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Kultur und Krieg für Kinder

Als der Begriff „Putinjugend“ 2001 in russischen Medien aufkam, klang es nach einer maßlosen Übertreibung. Gemeint war die Organisation Iduschtschije Wmeste, aus der 2005 die Naschi(„sten“) hervorgingen. Es folgten weitere regierungsfinanzierte Jugendorganisationen – die „patriotische Erziehung“ zielte dabei zunächst vor allem auf die Bejahung des russischen Staats und der Regierungspolitik. 

Das Feindbild eines arroganten und aggressiven Westens wurde mit den Jahren zunehmend zur wichtigsten Legitimationsgrundlage für das System Putin. Auch für die „patriotische Erziehung“ wurde das Feindbild Westen zentral. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine nimmt die Indoktrination noch mehr an Fahrt auf: Schulkinder im ganzen Land hissen montags die russische Flagge zu den Klängen der Nationalhymne und führen „Gespräche über wichtige Dinge“ – verpflichtende Unterrichtseinheiten, bei denen es um die „militärische Spezialoperation“ oder den „kollektiven Westen“ geht. In manchen russischen Kindergärten malen die Kleinen Schmetterlingsminen aus, in Kindermuseen gelten Soldatenfiguren als wichtigstes Spielzeug, auch in Kinderbuchverlagen landen gelegentlich Geschichten zum Thema Krieg auf dem Tisch.

Die Journalistin Lola Romanowa von The New Tab erklärt, wie bei russischen Kindern ein positives Bild des Krieges kultiviert wird und wie Verlage, Theater und Bildungseinrichtungen die Indoktrination vorantreiben.

Source The New Tab

„Ich werde glücklich sein, was auch immer kommen mag. Auch mit nur einem Bein! Ich werde jeden Tag glücklich sein, und nichts wird mich daran hindern können!“ Schauspieler Konstantin Selenski liest die Worte des Helden im Stück Radio-Pascha, eines Soldaten, der im Krieg ein Bein verloren hat. Die Premiere war am 13. November 2023 auf der kleinen Bühne des Jugend-Theaters TJuS in Sankt Petersburg. Es war eine Inszenierung des Theaters Kowtscheg (dt. Arche), ein „Theater für die ganze Familie“.

Das Stück Radio Pascha handelt davon, wie Pawel Lasarew aus Taganrog im Krieg in der Ukraine am Bein verletzt wird und es amputiert werden muss. In einem Sankt Petersburger Krankenhaus lernt er die Masseurin Ira kennen und erzählt ihr seine ganze Lebensgeschichte. Ira hat begonnen, mit Kriegsversehrten zu arbeiten, nachdem ihr Freund an die Front ging und sie vor der Kathedrale gebetet hat, dass er heil wieder zurückkommt – und sie dafür in der Zwischenzeit Soldaten hilft. „Gott segnet dich, und ich segne dich.“ Die Schauspielerin Ljudmila Manonina-Petrowitsch verhaspelt sich bei der Replik mit der Antwort des Priesters auf Iras Bitte um Segen. Dann tritt sie den Dienst im Krankenhaus an.

Die Farbwahl Rot hat damit zu tun, dass die Figuren „mit Blut arbeiten“

Das Stück beruht auf einer gleichnamigen autobiografischen Erzählung der Journalistin Irina Bugryschewa, die ehrenamtlich in Militärkrankenhäusern tätig war und dort Verletzte massiert hat. 
Der Saal ist restlos ausverkauft: In den ersten Reihen sitzen die Teenager aus der Junarmija, und wer keinen Sessel mehr ergattert, hockt auf einer Decke direkt vor der Bühne. Bugryschewa, eine nette Frau mit Kurzhaarschnitt, sitzt in ihrem langen roten Kleid ebenfalls in der ersten Reihe.

