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Jahr des historischen Gedenkens

Julia Artjomowa, 1985 geboren, hat sich in Belarus als Autorin einen Namen gemacht. In ihrem 2021 erschienenen Roman Ja i jest rewoljuzija (dt. Ich bin die Revolution) erzählt sie „eine sehr aufrichtige, sehr weibliche und sehr verruchte Geschichte: über Revolution und Liebe, über Brüderlichkeit und Schwesternschaft, über den Zerfall von Illusionen und das Erwachsenwerden als Wahl“. In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft, der im Titel sarkastisch auf das von Alexander Lukaschenko verkündete Jahr des historischen Gedenkens anspielt, reflektiert Julia Artjomowa (die mittlerweile in der Ukraine lebt) die Gewalteskalation, die sich im Zuge der historischen Proteste 2020 in ihrer Heimat und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in ihrer Region eingestellt hat. Und sie fragt sich, ob man mit dem Wissen um diese schreckliche Gewalt überhaupt noch an diese Orte zurückkehren kann.

Russisches Original

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„Knoten der Hoffnung“ / Illustration © ToslaDiesen Text kann ich nur in der ersten Person schreiben. Normalerweise würde ich ihn niemandem zeigen – Tagebucheinträge sind nicht für fremde Augen bestimmt, und das hier ist fast einer. Aber wir haben (kein) Glück – wir leben in einer Zeit und an einem Ort, wo unsere Erinnerungen zu Tagebüchern werden und unsere Tagebücher zu Dokumenten. Unsere Balkone und Fenster werden zu Tribünen, unsere Körper zu Zeugen und Beweisen von Verbrechen. Die Buchstaben presst du mühevoll aus dir heraus, weil es dir wie so vielen die Sprache verschlägt, deine Stimme ist heiser, aber immer noch da, und deswegen muss sie erklingen, ja, muss. Daher kann ich diesen Text schlichtweg nicht nicht veröffentlichen.

