Während die ganze Welt aufmerksam den Personalmangel der ukrainischen Armee und die Schwierigkeiten der Mobilisierung in der Ukraine verfolgt, scheint Russland immer weiter Nachschub für seine Frontstellungen und Angriffe auf die Ukraine rekrutieren zu können.
Erklären kann man sich das einerseits durch das repressive Kreml-Regime, das keine Widerworte duldet, andererseits mit verlockend großen Geldsummen für die Kämpfenden und ihre Angehörigen. Der Postpravda-Autor Nikolai Karpizki sucht indes nach einer Erklärung in dem zugrundeliegenden Weltbild und der vorherrschenden Haltung zu Leben und Tod, speziell in entlegeneren und weniger privilegierten Regionen Russlands.
Karpizki ist Doktor der Philosophie und Religionswissenschaftler aus Tomsk (Sibirien), lehrte in Kyjiw und Charkiw, war seit 1995 Mitglied der Antikriegsbewegung. 2015 emigrierte er in die Ukraine, aktuell lebt und arbeitet er im ukrainischen Slowjansk (Oblast Donezk), das andauernd Ziel russischer Angriffe ist. Seine Forschungsschwerpunkte und Lebenserfahrungen schlagen sich in dem Meinungsstück zum Thema Krieg als Selbstzweck nieder.
Dieser Soldat trägt das Z-Symbol auf seiner Ausrüstung © SNA/ Imago
Im Jahr 2022 überwog noch die Erwartung, dass sich die russische Armee zurückziehen würde, wenn sie schweren Schaden erlitte. Das ist nicht passiert.
2024 erwartete man dann, dass den Russen wegen riesiger Verluste die kampffähigen Soldaten ausgehen würden. Auch das hat sich nicht erfüllt.
Nun heißt es: Russland bräuchte nach Beendigung der aktuellen Kampfhandlungen mehrere Jahre, um seine Armee für einen neuen Krieg zu erneuern. Auch das wird nicht der Fall sein. Russland wird bereit sein, Polen oder das Baltikum zu überfallen, sobald seine Streitkräfte in der Ukraine frei werden. Und die NATO hat dem bislang nichts entgegenzusetzen.
Das wirft Fragen auf:
Wie kann die russische Führung ohne Rücksicht auf Verluste ihre Soldaten verheizen?
Wo findet die russische Armee immer neue Vertragssoldaten, obwohl sie bekanntermaßen oft in selbstmörderische Angriffe geschickt werden?
Warum machen Russlands Soldaten keinen Aufstand oder ergeben sich in [ukrainische] Kriegsgefangenschaft?
Wieso steht die russische Gesellschaft den enormen militärischen Verlusten scheinbar so gleichgültig gegenüber und unterstützt weiterhin den Krieg?
Akzeptanz des sinnlosen Todes
Wir haben es hier mit einem einzigartigen historischen Phänomen zu tun: Die russische Gesellschaft unterstützt den Krieg gegen das Nachbarland auf Kosten rücksichtsloser Vernichtung ihrer eigenen Soldaten. Selbst Kranke und Verwundete werden in selbstmörderische Angriffe geschickt. Das ist nur möglich, weil es eine gesellschaftliche Akzeptanz für sinnlosen Tod gibt. So etwas gibt es sonst nirgendwo. Es kommt vor, dass eine Gesellschaft für einen Sieg zu riesigen Opfern bereit ist – doch das setzte die Vorstellung voraus, dass solch ein Tod nicht sinnlos ist.
Natürlich kann man das nicht verallgemeinern und alle Russen über einen Kamm scheren. Es gibt in Russland auch Menschen, die gegen den Krieg und für die Ukraine sind. Sie sind jedoch verstreut und bilden keine entscheidende gesellschaftliche Gruppe. Stattdessen bringt ein gesellschaftliches Einverständnis zum sinnlosen Sterben ein Kräfteverhältnis in der Gesellschaft hervor, das eine breite Unterstützung des Kriegs als Selbstzweck möglich macht: Krieg um des Krieges willen.
Für diese Akzeptanz gibt es meines Erachtens zwei Ursachen.