Drei Schauspielerinnen betreten die Bühne: Eine trägt rote Schuhe und Lippenstift im selben Farbton, eine andere einen roten Gürtel. Im Gespräch mit The New Tab erklärt Irina Bugryschewa diese Farbwahl damit, dass die Figuren „mit Blut arbeiten“. 
Der Oberstufenschüler, der die jüngeren Junarmisten beaufsichtigt, schielt auf seine Digitaluhr und dreht langsam sein rotes Barett in den Händen. Er horcht auf, als die Hauptfigur auf der Bühne über die Weihnachtsspiele im Krankenhaus witzelt: „Väterchen Frost war schon da. Ein feiner Kerl! Aber lieber wäre mir Schneeflöckchen im kurzen Rock gewesen!“ Der Junarmist lächelt verständnisvoll.

Bei der Inszenierung haben Irina Bugryschewas Kinder geholfen. Sie sind, wie sie sagt, seelisch darauf vorbereitet: Ihre 15-jährige Tochter besucht Verletzte im Krankenhaus, spielt für sie Gitarre und sorgt für „emotionale Entlastung“. Der jüngere Sohn geht in einen militär-patriotischen Club, in dem die Kinder Schützengraben-Lichter basteln, Tarnnetze knüpfen und Briefe an die Front schreiben. Er darf Pawel Lasarew als Kind spielen. Der Junge hat, wie Irina Bugryschewa erzählt, engen Kontakt zu den Kämpfern, denen sie Massagen gibt, weil sie sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus bei ihr zu Hause weiterbehandelt: „Danach trinkt er mit ihnen Tee. Goscha weiß, wie Männer ohne Beine aussehen, und er kennt die Prothesen, die bei uns im Flur stehen.“

Eine Frau bedauert, dass sie ihre Tochter nicht mitgenommen hat

Nach der Vorstellung hinkt der echte Pawel Lasarew auf die Bühne. Ihm folgt, mit Krücken, Dimitri Tereschenkow – der die Vorlage für die zweite Hauptperson in Bugryschewas Erzählung lieferte. Auch er lag, nachdem er im Krieg in der Ukraine ein Bein verloren hatte, in Sankt Petersburg im Krankenhaus. Mitte Oktober wurde er auf der Straße angegriffen, hörte: „Hey, Spezialmilitärler, komm her, ich brech dir das zweite Bein auch noch!“ Tereschenkow bedankt sich für das Stück und versichert, es mache ihm nichts aus, dass er ein Bein verloren habe. „Wir werden siegen“, sagt er zum Schluss. Der Saal applaudiert.

„Ein Held“, kommentiert ein Junarmist kurz bezüglich Pawel Lasarew, als ihn die Journalistin von The New Tab nach seiner Meinung zur Theateraufführung fragt. Eine Frau bedauert beim Hinausgehen, dass sie ihre Tochter nicht mitgenommen hat. Irina Bugryschewa findet, auf solche Veranstaltungen solle man Kinder im Vorhinein unbedingt vorbereiten. „Es genügt schon, wenn sie Samstagabend mit den Eltern in der Küche sitzen und Postkarten an einen lieben Frontsoldaten schreiben“, sagt sie zu Möglichkeiten der patriotischen Erziehung jener, die nicht so nah dran sind am Thema Krieg wie Junarmisten oder ihre beiden Kinder. 

Im Laufe des Stücks wird mehrmals wiederholt, dass die Kämpfer zu Hause freudig erwartet werden, auch ohne Arme und Beine: „Nichts ist umsonst, man kann auch ohne Beine leben und glücklich sein. Es ist ein anderes Leben, aber genauso glücklich, weil es echt ist. Ich wünsche mir, dass alle das Gefühl haben, eine große Familie zu sein, ganz Russland. Wir schaffen das“, spricht auf der Bühne die Schauspielerin Manonina Petrowitsch voller Überzeugung. 

Allerdings hat sogar die Autorin der zugrundeliegenden Erzählung einige Zweifel an der Einigkeit des Landes:

„Vonseiten Russlands, des Großen Russlands, war auf der anderen großen Bühne des Jugendtheaters TJuS Gouverneur Alexander Beglow anwesend und überreichte den Sankt Petersburger Theaterpreis Solotoi sofit. Für uns ist das paradox, denn während wir von Helden der Gegenwart erzählen, von Helden der militärischen Spezialoperation, bekommen andere, viel oberflächlichere, Stücke die Preise“, sagt Bugryschewa enttäuscht. „Bei uns weinen Helden der Spezialoperation im Publikum, da sitzen die Kinder aus den militär-patriotischen Clubs mit ihren Lehrern, die Tag und Nacht Tarnnetze für die Front knüpfen. Es ist das erste Stück über die Spezialoperation in der Oblast Leningrad, und dann geht es so unter. Keinen interessiert’s.“ 

