Armenien hat sich in sehr kurzer Zeit, im Laufe von nur sechs Jahren, vom einzigen wirklichen Verbündeten Russlands im Südkaukasus zu einem Land entwickelt, das den Kreml als Bedrohung wahrnimmt. Moskau und Jerewan sind zwar weiterhin durch ein ganzes Paket von Verträgen miteinander verbunden, die in sehr vielen Bereichen die Zusammenarbeit regeln – doch das ist jetzt alles Geschichte. Noch entschließt sich keine der Seiten zu einer formalen Revision der Beziehungen, allerdings ist klar: So wie früher wird es nicht mehr sein. Blickt man zurück, kommt man nur schwerlich zu dem Schluss, dass der Ministerpräsident Armeniens Nikol Paschinjan eine systematische Abwendung von Russland vorangetrieben hat. Dennoch ist es nicht unwahrscheinlich, dass Moskau in naher Zukunft versuchen wird, ihn abzusetzen oder zumindest teilweise den eigenen Einfluss zurückzugewinnen.
Der Russische Präsident Wladimir Putin und der armenische Premierminister Nikol Paschinjan bei einem Treffen in Sotschi im Oktober 2022 © Sergej Bobylev/ SNA/ Imago
Die persönliche Chemie stimmt
Über die gesamte postsowjetische Geschichte Armeniens hinweg galt dessen Bündnistreue zu Russland als etwas existenziell Wichtiges, das keinem Zweifel unterliegt. In der ersten Phase des Karabach-Konfliktes ab 1988 hatte sich die Führung der UdSSR im Großen und Ganzen auf die Seite Aserbaidschans gestellt. Beispiel dafür ist die sogenannte Operation Ring (ru.: Kolzo), die im Frühjahr 1991 von Moskau geleitet und von Einheiten der sowjetischen Armee und Elitekämpfern des aserbaidschanischen Innenministeriums gemeinsam durchgeführt wurde. In der Folge wurden Tausende Armenier aus den Bezirken Schaumian und Geranboi vertrieben.
Nach der Auflösung der Sowjetunion fanden Moskau und Jerewan gleichwohl schnell eine gemeinsame Sprache. Mehr noch: Armenien war neben Tadschikistan eines der beiden Länder im postsowjetischen Raum, dessen Außengrenzen von russischen Grenztruppen gesichert wurden. Im Falle Tadschikistans ergab sich das durch die Bedrohungen aus Afghanistan. Bei Armenien spielten jeweils die Probleme mit dem Iran und der Türkei eine wichtige Rolle (die Grenze zu Georgien wurde von den Armeniern selbst geschützt, an der zu Aserbaidschan standen keine Grenztruppen, sondern Armeeeinheiten).
Während die russischen Einheiten bereits 2005 von der afghanisch-tadschikischen Grenze abgezogen wurden, ist russisches Militär seit 1992 bis heute in Armenien präsent. Neben dem Grenzschutz sind in Armenien auch rund 3.500 Angehörige der russischen Streitkräfte stationiert. In den Jahren der Unabhängigkeit hatte Armenien keinerlei Anstrengungen unternommen, die russische Militärbasis zu schließen oder auf den Einsatz der russischen Grenztruppen zu verzichten (eine Ausnahme ist der Flughafen Jerewan: Hier wurden die russischen Grenzschützer am 1. August 2024 abgezogen1).
Zum Vergleich: Der Abzug der russischen Truppen aus Georgien begann 2005 und wurde 2007 abgeschlossen. Aserbaidschan schloss die russische Radarstation in Gabala (aserb.: Qəbələ) 2012. Warum Armenien eine solche Loyalität an den Tag legte, liegt auf der Hand: Jerewan zählte darauf, dass ein militärischer Schutzschild Russlands helfen würde, eine aserbaidschanische Revanche für die Niederlage im ersten Karabach-Krieg abzuwehren.