Ich glaube, es war im Februar 2021. Wirklich, im Februar? War es nicht Januar? Oder doch März? Vielleicht schon im Dezember? Ich weiß noch genau, dass es geschneit hat – doch das ist ein zweifelhafter Anhaltspunkt. Herrscht in Belarus in diesen Monaten nicht fast immer unerträglich graues, matschiges Schneewetter? Oder hat sich in diesen Tagen einfach alles verknäuelt, verklumpt, verklebt, wie ein Schneeball, zu einem einzigen langen Monat des Wartens? Aber für das hier sind Chronologie und dokumentarische Genauigkeit überhaupt nicht wichtig. Also, sagen wir Februar. Im Februar 2021 trieb ich mich abends in der Stadt herum und machte ein paar Besorgungen. Auf dem Heimweg wollte ich Geld abheben. Ich suchte in der App den nächsten Geldautomaten und machte mich auf.
Auf halbem Weg erwischte es mich. Eine Druckwelle versetzte mich zurück in die jüngste Vergangenheit. Ein halbes Jahr zuvor hatten mein Freund Kolja und ich uns öfter genau bei diesem Geldautomaten getroffen. Das war einfach ein praktischer und eindeutiger Treffpunkt. Am Samstag, den 15. August, um 12 Uhr waren wir von hier aus zusammen zur Beerdigung von Alexander Taraikowski gegangen.
Damals, an jenem Februarabend im Schnee, begriff ich, dass es die Stadt meiner Kindheit, die Stadt, in der ich den Großteil meines Lebens verbracht hatte, nicht mehr gibt. In Minsk gibt es keine Geschäfte mehr, keine Läden, keine Höfe, Zäune, Cafés. Minsk ist überzogen mit einem Netz aus Narben: Da drüben sind wir davongerannt – und dorthin entkommen; da haben wir uns in der Hauseinfahrt versteckt; da haben wir gestanden und gesehen, wie sie auf die Menschen einprügeln und sie auseinandertreiben, und waren selbst erstarrt; da eine Spur von einer Blendgranate; da marschierten die Frauen durch; da wurde mein Mann Shenja geschnappt, und jedes Mal – wirklich jedes Mal – wenn wir an dieser Stelle vorbeifuhren, sagte er: „Da haben sie mich festgenommen“; dort waren im Winter die Hofproteste mit dem Nachbarbezirk; da standen wir in der Solidaritätskette, zusammen mit Roma und anderen Leuten aus unserem Hof. Und da, da wurde Roma umgebracht. 
Ich schließe die Augen. Auf dem Stadtplan gibt es keine blinden Flecken mehr, keine sauberen Stellen, keine Erinnerungen mehr an das vorrevolutionäre Leben. Erstaunlich, wie das Gedächtnis funktioniert – es legt sich in Schichten übereinander wie Wandverputz. Und jede neue Schicht scheint die vorherige zu verwischen, zu überdecken, zu ersetzen. 
Was ist auf der vorigen Schicht? Straßen, die ich als verliebte Sechzehnjährige entlangspazierte, mit immer derselben Kassette im Walkman. Den Park zehn Minuten von unserem Haus entfernt, in den meine Mutter immer mit mir ging, als ich klein war. Den Hof, wo meine beste Freundin und ich so gern saßen, uns am Karussell drehten und billigen Rotwein direkt aus der Flasche tranken, die wir uns teilten. Sogar die Schule, die ich neun Jahre lang besuchte, ist jetzt die, die an mein Wahllokal grenzt, und meine Lehrer sind zu Mitgliedern der Wahlkommission geworden, die ein gefälschtes Protokoll unterschrieben haben. Als hätte es mich als Sechzehnjährige nie gegeben. Das Private ist politisch. Mein Privates wurde in nur drei Tagen, 9. bis 11. August, mit einem groben Radiergummi aus dem Stadtplan gelöscht. Tage der Folter. Unser 9/11.   
Wäre es doch nur die Stadt. Aber auch ganz normale Dinge bekamen plötzlich eine andere Bedeutung, einen anderen Sinn. Im August/September/Oktober 2020 waren wir ein riesiger Menschenfluss. Wie der kleine Fluss Nemiga, der einst in eine Betonröhre gezwängt wurde. Als unsere Demonstrationen endgültig von der Straße verdrängt waren, wurden gewöhnliche Bänke, Zäune, Bäume, Aufzüge und Haltestellen zu Plakaten, zu Leinwänden für politische Statements. Die Wände verlassener Häuser und normaler Plattenbauten fingen an zu weinen wie Ikonen: Nichts vergessen, nichts verzeihen. Diese Worte in roter Schrift drangen immer und immer wieder durch mehrere Schichten weißer Farbe. Als die Schichten zu viele wurden und die Buchstaben nicht mehr durch die Farbe schimmerten, wussten alle, was sich hinter den weißen Rechtecken verbarg.   

***

Ein Junimorgen, Samstag, im Zentrum von Warschau. Meine Schulfreundin und ich sitzen auf der Terrasse eines Cafés (sie war immer einfach meine Schulfreundin gewesen, bis sie zu eben jener Freundin aus Irpin wurde, die mit ihrer Mutter und ihrer Katze zehn Tage unter Beschuss der Stadt überlebt hat). Hier in Warschau ist der Krieg überhaupt nicht spürbar, auch wenn überall viele ukrainische Flaggen hängen, sehr viele. Ich stelle meiner Freundin eine Frage, die mir schon lange im Kopf herumgeht: „Willst du zurück in die Ukraine?“ Sie sagt: „Weißt du, ich würde gern manchmal hinfahren, mal eine Woche oder zwei nach Lwiw oder Kyjiw, mal nach Odessa oder in die Karpaten. Aber richtig zurück … Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wie ich jetzt in Irpin leben soll, wo in dem Park mit Designerbänken Menschen beerdigt wurden.“
Sie redet und redet, und ich höre ihr aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen, sie spricht, und ich  merke mir, was sie sagt, sie spricht, und ich begreife – sie antwortet für uns beide, sie beantwortet auch meine eigene Frage, vor der ich jedes Mal wieder Angst habe, weil ich dann ehrlich mit mir selbst sein muss. Will ich zurück nach Minsk? Will ich jeden Tag vor meinem Fenster den Hof sehen, in dem mein Nachbar Roma erschlagen wurde? Will ich auf dem Spielplatz, der jetzt eine Gedenkstätte ist, Kaffee trinken? Will ich durch Straßen gehen, in denen Menschen geprügelt wurden, wo auf Menschen geschossen wurde, wo Granaten auf Menschen geschleudert wurden?