Hefte über „Helden der militärischen Spezialoperation Russlands in der Ukraine“

Vom Heldenmut der Krieger in der militärischen Spezialoperation handelt auch Kinderliteratur, die in anderen Regionen Russlands geschrieben wird. Denis Kowalenko, Lehrer für Kunst und Literatur aus Lipezk, hat bereits vier Geschichten über den Krieg in der Ukraine veröffentlicht, in Kooperation mit einer Zeitschrift der Rosgwardija mit dem Titel Na bojewom postu (dt. Auf dem Posten). Zuvor, im Juni 2022, publizierte die Rosgwardija auf ihrer Website drei Comics über die Verteidigung der fiktiven Megapolis Dubrawa. Den Schutz der Bevölkerung gegen die Angreifer übernimmt darin die Lesgwardija – ein Kampftrupp vermenschlichter Tiere.

Interessant ist, dass diese Zeitschrift der Rosgwardija seit 2020 gemeinsam mit dem orthodoxen Verlag Duchownoje preobrashenije (dt. Geistige Verwandlung) unter dem Titel Bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment) eine Reihe patriotischer Erzählungen für Kinder herausgibt. Das sind schmale Heftchen über Helden des Ersten und Zweiten Weltkriegs, des Afghanistan-Kriegs und des Syrien-Konflikts – und 2023 kamen vier Hefte über „Helden der militärischen Spezialoperation Russlands in der Ukraine“ dazu. 

Eines der Exemplare heißt Alexander Potapow – Heldentot für Russland: Hauptsache, ihr lebt. Russlands militärische Spezialoperation in der Ukraine. Es spielt in der ukrainischen Stadt Isjum, die sich unter Kontrolle der russischen Streitkräfte befindet, und handelt von einer namenlosen 13-Jährigen und ihrem Vater. Er ist überzeugter Anhänger der ukrainischen Seite des Konflikts, während seine Tochter eine prorussische Position einnimmt und ihm zum Vorwurf macht, dass er nicht in den Krieg ziehe, sondern nur auf die Russen schimpft. „Sie versorgen uns kostenlos mit Brot, Nudeln und Konserven, sie meinen es gut mit uns“, beteuert das Mädchen. Als sie zum Einkaufen auf dem Markt unterwegs ist, beginnt ein Bombenangriff. Der Soldat Alexander Potapow wirft sich schützend auf sie, wird verletzt und stirbt im Lazarett. Der weitere Verlauf des Stücks erinnert an die sowjetische Geschichte von Pawel Morosow: Das Mädchen gesteht einem russischen Offizier, dass ihr Vater den Ukrainern am Telefon Tipps gibt und dass sie beobachtet hat, wie danach Raketen abgeschossen werden. Sie bringt den Offizier zu sich nach Hause.

Das Epigraph aus dem Evangelium erinnert daran, dass an der Publikation der Erzählung ein orthodoxer Verlag mitgewirkt hat: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“

Politische Tiermärchen: Bär, Wolf, Schakal und Hyäne

Die Comics der Rosgwardija sind nicht die einzigen Beispiele, in denen Kindern das Thema Krieg anhand von Tieren erklärt wird. 2022 wurde in Tscherkessk mit Unterstützung des Präsidentenfonds für Kulturinitiativen das Puppentheaterstück Wie der Bär den Wald vor den Wölfen beschützte aufgeführt. Vorlage war ein Märchen von Assja Bairamukowa aus Karatschai-Tscherkessien.

Die Handlung spielt auf den Krieg in der Ukraine an: Ein Schakal und eine Hyäne „aus Übersee“ reden den Wölfen ein, dass sie – die Wölfe – die Chefs im Wald seien. Daraufhin kündigen diese dem Bären die Freundschaft und überlegen, wie sie den Wald angreifen könnten. Der Bär spricht sie darauf an und erklärt den „Ehrlosen“, dass man sich so nicht verhalten dürfe. Die Wölfe sehen ihren Fehler ein und gehen nach Hause.