Der „Todesstaat“ – das soziale Antisystem in Russland
Die erste Ursache ist sozial-historischer Natur: Eine sehr treffende Erklärung finden wir bei dem russischen Historiker Dmitri „Sawromat“ Tschernyschewski, der mittlerweile im Exil lebt und in seinem YouTube-Kanal Total War & istorija seine Sicht auf Russland als Militärmacht beziehungsweise als „Imperium des Volksleidens“ darstellt. Um sich als Imperium zu bezeichnen, müsse ein Staat anderen gegenüber überlegen sein, meint Tschernyschewski. Schon das Moskauer Zarenreich sei vor allem in der rücksichtslosen Ausbeutung menschlicher Ressourcen überlegen gewesen. Die Haltung gegenüber der eigenen Bevölkerung als Verbrauchsmaterial zog sich durch die gesamte Geschichte Russlands. So konnten Kiegssiege durch Masse errungen werden, ohne dass man Rücksicht auf Verluste nehmen musste. Armut und Rechtlosigkeit sind notwendig, damit ein solches Staatssystem funktioniert.
Im heutigen Russland beobachten wir eine Wiedergeburt dieses brutalen Staatssystems, ja sogar die Mutation zu etwas Schlimmerem: einem „Todesstaat“ – oder „Antisystem“, wie Tschernyschewski den Begriff von Lew Gumiljow übernimmt. Dieses Antisystem fresse sich in Russland selbst hinein und führe letztlich zum Tod. Dies zeige sich unter anderem in der Ökonomie des Todes, wo Einnahmen aus Öl und Gas den pekunären Wohlstand für Familienangehörige der gefallenen Soldaten sichern. Dies schaffe eine starke soziale Basis zur Unterstützung des Regimes und seines Repressionsapparates – den so genannten Silowiki – und des Krieges.
Diese Unterstützergruppe ist rund zehnmal größer als die derjenigen, die aktiv gegen die Ukraine kämpfen. Auch die arme Bevölkerung in strukturschwachen Gebieten gehört dazu. Dort fließt durch den Krieg zum ersten Mal Geld. Für sie würde ein Kriegsende ein Ende des Geldflusses bedeuten und außerdem die Rückkehr vieler potenzieller Straftäter von der Front. Gerade diese Schicht garantiert den stetigen Zustrom von freiwilligen Kämpfern, die nicht nur wegen des Geldes einen Vertrag mit der Armee unterschreiben, sondern auch, weil sie darin die einzige Chance sehen, dem sozialen Abgrund zu entkommen. Und so sind keine Proteste in Russland möglich.
Laut dem bloggenden Historiker Tschernyschewski galten Soldaten in der Geschichte der russischen Armee stets als ersetzbares Verbrauchsmaterial. Im Antisystem des heutigen Russland kommt jedoch noch etwas hinzu: Die Entsendung von Soldaten in den Tod ist profitabel geworden. Denn Vertragssoldaten kommen mit Geld zum Militär. Man kann sie bestechen und gegen eine gewisse Summe im ungefährlicheren Hinterland einsetzen oder sie stattdessen in den Tod schicken, doch diesen Tod erst später melden und so womöglich selbst Geld kassieren.
Je häufiger die Truppen erneuert werden, desto mehr Möglichkeiten gibt es, an ihnen zu verdienen. So entsteht ein System, in dem die Armee zunächst ihre eigenen Soldaten und erst danach die Soldaten des Feindes eliminiert. Außerdem gibt es in der russischen Bevölkerung kaum Mitleid mit den Freiwilligen, das macht die Gesellschaft unempfindlich gegenüber militärischen Verlusten. Und für den Staat bedeutet der Tod von Soldaten an der Front niedrigere soziale Kosten. Denn Tote brauchen keine medizinische Versorgung und keine soziale Unterstützung.
Im Antisystem tauschen Gut und Böse die Plätze
Die zweite Ursache, warum der Krieg als Selbstzweck funktioniert, ist eine besondere Haltung zum Leben und dem Tod. Diese ist existenziell und gründet auf einem Weltbild, in dem alles, was geschieht, durch die Anwesenheit eines Feindes erklärt wird, der das Ur-Böse verkörpere. Für den Kampf gegen diesen Feind werden alle moralischen Beschränkungen aufgehoben. Jede gute Tat zu seinen Gunsten wird als schlecht betrachtet, und jede schlechte Handlung gegen den Feind als gut. So verkehren sich Wertevorstellungen in ihr Gegenteil – Amoralität wird zur Tugend, Gräuel werden zu Heldentaten.