Es ist unmöglich, in einer Stadt leben zu wollen, in der Parks zu Massengräbern und Spielplätze zu Gedenkstätten werden.

So wird mir ein Jahr nach meiner Ausreise, während ich in der Warschauer Morgensonne sitze, endgültig bewusst – du kannst nicht zurück nach Minsk, diese Stadt gibt es nicht mehr, sie existiert nur in deinem Gedächtnis, sie besteht aus erinnerten Bildern wie Frankensteins Monster. Wir wollten sie umschreiben, aber haben es nicht geschafft. Jetzt ist sie nurmehr der Entwurf einer Stadt, der von einem unfähigen Schriftsteller mittendrin verworfen wurde. 
Und trotzdem, und trotzdem ist es die Stadt, in deren Adern die Nemiga unseres Widerstands fließt. Wieder schlage ich mein Tagebuch auf und lese den Eintrag:  

Letzten Sommer waren mein Mann und ich Fahrradfahren. Wir fuhren über die Stela auf den Siegerprospekt. Im Jahr davor hatte diese Gegend an Sonntagen ganz anders ausgesehen, und wir hatten so sehr gehofft, dass wir die Sieger sein würden. Jetzt überall rot-grüne Flaggen, demonstrativ viele, mehr als Menschen weit und breit. Und was für Menschen. Gleichgültige, die herumspazierten, als wäre nichts gewesen. Als hätten wir wirklich das nächste Kapitel aufgeschlagen. Es war bitter – vor einem Jahr noch war hier ein weiß-rot-weißer Fluss geflossen. Wir setzten uns auf eine Bank vor ein Gebäude mit dem Schriftzug: Minsk – Heldenstadt. Ich verschwand in meinem Handy, um mich abzulenken. Auf die nächste Bank setzte sich ein junger Vater mit seinem kleinen Sohn. Zufällig drang ihr Gespräch zu mir durch, es war nicht zu überhören – sie sprachen Belarussisch. Das war wie ein kleines Wunder. Als würde dir die Stadt in dem Moment, in dem du die Hoffnung verlierst, zuzwinkern.       

Minsk gibt es nicht – es existiert nur in unserem kollektiven Gedächtnis.

Minsk gibt es – es existiert in unserem kollektiven Gedächtnis. 

Und solange wir uns an alles erinnern, gibt es eine Chance. Eine Chance, die Stadt neu zusammenzusetzen, die Narben mit Tattoos zu verdecken, den Orten neuen Sinn zu verleihen. Hinaus auf die Straßen zu gehen und sich die Stadt zurückzuholen. Keine neue Seite aufzuschlagen, sondern diese sauber umzuschreiben, ins Reine. Dort Gedenkstätten zu errichten, wo der Schmerz wirklich groß war. Nicht zu vergessen und nicht zu verzeihen. Den Straßen neue Namen zu geben. Die Nemiga aus dem Rohr zu befreien. 

***

Es gibt noch etwas, das unser kollektives Gedächtnis lange prägen wird. 2020 haben die Belarussen eine erstaunliche Kraft in sich entdeckt, aus der unsere Nationalidee entstand. Damals war niemand in der Lage, diese Kraft richtig zu benennen, keiner konnte diese Idee formulieren. Die unglaublichen Belarussen? Das klang zu begeistert und zu naiv. 
Jetzt, wo unsere ukrainischen Nachbarn so hingebungsvoll für ihre Freiheit kämpfen und uns manchmal Schwäche und Feigheit vorwerfen, ist es besonders schwer, sich das nicht zu Herzen zu nehmen, sich nicht selbst zu geißeln und sich nicht zu schämen. Wir hören nicht auf zu vergleichen. Und immer schneiden wir schlecht ab bei diesem Vergleich. 
Doch auch, wenn wir uns so ähnlich sind, so sind wir doch ganz verschieden. Während die Ukrainer sagen: „Kämpft, und ihr werdet gewinnen!“, sagen wir: „Wir werden nicht vergessen, nicht verzeihen.“ Und diese Worte scheinen mir die ehrlichste und treffendste Losung von allen zu sein, die aus unserer gescheiterten Revolution 2020 hervorgegangen sind. Diese Worte sprechen aus jedem verletzten Herz. Diese Worte stehen für 9/11 genauso wie für Taraikowski, Bondarenko, Schutow und Aschurak. Diese Worte stehen für Sawadski, Gontschar und Sacharenko. Für 1307 politische Gefangene. Für 30 Journalisten, die von Repressionen betroffen sind. Für 28 Jahre ohne Wahl. Für Dima Stachowski, den 17-jährigen Jungen, der wegen Teilnahme am Protest strafrechtlich verfolgt wurde und Selbstmord beging. Für Andrej Selzer. Diese Worte stehen für Hunderte von Raketen, die seit Februar von meinem Land aus auf die Ukraine abgefeuert werden. Sie stehen für Kuropaty. Die Worte stehen für Bykau, Karatkewitsch, Kupala und Kolas. Die Worte stehen für die Nacht der erschossenen Dichter.    