Es gibt weitere Faktoren, die das russische Bündnis mit Jerewan einzigartig machen. Armenien ist das einzige Land in der Region, das der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) beigetreten ist. Im Oktober 2000, gleich nach dem Machtantritt Wladimir Putins, unterzeichneten die beiden Staaten eine Erklärung über Bündniszusammenarbeit. Armenien stand damals unter der Führung von Robert Kotscharjan, dem Begründer der Karabach-Bewegung, die für die Unabhängigkeit des Gebietes von Aserbaidschan kämpfte. Beide beschrieben ihr Verhältnis als freundschaftlich.
„Wir haben uns nie angelogen. Dieses Verhältnis war sehr aufrichtig, offen und direkt. Er und ich waren immer der Auffassung, dass man Probleme direkt ansprechen muss, um sie zu lösen und eine Einigung zu erreichen. Spannungen sollten nicht in die Öffentlichkeit getragen werden; auch wenn es immer Spannungen geben kann. Wenn man es in die Öffentlichkeit trägt, muss man dieser dann beweisen, wer Recht hat, und wer nicht. Und das erschwert die Suche nach realen Kompromissen“, erzählte Kotscharjan 2018 über seine Beziehungen zu Putin. „Ungefähr im zweiten Jahr der Zusammenarbeit habe ich gespürt, dass die Chemie zwischen uns irgendwie stimmt“.2
In jenen Jahren unter Kotscharjan entstand dann auch das propagandistische Klischee „Armenien ist Russlands Vorposten im Kaukasus“.
„Krym-Konsens“
2008 wurde Robert Kotscharjan von Sersh Sargsjan abgelöst, seinem Mitstreiter aus dem ersten Karabach-Krieg. Sargsjan war Verteidigungsminister der international nicht anerkannten Republik Bergkarabach (auch: Republik Arzach) und später dann Armeniens. Bemerkenswert ist, dass der Machtwechsel alles andere als reibungslos verlief: Lewon Ter-Petrosjan, der Präsidentschaftskandidat der Opposition, erkannte die Wahlergebnisse nicht an und rief seine Anhänger zu Demonstrationen auf. Die Proteste wurden von Einheiten der Armee niedergeschlagen. Acht Protestierende und zwei Soldaten kamen ums Leben. Und Nikol Paschinjan, ein junger Politiker und wichtiger Mitstreiter von Ter-Petrosjan, landete im Gefängnis.
Die Annäherung zwischen Moskau und Jerewan ging unterdessen weiter. Nach der Annexion der Krym war Sargsjan fast der einzige ausländische Staatsführer, der Putin wenigstens mit Worten unterstützte. „Die Gesprächspartner befassten sich mit der Situation, die sich nach dem Referendum auf der Krym ergeben hat, und konstatierten, dass dies ein weiteres Beispiel für die Umsetzung des Rechts der Völker darstellt, durch freie Willensbekundung ihre Selbstbestimmung zu verwirklichen“, erklärte der Pressedienst des armenischen Staatsführers anlässlich eines Telefongesprächs Putins mit Sargsjan am 19. März 2014.3
Es versteht sich, dass Sargsjan mit dieser Erklärung eigene Vorteile suchte: Wenn im Namen einer „historischen Gerechtigkeit“ die Grenzen der Ukraine verschoben werden können, kann man das Gleiche mit Aserbaidschan tun, also Bergkarabach offiziell aus dem Land herauslösen. Zuvor, 2007 war man in Jerewan wegen des „Präzedenzfalls Kosovo“ (der die russische Diplomatie so sehr empörte) begeistert gewesen. Armenien hatte die Republik Bergkarabach allerdings nie offiziell anerkannt: Das diente einem diplomatischen Spiel, das es ermöglichte, das Verhandlungsformat jahrelang beizubehalten.