„Die Schakale sind in unserem Fall die Länder des Westens. Der Bär ist Russland, ein gutmütiges, starkes Land, das versucht, dem Westen Paroli zu bieten und für Benachteiligte einzustehen. Die Wölfe symbolisieren nicht nur die Ukraine, sondern im Licht der jüngsten Ereignisse auch jene Länder, die uns früher freundlich gesinnt waren, aber jetzt zweifeln und sich nicht festlegen können, ob sie zum Westen oder zu uns halten wollen“, erklärt ein Mitwirkender des Theaters, der nicht namentlich genannt werden will. Auf die Frage nach der Auswahl der Charaktere fügt er hinzu: „Putin ist Russland.“

Kinderbuchverlage stehen nicht im politischen Fokus – sie sind relativ frei von Ideologie

Laut Alexej Oleinikow, Schriftsteller und Chefredakteur der Zeitschrift Perepljot für Kinder- und Jugendliteratur, gibt es bisher nicht viele mit Kriegsideologie aufgeladene Texte für Kinder. Er meint, das könne daran liegen, dass sich der Staatsapparat selbst gegen das Geschehen wehre. Oleinikow findet, dass die Beamten zu wenig Position beziehen. Einerseits müsse man ihnen die Kriegsideologie aufzwingen, andererseits habe darauf kaum jemand Lust: „Vom Zustand des Friedens zur Vorstellung einer belagerten Festung übergehen – das wollen die Menschen nicht“, ist er überzeugt. „Alle wollen Stabilität und Ruhe.“ Alexej Oleinikow meint, wegen des „passiven Widerstands des Apparats“ und weil sie nicht im politischen Fokus stehe, sei die Kinderliteratur noch frei von Ideologie.

Er hält es für möglich, dass es in ein paar Jahren massenhaft Kinderliteratur zum Krieg in der Ukraine geben werde, wenn sich ein „typischer Held mit Wiedererkennungswert“ herausgebildet habe, der kampferprobt von der Front zurückkehre.

Dass solche Werke patriotische Gefühle auslösen können, bezweifelt Oleinikow. Mit Büchern allein kann man seiner Meinung nach das Weltbild eines Kindes nicht verändern, immerhin leben wir im Informationszeitalter, es gebe sehr viele und sehr unterschiedliche Quellen.

Dem Schriftsteller zufolge kommen immer wieder Erzählungen für Kinder in die Verlage, die in der Kampfzone spielen. Sie werden allerdings selten veröffentlicht. In der Regel, räumt Oleinikow ein, fürchten die Verlage um ihren guten Ruf und lehnen deshalb solche Texte ab. 

Soldatenfiguren als wichtigstes Spielzeug

An den Schulen wird das Thema Spezialoperation seit 2022 aktiv vorangetrieben. Im September 2023 wurde begonnen, das ABC über das Wichtige an die Schüler der Regionen zu verteilen, eine Broschüre des Fonds zur Entwicklung sozialer Initiativen. Jeder Buchstabe des Alphabets steht für ein „patriotisches Wort“. B wie Bruderschaft, zum Beispiel, dazu die Losung: Wir lassen die Unseren nicht im Stich!

Seit Beginn des Ukrainekriegs gibt es die Soldaten der Spezialoperation auch als Spielzeugsoldaten. Irina Metjolkina, die das Museum der Kindheit in Wologda gegründet hat, träumt davon, dass solche Spielsachen in den Schulen Verwendung finden. 

Am Tag der nationalen Einheit im November 2023 wurde in ihrem Museum unter dem Titel Was ist das wichtigste Spielzeug eine Ausstellung mit sowjetischem Kriegsspielzeug eröffnet, die vom Präsidentenfonds für Kulturinitiativen mit zwei Millionen Rubel gefördert wurde. Zu der Ausstellung kamen Sammler und Hersteller von Soldatenfiguren, auch denen der Spezialoperation.

