Alexander Gronsky ist einer der wenigen Fotografen, die nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in Russland geblieben sind. Er arbeitet an einer Serie von Bildern, auf denen der scheinbar kaum veränderte Moskauer Alltag untergründig im Zeichen unterschiedlicher Formen aggressiver militaristischer Propaganda verläuft.
dekoder sprach mit dem berühmten Moskauer Stadtlandschaftsfotografen über sein aktuelles Arbeiten, das anschließt an Moskau während des Krieges, eine Sammlung vom Juli 2022.
Verteidigungsministerium der Russischen Föderation vom Gorki-Park aus gesehen, April 2023 / Foto © Alexander Gronsky
dekoder: Hast du das Gefühl oder beobachtest du, dass sich die Atmosphäre auf den Straßen Moskaus in diesen eineinhalb Jahren Krieg verändert hat?
Alexander Gronsky: Es wirkt, als hätte sich gar nichts verändert. Nur die Kriegspropaganda ist mehr geworden, aber davon gab es eigentlich auch vor dem 24. Februar 2022 schon viel, nur hat sie niemand ernst genommen. In vielerlei Hinsicht waren diese fehlenden sichtbaren Veränderungen in meinem Umfeld für mich der Ausgangspunkt meiner Arbeit. Ich befinde mich gewissermaßen inmitten der Prozesse und Ereignisse, doch die sind als solche fast unsichtbar.
Was bringen dir deine Streifzüge durch Moskau mit dem Fotoapparat persönlich, wofür nimmst du das alles auf, welchen Sinn siehst du darin?
Für mich persönlich ist das eine Möglichkeit, mich zu konzentrieren und weniger in Panik zu geraten. Die Frage nach dem Sinn ist schwieriger, die verschiebe ich in die Zukunft. Das heißt, für mich ist klar, dass das Geschehen zur „unbequemen Geschichte“ gehören wird, die man lieber vergessen wollen wird, also müssen wir jetzt „unbequeme Archive“ für die Nachwelt anlegen.
Fallen dir auf den Straßen Moskaus, abgesehen von den Propagandaplakaten und anderen „neuen“ Elementen „städtischer Ausgestaltung“ in Kriegszeiten, die deine Fotos zeigen, noch andere Spuren des Kriegs auf? Kriegsversehrte, Z-Aufkleber, Kriegsgerät, Folgen von Drohnenattacken, „Z-patriotische“ T-Shirts und dergleichen? Sind auf der Straße oder an sonstigen öffentlichen Orten Gespräche über den Krieg zu hören?
Die Drohnenattacken sind die ersten Zeichen eines realen Kriegs, die in Moskau aufgetreten sind. Doch ich glaube, die, die hier geblieben sind, haben sich gedanklich schon auf das Schlimmste vorbereitet – diese Explosionen haben niemanden wirklich schockiert. Ansonsten ist alles wie immer, man geht shoppen und Cocktails trinken.
Ist es im Vergleich zu den Jahren davor schwieriger geworden, auf der Straße zu fotografieren? Hat sich die Reaktion der Passanten oder vielleicht auch der Polizei auf einen Mann mit Fotoapparat verändert?
Nein, den Eindruck habe ich nicht.
Wofür lebt derzeit die Moskauer oder generell die russische Fotografenszene?
Die russische Fotografenszene lebt jetzt im Ausland. Die paar Fotografen, die geblieben sind, leisten eine wichtige Arbeit, aber sie bilden keine Szene. Es fühlt sich leer an. Allerdings hilft das, die Faulheit zu überwinden, auf einmal wirkt das Argument: „Wenn ich das jetzt nicht fotografiere, wird es womöglich keiner je fotografieren.“
Gedenkmarsch „Unsterbliches Regiment“ auf der Twerskaja Straße, 9. Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
Riesiger Bildschirm an der Fassade eines Verwaltungsgebäudes zur Ausstrahlung von Putins alljährlicher Rede an sein „Parlament“ / Foto © Alexander Gronsky
Bolschoi-Theater am 9. Mai 2022, zum Tag des Sieges „geschmückt“ mit einer vergrößerten Kopie des sowjetischen Marschallordens „Sieg“ und Bannern sowjetischer Fronten im Zweiten Weltkrieg / Foto © Alexander Gronsky
Haus des Unternehmers. Das Plakat wirbt für die Teilnahme an einem Wettbewerb für Drohnenentwickler. Links eine Bushaltestelle mit Werbung für den Dienst als Vertragssoldat in der russischen Armee / Foto © Alexander Gronsky
Reklametafel mit Werbung für den neuen russischen Propagandafilm „Nürnberg“ – laut Kritikern ein antiamerikanischer Blockbuster voller Verschwörungen, dessen Handlung vor dem Hintergrund der Nürnberger Prozesse spielt, März 2023 / Foto © Alexander Gronsky
Probe für die Siegesparade am 8. Mai 2023 — Atomrakete „Jars“. Im Hintergrund ein Werbeslogan der staatsnahen Alfa-Bank: „Für die Klugen und Freien“ / Foto © Alexander Gronsky
Militaristisches Wandbild, das auf „Die drei Recken“ von Viktor Wasnezow aus dem späten 19. Jahrhundert anspielt, wobei es eher wie eine Parodie darauf aussieht, Juli 2022 / Foto © Alexander Gronsky
Figur eines altrussischen Kriegers mit einem Z, dem Symbol der Kriegspropaganda, auf dem Schild. Eisskulpturenausstellung im Museon-Park neben der neuen Tretjakow-Galerie, Dezember 2022 / Foto © Alexander Gronsky
Erdbeer-Kiosk. Links daneben ein Stand, an dem man sich zur Armee melden kann, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
Betonzaun mit propagandistischer Bemalung und Überschrift „Befreiung Europas“. Mit Georgsbändern, die zum Symbol der putinistischen Aggression und Propaganda geworden sind, und einem Wegweiser nach Berlin, März 2023 / Foto © Alexander Gronsky
Bildschirm mit Werbung der Söldnertruppe Wagner mit dem Slogan „Schließ dich der Siegermannschaft an“, April 2023 / Foto © Alexander Gronsky
Werbebildschirm auf der Eissportarena des Zentralen Sportclubs der Armee ZSKA. Vor dem Hintergrund eines noch aus vorrevolutionären Zeiten allen russischen Staatsbürgern bekannten Gemäldes von Iwan Schischkin und Konstantin Sawizki, „Morgen im Kiefernwald“, aus dem Jahr 1886. Dazu ein Zitat des sowjetischen Schriftstellers Michail Scholochow: „Geliebtes, lichtes Vaterland! All unsere unendliche Liebe gilt dir. All unsre Gedanken sind bei dir“, Juni 2022 / Foto © Alexander Gronsky
Werbebildschirm mit dem Porträt eines russischen Soldaten mit der Losung „Dank der Heldentat“, Dezember 2022 / Foto © Alexander Gronsky
Propagandistische „Installation“ zum Tag des Sieges. Im Hintergrund schimmert durch ein Baustellennetz ein altes sowjetisches Propaganda-Wandbild: „Wir bauen den Kommunismus“, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
Komposition: Fenster eines Verwaltungsgebäudes leuchten in Form des Buchstaben Z, dem Symbol der russischen Aggression, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
Werbebildschirm mit dem Wort „Jetzt“ an der Wand eines Gebäudes aus der Breshnew-Zeit. Juni 2023 / Foto © Alexander Gronsky
Fotografie: Alexander Gronsky
Bildredaktion: Maksim Sher
Übersetzung: Ruth Altenhofer
Veröffentlicht am 31.08.2023