Das daraus resultierende Weltbild hatte sich schon früher in zwei Varianten manifestiert, die in zwei unterschiedlichen emotionalen Zuständen ihren Ausdruck fanden: im Manichäismus und im Gnostizismus. Der Manichäismus ging von der Vorstellung aus, dass unsere helle Welt sich mit der Welt des Ur-Bösen vermischt hat und wir daher zum Kampf verdammt sind. Der Gnostizismus dagegen basierte auf der Vorstellung, dass unsere Welt durch einen Fehler oder den Willen eines bösen Gottes (der Demiurg) geschaffen wurde. Letztlich ist dann alles bedeutungslos, es gibt keinen Unterschied zwischen guten und bösen Taten und so ist es letztlich sinnlos, gegen das Böse zu kämpfen.
Es gibt keinen Unterschied zwischen guten und bösen Taten und so ist es letztlich sinnlos, gegen das Böse zu kämpfen
Auf Grundlage dieser beiden Weltanschauungen entstanden verschiedene Lehrmeinungen und religiöse Überzeugungen, die jedoch vor allem zu destruktiven Stimmungen führten innerhalb bereits bestehender Religionen – des Christentums und des Islam.
Im historischen Russland führte die rücksichtslose Haltung der Machthaber gegenüber der eigenen Bevölkerung zum Entstehen einer manichäischen Stimmung in der Orthodoxie. Ein Symptom dieser Stimmung war die Kirchenspaltung im 17. Jahrhundert aufgrund ritueller Diskrepanzen, die aus Sicht der griechischen Orthodoxie keiner Erwähnung wert waren. Doch in Russland führte die Heftigkeit des Schismas sogar zu kollektiven Selbstverbrennungen. Natürlich ging es dabei nicht nur um rituelle Diskrepanzen, sondern um die Wahrnehmung der Welt ringsum als fremd und feindselig.
Als dann die Bolschewiki ihren Kampf gegen die Religion entfachten, integrierten sie in ihre Doktrin des Klassenkampfes eine manichäische Grundhaltung. Sie sahen ihre Mission darin, die Welt von Ausbeutung, also vom Bösen, zu befreien und eine gerechte Gesellschaft zu errichten – das Reich des Guten. Moralische Pflichten galten nur gegenüber den der Arbeiterklasse Nahestehenden. Anderen gegenüber, den Feinden, war alles erlaubt – womit selbst die Stalinschen Massenrepressionen gerechtfertigt wurden.
Allerdings hat die kommunistische Ideologie zwei Seiten. Zum einen den rücksichtslosen Klassenkampf gegen Feinde und zum anderen die Utopie einer gerechten Gesellschaft, einer strahlenden Zukunft, der Eroberung des Weltraums, des Fortschritts. Doch mit der Ära des Ölwohlstands verlor der Klassenkampf an Bedeutung. Die Gesellschaft hatte sich in einen utopischen Traum eingelullt, als lebe sie im freiesten und menschenfreundlichsten Land der Welt – bis sie durch den Preissturz auf dem Ölmarkt unsanft aufgeweckt wurde.
Auch in Russland denken und fühlen die Menschen natürlich unterschiedlich. An dieser Stelle geht es jedoch um die aktuell vorherrschende Stimmung. Diese bestimmt die Ereignisse des gesellschaftlichen Lebens und sie entspricht einem gnostischen, nicht einem manichäischen Weltbild: Da alles bedeutungslos scheint, spielt es keine Rolle, ob wir Gutes oder Böses tun. Was bleibt, ist, diese Sinnlosigkeit des Lebens anzuerkennen und zu tun, was man will, und letztlich auch sinnlos zu sterben. Anders als in der Sowjetunion, wo die soziale Nekrophilie auf dem manichäischen Weltbild beruhte, ist sie heute in Russland durch das Gnostische ersetzt.
Der gnostische Fatalismus russischer Frontsoldaten
Aber wenn alles bedeutungslos ist, warum treten dann Menschen in die Armee ein, um gegen die Ukraine zu kämpfen? Stellen wir uns einen gewöhnlichen Menschen aus einer deprimierenden Gegend vor. Keine oder nur mies bezahlte Arbeit, zu Hause ständig Streit und Sorgen, und für die Gesellschaft ein Niemand, eine Leerstelle. Ein Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit. Am schwierigsten ist es, wenn man alle Kräfte aufbringen muss, um zu überleben, wenn doch alles sinnlos erscheint. Dann ist es einfacher, sich mit Alkohol oder Drogen zu betäuben. Ein solcher Zustand erstickt den Selbsterhaltungstrieb, der Tod wird nicht mehr als Übel wahrgenommen, denn der Unterschied zwischen Gute und Böse existiert nicht mehr. Je einfacher die Welt ist, desto weniger muss man sich anstrengen. So machen Krieg und Tod die Welt einfacher. Das ist die nekrophile Stimmung, die auf einem gnostischen Weltbild basiert.