Gleichzeitig arbeitete Russland intensiv an der Errichtung der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU), und Armenien war eines der fünf Länder, die ihr beitraten. Zudem war Russland der wichtigste Waffenlieferant Armeniens (der Anteil an den Lieferungen lag 2010 bis 2020 bei 94 Prozent); Moskau versuchte, nach Möglichkeit ein armenisches Kräftegleichgewicht zu Aserbaidschan aufrechtzuerhalten.
Nachdem Aserbaidschan 2016 erstmals versucht hatte, den eingefrorenen Karabach-Konflikt zu eskalieren, war es Moskau, das der armenischen Armee wieder auf die Beine half. Der Verteidigungshaushalt Aserbaidschans war allerdings ungleich größer. Und Baku hatte Möglichkeiten, andere Lieferanten zu finden. Diese Rolle übernahmen Israel und die Türkei.
Jemand, der nicht ernstgenommen wurde
Im Frühjahr 2018 startete Sersh Sargsjan ein Manöver, um auch nach Ablauf zweier Amtszeiten an der Macht bleiben zu können: Er ließ die Verfassung so umschreiben, dass Armenien aus einer präsidentiellen zu einer parlamentarischen Republik wurde. Die Regierungskoalition machte ihn umgehend zum Ministerpräsidenten mit den entsprechenden Machtbefugnissen. Doch der scheinbar raffinierte Plan schlug fehl. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung war so groß, dass Armenien von Protesten noch nie dagewesenen Ausmaßes erfasst wurde.
Der Oppositionsabgeordnete Nikol Paschinjan, der mit einem Rucksack auf dem Rücken zunächst Anführer der Proteste war und später Ministerpräsident wurde, war in Moskau weitgehend unbekannt. Noch weniger wusste man über sein Team, das aus ehemaligen demokratischen Aktivisten und Mitarbeitern von NGOs bestand. Armen Grigorjan etwa, der heute Sekretär des Sicherheitsrates ist, hatte zuvor bei Transparency International gearbeitet.4 Und der Parlamentspräsident und spätere Außenminister Ararat Mirsojan war Koordinator bei der International Foundation for Electoral Systems (IFES) und arbeitete beim Nederlands Institute for Multiparty Democracy (NIMD).
Als Oppositionspolitiker hatte Paschinjan den Beitritt Armeniens zur EAWU und allgemein den russischen Einfluss kritisiert. Lange bevor die russische Propaganda auf Paschinjan aufmerksam wurde, hatte der junge Politiker dazu aufgerufen, Dmitri Kisseljow, dem Fernsehmoderator und Generaldirektor der Medienholding RT (ehem. Russia Today), die Einreise nach Armenien zu verbieten.5 Anlass waren dessen scharfe Worte von einem „Verschwinden“ der russischen Sprache in Armenien gewesen (was nicht stimmte, da die meisten Armenier fließend Russisch sprechen) und von einer angeblichen Gefahr westlichen Einflusses.
Es überrascht nicht, dass die russische Propaganda, sobald sie sich mit der Biografie Paschinjans vertraut gemacht hatte, sehr aufmerksam wurde und ein militantes Klischee entwarf: „Armenien existiert allein dank der russischen Präsenz, wenn es sich distanzieren möchte – umso schlimmer für das Land“.6
Sobald er jedoch Ministerpräsident war, schaltete Paschinjan auf eine kremlfreundliche Rhetorik um. Sein erster Besuch in Russland erfolgte am 14. Mai 2018, nur eine Woche nach seiner Ernennung. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass es sich um den EAWU-Gipfel in Sotschi handelte, auf dem Paschinjan die jüngste Parade zum Tag des Sieges lobte und dem russischen Präsidenten für die Nichteinmischung in die Samtene Revolution 2018 in Armenien dankte.7
Als er Anfang 2019 ein weiteres Mal zu Besuch war, erklärte er seine veränderte Haltung zur EAWU auf recht interessante Weise: „Wenn wir damals [vor seinem Machtantritt – dek.] die Entscheidung für einen Beitritt für falsch hielten, bedeutet das nicht, dass man zur Korrektur dieses Fehlers direkt entgegengesetzte Schritte unternehmen muss“, sagte Paschinjan. „Als der ehemalige US-Präsident Barack Obama die Entscheidung von George Bush über den Einmarsch in den Irak für falsch befand, traf er eine genau entgegengesetzte Entscheidung. Und wir bekamen damit den Islamischen Staat.“8
Beim Thema Demokratie betonte Paschinjan ein ums andere Mal, dass das keine geopolitische (prowestliche), sondern eine wertebezogene Wahl sei. „Russland ist als europäische Kraft in unsere Region gekommen“, sagte er einmal in einem Interview für den Kommersant, wobei er sich beharrlich weigerte, eine Wahl zwischen West und Ost (also Moskau) zu treffen.9 Ein deutliches Kompliment an Putin war die Entsendung eines begrenzten Kontingents armenischer Soldaten nach Syrien – als Minenräumer.