Irina Metjolkina findet, das wichtigste Spielzeug seien eben Soldatenfiguren, das sei schon zu Sowjetzeiten bewiesen worden: „Die Jungen eigneten sich damit wichtige männliche Qualitäten wie Mut und Tapferkeit an. Sie eiferten ihren kleinen Verteidigern nach. Nicht umsonst gibt es die Ansicht, dass die Generation der 1930er Jahre unser Vaterland 1941 deswegen so gut verteidigen konnte, weil sie mit einer Menge Kriegsspielzeug aufgewachsen ist.“ Zwischen sowjetischem und heutigem Kriegsspielzeug bestehe trotzdem ein Unterschied, räumt sie ein: In der Sowjetunion gab es keine Gegnerfiguren, „um keinen Hass gegen andere Nationen zu schüren“.

„Knirpse aller Länder, entwaffnet euch!“

Einer der Hersteller von „Spezialoperations-Soldaten“, die in der Ausstellung zu sehen sind, ist das russische Studio WyZOV , das sich als „Front der Mobilisierungsminiatur“ präsentiert. Noch umfasst ihre Kollektion nur Mariupoler Marineinfanteristen und Hostomeler Fallschirmspringer. Der Journalistin von The New Tab gelang es, sich mit dem Studio in Verbindung zu setzen, eine Projektpräsentation zu bekommen und ein Telefongespräch zu vereinbaren, doch dann machte der Mitarbeiter namens Nikolaj mit der Begründung, er habe das erste Interview dem staatlichen Fernsehen versprochen, einen Rückzieher. 

In der Projektpräsentation wird die Frage aufgeworfen, ob die „Propaganda der Abrüstung“ Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre „Dummheit oder Verrat“ gewesen sei. Und es wird das Cover einer Ausgabe der Zeitschrift Ogonjok aus dem Jahr 1990 angeführt, auf dem das Foto eines Kindes auf dem Roten Platz in Moskau vor einem Tisch mit Flaggen verschiedener Länder zu sehen ist. Mit fetter roter Schrift steht darüber: „Knirpse aller Länder, entwaffnet euch!“ Der Schriftsteller Grigori Oster rief in diesem Ogonjok die sowjetischen Kinder dazu auf, ihr Kriegsspielzeug loszuwerden und einen „Vertrag über die kindliche Abrüstung“ zu unterzeichnen. Unter Osters Führung wurde das Zentrum „Abrüstung der Kinder“ ins Leben gerufen: Kinder schrieben Briefe und motivierten einander dazu, militärische Spielsachen wegzuwerfen. „Kanonen gibt es schon zu viele, wir wollen lieber schöne Spiele“, zitierte Ogonjok aus dem Brief eines Achtjährigen. 

„Das ist prowestliche Abrüstung“, sagt Irina Metjolkina. Sie hofft, dass Kriegsspielzeug bei Kindern wieder mehr Beliebtheit erlangt, sonst „wollen die Jungs nicht mehr zur Armee und ihr Vaterland verteidigen“.

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Pionierlager Artek

Das Pionierlager Artek auf der Krim war der Inbegriff einer glücklichen sowjetischen Kindheit. Das Lager wurde 1925 mit einigen Zelten am Strand eröffnet und diente zunächst als Sanatorium der Tuberkulosevorsorge. Von 1938 an wurde es zu einem ausgedehnten Komplex mit mehreren Teil-Lagern in einer malerischen, südlichen Landschaft am Ufer des Schwarzen Meeres in der Nähe von Hursuf ausgebaut. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde das Lager von der Ukraine weiterbetrieben und kam mit der Annexion der Krim wieder unter russische Verwaltung.

Das Lager war jedermann in der Sowjetunion ein Begriff. Die „Mutter aller Pionierlager“ lieferte ikonische Bilder von Kindern in weißen Pionierhütchen mit Zypressen und blauem Meer im Hintergrund. Das Vorzeigelager wurde in zahlreichen großzügig bebilderten Publikationen vorgestellt, es erschien auf den ersten Seiten der Russischlehrbücher und in Pionierkalendern als Traumland und Wunschziel.1

 

