht derzeit etwa 90 Rubel), übersteigt deutlich das jeweilige regionale Medianeinkommen von 2021, und das für Jobs, die früher im Niedriglohnsektor angesiedelt waren. Vor allem Menschen in der russischen Provinz profitieren von dieser Entwicklung: Hier befinden sich traditionell viele Rüstungshersteller, außerdem waren die Jobchancen bislang schlechter als in den Großstädten.
Letzteres ist auch ein Grund, weshalb Rekruten aus den ärmeren Landesteilen stark überproportional in den Invasionstruppen an der Front vertreten sind. Den Sold überweisen sie an ihre Familien, zusammen mit den Kompensationszahlungen für die Gefallenen eröffnet der Kriegseinsatz eines Angehörigen ungeahnte Einkommensperspektiven. Nimmt man also die Lohnsteigerungen, Transferleistungen und die Kompensationszahlungen zusammen, dann ergibt sich für weite Teile der russischen Provinz ein zynisches Bild: Der Krieg wirkt sich wie ein massives Konjunkturprogramm für strukturschwache Regionen aus.
Im Hinblick auf die boomende Kriegswirtschaft kommt der Journalist Maxim Katz zu dem Schluss, dass sich Millionen Menschen in Russland derzeit in Goldenen Zeiten wähnen. Auf YouTube argumentiert er, dass sie als Kriegsgewinnler naturgemäß nicht an einem Ende der Aggression interessiert sind und dass sie auch nach dem Krieg in Nostalgie über diese beste Zeit ihres Lebens schwelgen werden.
Hier der YouTube-Beitrag in voller Länge mit englischen Untertiteln
Das Lenindenkmal in Ulan-Ude, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Burjatien August 2024 © Itar-Tass/ Imago
Es ist Zeit, dass wir uns einer paradoxen und unangenehmen Realität stellen: Millionen Menschen in Russland leben jetzt in diesem Moment ihr bestes Leben. Und dieses beste Leben steht im Zusammenhang mit dem Krieg. Wir hatten uns alle an eine Realität gewöhnt, in der Krieg eindeutig als Unglück und Problem wahrgenommen wird. Für die vorigen Generationen war das Afghanistan und Tschetschenien. Krieg ist ein Wort, das die finstersten Erinnerungen wachruft, wo ein Student nach vermasselter Abschlussprüfung ans Ende der Welt geschickt wird und im Zinksarg zurückkehrt.
Jetzt sehen wir etwas völlig anderes. Millionen Menschen werden sich in zehn oder fünfzehn Jahren, wenn es keinen Putin samt seinem Regime mehr gibt, an die Kriegszeit als etwas Gutes erinnern, denn in dieser Zeit begann plötzlich das gute Leben.
Bislang sieht alles so aus, dass für die russische Provinz, für Regionen, die von der Rüstungsproduktion abhängig sind, der Krieg die gleiche Bedeutung hat wie die 2000er Jahre für Moskau und andere Großstädte. Es war eine Zeit, in der das Leben nicht nur besser wurde, sondern um ein Vielfaches besser. Wenn wir uns über die Zukunft des Landes Gedanken machen, kommen wir an dieser Tatsache nicht vorbei.
Die Bewertung der Zeit hängt jeweils davon ab, mit wem Sie sprechen. Wenn Sie über die 1990er Jahre mit einem Unternehmer, einem Journalisten oder einem Vertreter der kreativen Branchen reden, dann werden Sie von einem tollen Russland der Vergangenheit hören, in dem aus Nichts Geld wurde, in dem man schreiben, filmen und zeichnen konnte, was man wollte, und das Wort Zensur als verstaubter Anachronismus anmutete. Doch wenn Sie mit einem Arbeiter des Waggonherstellers Uralwagonsawod sprechen, erzählt der Ihnen von Armut, Zerfall und den um ein halbes Jahr verzögert ausgezahlten Löhnen. Genauso unterschiedlich werden die Assoziationen mit der heutigen Zeit ausfallen.
Für einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft werden der späte Putinismus und der Krieg im Nachhinein eine Zeit der Angst sein, der Instabilität und eines galoppierenden Staatsidiotismus. Eine Zeit, in der man bei jeder offiziellen Stellungnahme des Präsidenten eine Flugticket-App aufhaben muss.
Aber für Millionen Menschen werden der späte Putin und der Krieg eine Zeit sein, in der sie nun endlich, endlich ein gutes Leben hatten, in der die Menschen nicht mehr Sonderangeboten hinterherjagten und penibel prüften, ob sie noch Geld auf der Karte hatten, sondern ins Restaurant gehen, ja ein Auto oder gar eine Wohnung kaufen konnten. Für Millionen Menschen wird der Krieg nicht nur als guter, sondern als höchst wünschenswertester Zustand des russischen Staates in Erinnerung bleiben. Und je länger der Krieg andauert, umso mehr Menschen auf die eine oder andere Art in dessen Fortführung involviert werden, umso größere Verbreitung wird diese Wahrnehmung in der Gesellschaft finden.
Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre bestand ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft aus Menschen, die sich aus ganz objektiven Gründen in Sowjetnostalgie ergingen. Alles Gute, was in ihrem Leben geschehen war, alles, was sie hatten, eine eigene Wohnung, einen Sechser-Shiguli, eine 600 Quadratmeter große Parzelle mit Datscha vor der Stadt, das hatten sie zu Sowjetzeiten erhalten, als die Fabriken noch in Betrieb waren und sie dort als Ingenieur arbeiteten und nicht auf ihre karge Rente warteten und sich als Parkplatzwächter etwas dazuverdienen mussten.
Wenn dieser Krieg vorbei ist, wenn Putin vorbei ist und etwas Zeit vergangen ist, werden wir Menschen begegnen, für die alles Gute in ihrem Leben – eine Wohnung mit günstigem Kredit, ein chinesischer SUV, Erinnerungen an einen Dubai- oder Türkeiurlaub – all das wird sämtlich aus den 2020er Jahren stammen, als das Land Krieg geführt hat.
Das Land wird aufgehört haben zu kämpfen und wieder wird weder die Arbeit einer Näherin in Iwanowo noch die eines Ingenieurs bei Uralwagonsawod gebraucht werden. Offiziell werden die Fabriken zwar existieren, aber dort zu arbeiten, ist ziemlich sinnlos. Die einst blühende Drohnenindustrie wird dann zu einer winzigen Branche geschrumpft sein.
Wenn wir über die Zukunft nachdenken, wenn wir diese Zukunft irgendwie gestalten wollen, muss uns eines klar sein: Genau das wird eine der wichtigsten Herausforderungen sein. Das ist Putins wichtigstes Erbe.
Wir brauchen keine Angst zu haben, dass der Krieg ewig dauert, dass Putin ihn noch 20 Jahre führen kann. Das kann er aus rein biologischen Gründen nicht. Selbst wenn er Glück hat, werden wir auf jeden Fall sowohl sein eigenes Ende als auch das Ende des von ihm geschaffenen Systems erleben. Doch auch noch zehn Jahre danach, und nochmal 20 oder 30 Jahre später, auf lange Jahrzehnte hinaus, wird es eine bedeutsame und aktive Minderheit geben, die ausreichend ist für eine durchaus beachtliche politische Volksvertretung. Denen wird man überhaupt nichts vorwerfen können. Sie haben den Krieg nicht begonnen. Sie haben niemanden umgebracht, doch für sie wird das politische Programm, das einen ständigen Krieg Russlands gegen den Westen für notwendig erklärt, mit der besten Zeit ihres Lebens assoziiert sein. Für sie ruft das Wort Krieg nicht die Vorstellung von Leichen hervor, sondern davon, dass in einer depressiven Provinzstadt, in der es weder ein normales Leben noch Perspektiven gab, plötzlich das eine wie auch das andere Einzug hielt. Die Menschen werden Krieg und Frieden vergleichen. Und aus ihrer Sicht wird letzterer eindeutig schlechter sein. Das ist nicht zu ändern.
Diesen Leuten kann man nichts vorwerfen. Und aus dem politischen Leben kann man sie nicht ausschließen. Es ist schlicht das Erbe, das Putin unweigerlich hinterlassen wird, und damit muss man sich abfinden und irgendwie arbeiten. Es wird unmöglich sein, diesen Bürgern zu erzählen, dass ein friedliches Leben für sie besser ist als Krieg, weil es für sie objektiv nicht stimmt. In gewissem Maße wird das wohl durch jene in der Waage gehalten, die tatsächlich im Krieg waren, für die Krieg bedeutet, dass Kanonenfutter auf Krücken zum Angriff stürmt und nicht darin besteht, in drei Schichten in der örtlichen Fabrik zu ackern.
Wenn wir nach Putins Tod mit den Bürgern reden wollen, müssen wir uns im Klaren sein, dass ein Ende seines Regimes und des Krieges für Millionen Menschen nicht eine Erlösung bedeutet, sondern eine Katastrophe, weil das gute Leben, das gerade erst begonnen hatte, wieder im Graben liegt und da nicht mehr herauskommen wird.
Wir müssen uns klar machen, dass es im Falle politischer Freiheit eine wahrlich nicht kleine Partei von Neoputinisten geben wird. Deren Programm wird fest auf der Vorstellung gründen, nicht die Sowjetzeit zurückzuholen, sondern eben den späten Putinismus. Diese Realität ist unangenehm, aber sie bedeutet eine wahre Herausforderung. Eine ein Vierteljahrhundert währende Herrschaft verschwindet nicht einfach spurlos. Auch bei uns nicht.