Es gab allerdings auch negative Momente, die zwar aus weltpolitischer Sicht nicht allzu wichtig waren, für Wladimir Putin und seine Silowiki aber hochsensible Aspekte berührten. Da wären beispielsweise die Versuche, Robert Kotscharjan und Juri Chatschaturow, den Armeekommandeur, der unmittelbar für die Niederschlagung der Demonstration 2008 verantwortlich war, strafrechtlich zu belangen. Kotscharjan stand wie erwähnt Putin nahe, und Chatschaturow war zu dem Zeitpunkt Generalsekretär der OVKS. Keiner der beiden wurde letztlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, allerdings vor allem deshalb nicht, weil Moskau sich sehr gereizt zeigte.10 Es wurde ein heimlich mitgeschnittenes Gespräch armenischer Silowiki ins Internet geleakt, die klar darauf verweisen, dass „die Russen außer sich sind“.11
In Erwartung von Veränderungen
Als Paschinjan an die Macht kam, hatte Armenien bereits 24 Jahre Verhandlungen über eine Beilegung des Karabach-Konfliktes geführt. Seit 1992 trafen sich Vertreter Armeniens und Aserbaidschans regelmäßig in der sogenannten Minsk-Gruppe der OSZE unter Vorsitz Frankreichs, Russlands und der USA – ohne greifbare Erfolge hervorzubringen. Aserbaidschan forderte die Rückführung von sieben Landkreisen, die im Umkreis der ehemaligen [sowjetischen – dek] Autonomen Oblast Bergkarabach liegen: Erst dann könne der Status der Region erörtert werden. Diese Landkreise waren zwischen 1992 und 1994 erobert worden, um eine Verbindung zu Armenien herzustellen und die aserbaidschanische Artillerie auf Abstand zu halten. Rund 500.000 Aserbaidschaner, die dort lebten, wurden vertrieben. Die armenische Gesellschaft war mit einer Rückgabe kategorisch nicht einverstanden. Schließlich wäre die Republik Bergkarabach dadurch praktisch isoliert gewesen.
Russland war mit dieser Lage der Dinge durchaus zufrieden. Der Konflikt machte es Moskau möglich, die beiden Länder zu manipulieren. Und es schien, als würde diese Methode stets funktionieren. Das erstarkte Aserbaidschan war dagegen; es plante wohl seit längerem eine militärische Lösung, wahrscheinlich noch vor dem Machtantritt Paschinjans.
Die Samtene Revolution in Armenien machte Baku Mut. Man hoffte dort, dass der Machtantritt einer neuen Generation armenischer Politiker es ermöglicht, die Haltung zur Vergangenheit zu revidieren und die armenische Gesellschaft zu Zugeständnissen zu zwingen. „Die Regierung Armeniens ist in Aserbaidschan früher als eine Gruppe von Verbrechern bezeichnet worden. Jetzt sagen die Menschen auf den Straßen Jerewans das Gleiche“, schrieben die Medien in Baku hämisch.