Und einem solchen Menschen wird vorgeschlagen, in den Krieg in der Ukraine zu ziehen. Er akzeptiert ohne Widerrede die russische Propaganda als Wahrheit, obwohl ihm in Wirklichkeit egal ist, wer schuld ist am Krieg. Ihm geht es um etwas anderes – um die eigene Bedeutung und Straflosigkeit. Ihm wird versprochen, dass ihn alle, wenn er überlebt, als Veteran ehren würden. Einfacher ausgedrückt: Er kann alles tun, was er will. Und alle würden es wertschätzen. Aber um das zu erreichen, muss man bereit sein, zu töten und zu sterben. In der gnostischen Stimmung mit unterdrücktem Selbsterhaltungstrieb, wo es keinen Unterschied zwischen Gut und Böse gibt, ist es nun leicht, einen solchen Vorschlag anzunehmen. In Russland gibt es Millionen solcher Menschen. Daher wird der Zustrom von Freiwilligen in die russische Armee nicht enden.
Auch in der Sowjetunion gab es soziale Nekrophilie, allerdings anderer Art. Damals gingen die Menschen in den Krieg, um für eine Idee [den Sieg über den Faschismus – dek] zu töten und zu sterben. Im heutigen Russland – für die Möglichkeit zu tun, was immer man will. Wenn alles bedeutungslos ist, gibt es schließlich keine moralischen Zwänge mehr, nicht nur gegenüber Fremden, sondern auch den eigenen Leuten.
Ein ukrainischer Offizier nannte es „russischen Fatalismus“
Diese gnostische Art der sozialen Nekrophilie ist verknüpft mit einem gnostischen Fatalismus. Ein ukrainischer Offizier, den ich kenne, nannte es „russischen Fatalismus“. Er war zutiefst erschüttert von einem Kriegsvideo, das zwei russische Soldaten zeigte, die sich hinsetzten, um eine Zigarette zu rauchen. In diesem Moment wurde einem von ihnen der Kopf von einem Splitter abgerissen. Der andere zuckte nicht einmal und rauchte ruhig seine Zigarette weiter.
Es gibt verschiedene Arten von Fatalismus. Einmal den stoischen Fatalismus, wenn ein Mensch sein Schicksal akzeptiert, aber weiterhin ehrlich gemäß seiner vernünftigen Natur handelt und sich seiner Zugehörigkeit zum Weltgeist oder einem Gott bewusst ist. Nun haben wir es aber mit jenem gnostischen Fatalismus zu tun, bei dem der Mensch keinen Sinn im Leben sieht und sich mit seinem eigenen und dem Tod anderer abfindet. Und so zieht er in ein fremdes Land, um zu töten. Genau dieser Fatalismus führt dazu, dass russische Soldaten in sinnlosen Angriffen in den Tod gehen, anstatt sich gegen ihre Kommandeure aufzulehnen, die von ihrem Tod profitieren.
Wie ist die russische Armee aufzuhalten?
Die Geschichte wiederholt sich. Wenn Russland in Kriegen gewann, dann durch zahlenmäßige Überlegenheit, und wenn es verlor, dann aufgrund technologischer Rückständigkeit. Weder die Ukraine noch Europa haben und wollen so einen Mobilisierungsmechanismus wie Russland, um Menschen aus ärmeren Gebieten zu rekrutieren. Deswegen wird Russlands Armee zahlenmäßig überlegen bleiben. Natürlich ist die NATO technologisch wie taktisch fortschrittlicher und könnte im Falle eines Krieges enormen Schaden auf der russischen Seite verursachen. Was aber passiert, wenn diese besseren Waffen der NATO aufgebraucht sind und die russische Armee weiter mit neuen Freiwilligen kämpfen kann?
Es liegt auf der Hand, dass auf Grundlage der besonderen Art der russischen Kriegsführung neue militärische Strategien entwickelt werden müssen. Ich setze große Hoffnungen in die Entwicklung von Drohnen, Robotern und künstlicher Intelligenz – sodass die Soldaten an der Front zunehmend technisch ersetzt werden können. In diesem Fall könnte Russland seinen einzigen Vorteil gegenüber zivilisierten Ländern verlieren.
Und bis dahin muss der Ukraine dabei geholfen werden, diese gefährlichste Zeit zu überstehen und Europa vor einer russischen Invasion zu schützen.