In der Propaganda des revolutionären Russland wurden Kinder als Träger der Utopie von der gerechten sozialistischen Gesellschaft verehrt. Bereits 1922 wurde die Organisation der Jungen Pioniere als Zweig des Komsomol für die 10 bis 15-Jährigen gegründet. Sie übernahm zahlreiche Elemente der Pfadfinderorganisationen: die Losung „Wsegda gotow!“ (dt: „Allzeit bereit!“), die Uniform und die roten Halstücher, die militärisch inspirierte hierarchische Einteilung in Gruppen und Abteilungen (sogenannte drushiny und otrjady). Ab Mitte der 1930er Jahre wurde dann die „glückliche Kindheit“ ein wesentlicher Teil der stalinistischen Kultur und Propaganda, die Organisation von Sommerlagern für Kinder – ähnlich denen der westlichen Lebensreformbewegungen2 –  sollten zur Vermittlung dieses Glücksgefühls maßgeblich beitragen.

Artek als Modell sowjetischer Sommerlager

Artek war anfangs elitär, hierhin reisten nur die verdientesten Pioniere und die Kinder der Eliten für einen drei- oder sechswöchigen Sommeraufenthalt. Bereits in der Stalinzeit wurden auch Kinder ausländischer Parteieliten nach Artek eingeladen.3 Zwischen 1960 und 1964 wurde das Lager völlig umgestaltet und auf 4000–5000 Plätze erweitert. Dafür wurden eigens Fertigbauteile in einem Baukastensystem entwickelt.4 Die filigranen Bettenhäuser aus Aluminium und Glas, die in ihrer Form an Schiffe erinnerten, sollten Schutz vor Wind und Wetter bieten, zugleich aber durch Veranden und offene Seiten dem Gedanken der Freiluftkultur Rechnung tragen.

Nach dem Ausbau konnten jeden Sommer während vier Monatslagern insgesamt 20.000 Kinder ihre Ferien in Artek verbringen.5 Es gab eine eigene Schule, ein Krankenhaus und olympiagerechte Sportanlagen. Sogar eine Kosmonautik-Ausstellung entstand – auf Anregung Juri Gagarins, der das Lager regelmäßig besuchte.

Die Gebäude des Sommerlagers Artek aus der Luft – Foto © Viktor Budan/ ITAR TASS Archive

Pionierbewegung: damals und heute

Generell wurden Pionierlager meistens in den Grüngürteln rund um die sozialistischen Industriestädte angelegt. Die „einfachen“ Pionierlager, die von Betrieben und Organisationen für die Kinder ihrer Angestellten organisiert wurden, eiferten im sozialistischen Wettbewerb dem Vorbild Artek nach. Mit dem Ausbau der Pionierbewegung zur erzieherisch orientierten Massenorganisation in den 60er Jahren wuchs die Zahl der Pionierlager für Kinder der „nicht-elitären“ Sowjetbürger. Es hieß, 1976 würden eine halbe Million Moskauer Kinder den Sommer im Lager verbringen.6 Aus dem Privileg für Wenige wurde damit ein Erlebnis, an dem breitere Kreise teilhatten.

Aus dem Album des Pionierlagers Zoi Kosmodemjanskoi in der Region Cheljabinsk in den 60er Jahren – Foto © Monica Rüthers

Die Tagesabläufe waren weitgehend festgelegt und mussten sowohl von den Pionieren selbst als auch vom Personal, das hauptsächlich aus Freiwilligen bestand, strikt eingehalten werden. Jeder Tag begann mit dem Hissen der Flagge und endete mit ihrem Einholen. Deswegen war das Zentrum jedes Pionierlagers der Appell- oder Aufmarschplatz, der eine Fahnenstange haben musste.

In einer Broschüre aus den 70er Jahren, die Empfehlung und Vorschriften für die Durchführung von Sommerlagern gibt7, wird neben der politischen Erziehung gefordert, die Pioniere sollten in nahegelegenen Kolchosen helfen, Beeren pflücken, Heilkräuter sammeln und die Natur schützen. Das Stichwort lautete „vernünftige Erholung“ (rasumny otdych). Dazu gehörte neben der körperlichen Ertüchtigung die Förderung technischer Fähigkeiten in verschiedenen Zirkeln. Als Anreiz und Belohnung winkten Ehren: Die Besten wurden mit der Lagerflagge oder am Lagerdenkmal fotografiert, durften die Fahne hissen, bekamen Diplome und Abzeichen verliehen. Neben diesem straffen Programm gab es jedoch auch Freiräume, mehrtägige Ausflüge mit dem Zelt und abendliche Lagerfeuer.