Das war allerdings ein Irrtum: Dass die Bevölkerung in Armenien die damalige Regierung hasste, weil sie korrupt und Moskau gegenüber servil war sowie autoritäre Anwandlungen zeigte, bedeutete keineswegs, dass die Menschen in der Karabach-Frage zu Zugeständnissen bereit waren.
Erwartung vs. Berechnung
In Jerewan hielt sich die irrationale Erwartung, dass der Status eines Moskauer Verbündeten es vor einem richtigen Krieg bewahren würde. Das stellte sich als verfehlt heraus. Aserbaidschan begann den zweiten Karabach-Krieg im September 2020 aufgrund einer klaren Kalkulation: Die ganze Welt war mit der Bekämpfung des Coronavirus beschäftigt, und in den USA standen Präsidentschaftswahlen an.
Nach Beginn der aserbaidschanischen Offensive rief Nikol Paschinjan immer wieder Putin an, damit dieser auf Baku Einfluss nimmt.12 Moskau organisierte sogar ein Außenministertreffen der verfeindeten Länder. Doch ein für den 10. Oktober vereinbarter Waffenstillstand wurde nicht eingehalten. Nach einem weiteren Monat schwerer Kämpfe endete der Krieg durch die Unterzeichnung eines trilateralen Abkommens zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland. Vor allem aber aufgrund der Einnahme von Schuscha (aserb.: Şuşa), dessen Eroberung das wichtigste Ziel Aserbaidschans war.
Aus Jerewan gab es daraufhin Vorwürfe an Moskau, weil die Russen Armenien bei der Verteidigung im Stich gelassen hatten. Allerdings war Russland dazu weder durch Verträge noch völkerrechtlich verpflichtet: Die umstrittenen Gebiete lagen außerhalb des armenischen Staatsgebietes und auch nicht im Zuständigkeitsbereich der OVKS.
Armenienfreundliche Haltung
Nach der Niederlage im Krieg kam es im Frühjahr und Sommer 2021 in Jerewan zu heftigen Demonstrationen, und die Regierung Paschinjan hing am seidenen Faden. Moskau unternahm jedoch nichts, um Paschinjan gegen einen loyaleren Partner einzutauschen. „Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass die Umfragewerte für Paschinjan stark gesunken sind; gleichwohl sind sie höher als die irgendeines anderen armenischen Politikers“, berichteten russische Diplomaten dem Verfasser im Vertrauen.
Es gab aber einen weiteren Grund, an Paschinjan festzuhalten: Er hatte das trilaterale Abkommen zwischen Russland, Armenien und Aserbaidschan über die Einstellung der Kampfhandlungen unterzeichnet. Sein Rücktritt hätte die Legitimität des Dokuments in Frage gestellt.
Bemerkenswert ist auch, dass das Vorgehen des Kreml in jener Zeit eher den Interessen Armeniens, und nicht Aserbaidschans zugutekam. Nach dem zweiten Karabach-Krieg waren 2.000 russische Soldaten als sogenannte Friedenstruppen in Karabach stationiert worden. Es war in Moskaus Interesse, sie dort so lang wie möglich zu lassen. Daher trat die russische Seite eher für eine „armenienfreundliche Variante“ eines zukünftigen Friedensvertrages ein, durch den der Status Karabachs unbestimmt bliebe.13 In diesem Fall würde eine endgültige Lösung der Frage zukünftigen Generationen überlassen.
Scheitern der Beziehungen
Der tatsächliche Anlass für Bruch zwischen Moskau und Jerewan war weniger die Karabach-Frage als die ausbleibende Reaktion aus Moskau auf das Vorgehen Aserbaidschans an der international anerkannten Grenze zu Armenien. Hier war Baku 2021 und 2022 mit einer „Präzisierung“ der Grenze beschäftigt. Dabei wurden neue Stellungen mitunter Hunderte Meter in armenisches Territorium hinein verlegt.
Die drastischsten Fälle ereigneten sich im Mai 2021 am Schwarzen See [arm.: Sewlitsch; aserb.: Qaragöl] und im September 2022 in der Gegend von Dshermuk. Dort lieferten sich die beiden Seiten mehrere Tage lang schwere Gefechte mit hunderten Gefallenen. Die Ereignisse wurden von Russland und der OVKS im Grunde ignoriert. Als Argument diente hier, dass es ja nicht zu einem größeren Einmarsch gekommen sei, sondern nur zu einem „Zwischenfall an der Grenze“, bei dem diese zwar verletzt worden sein könnte, doch nur unwesentlich. Die armenische Öffentlichkeit war schockiert. Sie hatte, wenn schon kein unmittelbares Eingreifen Moskaus, so doch wenigstens eine verbale Verurteilung Bakus erwartet.
Es war diese Enttäuschung durch einen früheren Verbündeten, die die armenische Regierung dazu bewegte, neue Alliierte zu suchen, während sie gleichzeitig sehr schmerzhafte Zugeständnisse machen musste. Der Wendepunkt war das Gipfeltreffen der Europäischen politischen Gemeinschaft in Prag im Oktober 2022, auf dem Paschinjan erstmals die territoriale Integrität Aserbaidschans anerkannte und eine Monitoring-Mission der EU an die Grenze einlud.
Die letzte Phase der Zerrüttung setzte mit dem Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine ein. Moskau warf sämtliche Ressourcen in sein Vorgehen gegen die Ukraine und geriet dadurch in eine Abhängigkeit von jenen Nachbarn, die es für die Umsetzung der Ziele seiner sogenannten militärischen Spezialoperation als wichtig erachtet hatte. Südlich des Kaukasus waren das die Türkei (über die ein beträchtlicher Teil der russischen grauen Im- und Exporte erfolgt) und Aserbaidschan, durch das Russland eine Festlandsverbindung nach Iran erlangen will (und zukünftig womöglich zu dessen Häfen am Indischen Ozean).
Daraufhin ging Baku zu einer Salamitaktik über: Zunächst wurde der Latschin-Korridor durch eine Gruppe vorgeblicher „Umweltaktivisten“ blockiert. Hinter der Aktion stand offensichtlich die Regierung in Baku. Im nächsten Schritt errichtete Aserbaidschan dort einen Grenzübergang, um im September 2023 schließlich das ganze Gebiet gewaltsam unter seine Kontrolle zu bringen.
Ein weiteres Opfer der militärischen Spezialoperation
Gemäß dem trilateralen Abkommen von 2020 sollte der Latschin-Korridor dauerhaft unter der Kontrolle russischer Friedentruppen bleiben. Moskau hatte es jedoch nicht eilig, dieses Recht durchzusetzen. Ein Einsatz von Gewalt gegen Bürger oder gar Soldaten Aserbaidschans durch russische Soldaten kam nicht in Frage: Das Abkommen sah das nicht vor, und eine Verletzung des Abkommens hätte die Beziehungen zu Baku ruiniert, das inzwischen ein sehr viel wichtigerer Partner war als Jerewan. Die Wut und Verzweiflung, die es daraufhin in Armenien gab, ist nachvollziehbar.
Der Krieg in der Ukraine führte zudem dazu, dass Moskau aufhörte, seinen Verpflichtungen bei den Waffenlieferungen nachzukommen. Armenien erhielt nicht einmal jene Chargen, die bereits bezahlt waren.14 Daraufhin setzte Armenien seine Mitgliedschaft in der OVKS bis auf Weiteres aus und revidierte seine Bündnisbeziehungen zu Moskau.
Somit sind die armenisch-russischen Beziehungen zu einem weiteren Opfer der imperialen Ambitionen Moskaus geworden. Der negative Trend im Dialog zwischen Russland und Armenien wurde allerdings erst nach dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine 2022 eindeutig erkennbar.