 

Kinder im Pionierlager Artek, aufgenommen im Jahr 1987. / Foto © Nikolai Malyshev, Alexander Chumichev/ITAR-TASS/imago images

Bis heute ist es in Russland üblich, dass Kinder im Schulalter ihre Sommermonate ohne die Eltern in organisierten Lagern verbringen, in denen nun verschiedenste Aktivitäten von Sport über Theater bis hin zu Programmierkursen angeboten werden.

Sowjetische Retro-Utopie als Kriegsdividende

Nach 1991 bestand das Lager erfolgreich weiter, pflegte den internationalen Schüleraustausch und nahm an pädagogischen Wettbewerben teil. Ab Mitte der 2000er Jahre wurde die staatliche Unterstützung gekürzt, und Artek geriet in finanzielle Schwierigkeiten. Und nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 wurde Artek sogleich unter die Schirmherrschaft des russischen Bildungs- und Forschungsministeriums und des russischen Präsidenten gestellt. In die Rekonstruktion flossen seither insgesamt 21 Milliarden Rubel.8

Während der Sowjetzeit waren die Pionierlager als „Orte der glücklichen Kindheit“ Teil einer mythisch überhöhten Landschaft, in der die Kinder schon in der Zukunft lebten. Heute gehört das Modell-Lager Artek zum Kanon der staatlich geförderten Sowjetnostalgie.

In der russischen Propaganda wurde der Ukraine vorgeworfen, sie habe das Wahrzeichen Artek dem Zerfall preisgegeben. Putin trat als Retter der glücklichen Kindheit auf. Zugleich schuf er retro-Utopien der Stalinzeit. Denn Artek war wie auch die Moskauer Ausstellung sowjetischer Errungenschaften WDNCh mit ihren Republik-Pavillons (1939) oder der Park für Kultur und Erholung names Gorki (1928) eine der gebauten stalinistischen Utopien. All diese von Michail Ryklin so treffend als „Räume des Jubels“9 beschriebenen Themenpärke wurden unter Putin aufwändig restauriert. Dabei war es besonders praktisch, dass das berühmte Ferienlager auf der paradiesischen wiedergewonnenen Krim lag. Die „Rettung“ und Wiedererstehung Arteks konnte als Rechtfertigung und Hauptgewinn der Angliederung beworben werden.

Nach Artek kamen nun vor allem russische Kinder. Alljährlich finden in Russland leistungsorientierte Wettbewerbe um die begehrten Feriengutscheine für die 15 jeweils 21 Tage dauernden Aufenthalte statt. Mit der Annexion kam auch die Politik nach Artek. Der Tag beginnt mit dem Hissen von drei Flaggen – Russland, Krim und Artek – und dem Abspielen von drei Hymnen. Bereits 2020 beklagte die ukrainische Vertretung in der Autonomen Republik Krim die Militarisierung des Lagers und die Allgegenwart russischer Propaganda in Form von Zeichnungen zu Ehren des Russland-Tages, Tänzen zu Ehren des Flaggentages oder Liedern zu Ehren des Tages des Sieges.10 In Zusammenarbeit mit der 2016 gegründeten russischen paramilitärischen Kinder- und Jugendbewegung Junarmija finden in Artek regelmäßig „Jungkämpferkurse“ statt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 schreiben die Kinder während der Ferienaufenthalte in Artek Briefe an die Teilnehmer der so genannten „Spezialoperation“ und schicken Pakete in den Donbass. Seit Juli 2022 werden ukrainische Kinder aus russisch besetzten Gebieten hierher gebracht. Aus diesem Grund verhängten das Vereinigte Königreich und später die USA Sanktionen gegen Artek und seine Leiter.11

 

„Am warmen Meer – sowjetischer Dokumentarfilm von 1940 über das Sommerlager Artek auf der Krim.