Bis dahin hatte Moskau die Beziehungen zu Paschinjan offenbar als eine Art Experiment betrachtet: Schaffen wir es, einen Politiker mit einem prowestlichen Protest-Background umzudrehen? Zu einem glücklicheren historischen Augenblick hätte die Rechnung aufgehen können. Aber in dieser Zeit, in der sich Paschinjan wiederfand, hätten sich die Dinge nur schwerlich anders entwickeln können: Aserbaidschan hätte wohl in jedem Fall Krieg geführt, und Russland hätte wohl in jedem Fall auf diese Weise darauf reagiert, indem es nämlich die Erwartungen Jerewans ins Leere laufen lässt. Im Ergebnis währte die ewige Freundschaft zwischen Armenien und Russland bis zu dem Moment, da Moskau glaubte, geopolitische Entscheidungen treffen zu müssen.
Paschinjan steht für Moskau jetzt wohl in einer Reihe mit dem ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili, dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky und der Präsidenten der Republik Moldau, Maia Sandu. Seitdem sich auch Aserbaidschan zunehmend von Moskau abwendet, wird die Lage für den Kreml noch komplizierter: Bislang hatte es Moskau mit einer vielfach kolportierten Absetzung Paschinjans offenbar nicht eilig. Mit dem Verlust der Vormachtstellung im Südkaukasus stellt sich für den Kreml jedoch wohl vermehrt die Frage, wie er seine imperialen Ambitionen in der „Zone privilegierter Interessen“ untermauern kann.
Mit dieser Aufgabe ist Sergej Kirijenko betraut, ein erfahrener Kremlbeamter, der sich intensiv mit der politischen Umgestaltung der von Russland besetzten Gebiete in der Ukraine beschäftigt und auch die Verantwortung für Abchasien trägt.
Derweil fordern westliche Politiker, die historische Gelegenheit zu nutzen, um eine Emanzipation Armeniens aus dem Orbit Moskaus zu fördern. „Ein großer Teil der armenischen Bevölkerung will sich noch weiter von Russland entfernen. Und wir schaffen die Bedingungen dafür, dass dies Wirklichkeit wird“, sagte James O’Brian, der Referatsleiter Europa und Eurasien des US-amerikanischen Außenministeriums, Ende Juli 2024 bei einer Anhörung im Senat.15 Im Juni 2025 erschienen die Meldungen, dass das neue Trump-Kabinett an einer friedlichen Lösung zwischen Armenien und Aserbaidschan interessiert ist, im Austausch für zukünftige Vorteile für amerikanische Unternehmen.16
Das Thema der europäischen Integration ist ein wichtiger Teil der Erzählungen der armenischen Behörden, und je näher die Parlamentswahlen rücken, desto mehr wird darüber gesprochen. Es ist jedoch schwierig, in diesem Zusammenhang realistische und gleichzeitig wählermotivierende Versprechen zu machen. Erwähnungen von „bedeutenden Fortschritten in der Partnerschaft zwischen Armenien und der EU auf der Grundlage eines Bekenntnisses zu gemeinsamen Werten“ werden den Politikern kaum Unterstützung bringen, und echte Veränderungen (z. B. Visaliberalisierung) werden in absehbarer Zeit wohl kaum erreicht werden. Dennoch halten Jerewan und Brüssel regelmäßige Treffen des Partnerschaftsausschusses Armenien-EU ab, bei denen sie die Verteilung der 270 Millionen Euro erörtern, die im Rahmen des „Programms für Nachhaltigkeit und Wachstum“ für 2024-2027 bereitgestellt werden. Obwohl es sich nicht um die größte Summe handelt, hilft sie der armenischen Regierung, die Kosten für Dinge wie die Unterbringung von Flüchtlingen aus Karabach oder Reformen zu tragen.