1.Winkelmann, Arne (2004): Das Pionierlager Artek: Realität und Utopie in der sowjetischen Architektur der sechziger Jahre, Dissertation, Universität Weimar, S. 39 und Winkelmann, Arne (2000): Typologie der Ferienstadt: Das Pionierlager Artek auf der Krim, in: Bauwelt 91/16, S. 12-19
2.Das „Lager“ oder die „Fahrt“ waren feste Begriffe in allen europäischen Jugendbewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Deutlich sind die Anklänge an Jean Jacques Rousseaus (1712–1778) Vorstellung vom Heranwachsen eines freien und guten Menschen jenseits der verdorbenen Gesellschaft. Diese Ideen fanden über die Lebensreformbewegungen und über die Sozialdemokratie Eingang in die Institutionen der meisten europäischen Länder.
3.Paul Thorez (1940–1994), der Sohn des französischen Parteivorsitzenden Maurice Thorez, verbrachte zwischen 1950 und 1955 vier Sommer in Artek. Eindrücklich beschreibt er die medizinischen Untersuchungen, das regelmäßige Wiegen, die üppigen Mahlzeiten, die festen Tagesabläufe, die Rituale beim Fahnenappell und die internen Hierarchien der „Republik der roten Halstücher“, siehe: Thorez, Paul (1982): Les enfants Modèles, Paris
4.Winkelmann (2000): Typologie der Ferienstadt: Das Pionierlager Artek auf der Krim, in: Bauwelt 91/16, S. 12-19
5.Fotoočerk (1964): Respublika krasnych gal’stukov, Kiew
6.Kelly, Catriona (2006): Children's World: Growing up in Russia: 1890–1991, New Haven, S. 557-558
7.Pionierskoe leto. Metodičeskie rekomendacii organizatoram letnego otdycha pionerov i škol’nikov (Moskva: Moskovskogo ordena trudovogo krasnogo znameni gorodskoj Dvorec Pionerov i škol’nikov, 1976)
8.Vedomosti: Na kapremont detskogi centra „Artek“ potračeno bolee 11 mlrd rublej; novayagazeta.eu: Detstvo v lagerjach
9.Ryklin, Michail (2003): Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz, Frankfurt a.M.
10.novayagazeta.eu: Detstvo v lagerjach
11.novayagazeta.eu: Detstvo v lagerjach
 
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Tauwetter

Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erfuhren eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.

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Leonid Breshnew

Am 19. Dezember vor 115 Jahren ist Leonid Breshnew (1906-1982) als Sohn eines Metallarbeiters geboren.  Von 1964 bis 1982 prägte er als erster Mann im Staat fast zwei Jahrzehnte lang das Geschehen der Sowjetunion. Seine Herrschaft wird einerseits mit einem bescheidenen gesellschaftlichen Wohlstand assoziiert, gleichzeitig jedoch auch als Ära der Stagnation bezeichnet.

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Perestroika

Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.

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Auflösung der Sowjetunion

Heute vor 31 Jahren trafen sich die Staatsoberhäupter von Russland, Belarus und der Ukraine und vereinbarten, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zu gründen. Damit besiegelten sie faktisch das Ende der Sowjetunion. Welche Dynamiken damals die einstige Supermacht zum Zerfall brachten, skizziert Ewgeniy Kasakow.

 

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Die Wilden 1990er

Das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von tiefgreifenden Umbrüchen gezeichnet, aufgrund derer es in das kollektive Gedächtnis als die wilden 1990er eingegangen ist. Mit dem Begriff werden weniger die neu erlangten Freiheiten, sondern eher negative Erscheinungen wie Armut und Kriminalität assoziiert.

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Gulag

Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. GULag ist die Abkürzung für Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager. Diese Verwaltungsstruktur existierte von 1922 bis 1956 und unterstand dem sowjetischen Sicherheitsdienst.

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Gorki-Park

Gorki-Park ist ein insgesamt rund 220 Hektar große Park in Moskau. Er wurde 1928 angelegt und 1932 nach dem sowjetischen Schriftsteller Maxim Gorki (1868–1936) benannt. Seit 2014 wird der Park aufwendig restauriert und umgestaltet, die Arbeiten sollen 2018 beendet werden. Einen Teil der Kosten tragen Firmen des russischen Oligarchen Roman Abramowitsch. Im Gorki-Park befinden sich unter anderem ein Veranstaltungsgelände, mehrere Sport- und Spielplätze und einige Teiche mit Bootsverleih. 

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