Heute, da ich in der Ukraine bin, sehe ich jeden Tag, wie sogar auf dem unfruchtbarsten Boden Leben entsteht. Es bahnt sich seinen Weg durch Schmerz, Krieg und Horror. Ich weiß, das ist es, was mein Volk am besten kann, genau das ist die nationale Idee der Belarussen – nicht zu kämpfen, sondern wie Gras durch den Asphalt zu dringen, trotz des rauen, harten Winters. Zu wachsen, wo sonst nichts mehr wächst. Zu überleben, zu leben und zu gedenken, sich immer wieder zu erinnern. Nicht zu vergessen, nicht zu verzeihen.
… nicht zerschlagen, nicht stoppen, nicht aufhalten.

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Die belarussische Diaspora: Erneuerte Solidarität

Die politische Krise, die mit den Protesten vom Sommer 2020 begann, hat zu einer neuen Welle der Massenmigration aus Belarus beigetragen und die  Politisierung der belarusischen Diaspora gefördert. Den vorliegenden Daten zufolge haben innerhalb des ersten Jahres seit den Ereignissen schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Menschen das Land verlassen. Bei einer erwerbstätigen Bevölkerung von insgesamt rund 4,3 Millionen Menschen ist dies eine sehr hohe Zahl. Zugleich ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Angesichts der anhaltenden Repressionen im Land planen oder erwägen weiterhin viele Menschen die Ausreise. Auch im Zuge des Krieges in der Ukraine sind viele Belarusen wieder auf der Flucht, denn viele hatten in Kiew oder anderen ukrainischen Städten neu angefangen. 
Die neuen Migranten treffen auf eine Diaspora, die aus einer langen Geschichte mehrerer Auswanderungswellen hervorgegangen und in zahlreichen Ländern organisiert und politisch aktiv ist. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja gibt der Demokratiebewegung im Ausland ein neues, international bekanntes Gesicht mit politischem Gewicht.

Bereits die Wahlkampagne im Frühjahr 2020 in Belarus, in der Kandidaten nicht zugelassen, verhaftet oder ins Exil getrieben wurden, und die friedlichen Massenproteste nach der gefälschten Präsidentenwahl  gaben der Diaspora bemerkenswerten Aufschwung: Bestehende Auslandsorganisationen (unter anderem in den USA, Schweden, Großbritannien und Polen) wurden so gestärkt und neue Organisationen (unter anderem in Italien, Deutschland und der Tschechischen Republik sowie in den USA) registriert. 

Diese neue Solidarität lässt sich an der hohen Beteiligung der belarusischen Diaspora an kontinuierlichen politischen Aktivitäten ablesen, mit denen auf Ungerechtigkeiten in Belarus aufmerksam gemacht wird. Daran zeigt sich auch, dass die außerhalb des Landes organisierte belarusische Demokratiebewegung eine wichtige Rolle spielt. Für Aljaxsandr Lukaschenka erschwert das ein neuerliches Lavieren zwischen dem Westen und Russland. Das ist mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine allerdings mehr denn je in den Bereich des Undenkbaren gerückt, da Lukaschenka der russischen Führung gewährt, Belarus  als Aufmarschgebiet für russische Truppen zu nutzen. In einer Zeit, in der die Opposition im Land selbst zunehmend unterdrückt wird, dient die Diaspora dabei als Stimme von außen, um demokratische Veränderungen einzufordern.

Vor der politischen Krise von 2020

Die Geschichte der Auswanderung aus der Region des heutigen Belarus beginnt zur Zeit des Großfürstentums Litauen: Damals studierten Hunderte junger Belarusen an Universitäten in West- und Mitteleuropa. Emigranten wie Francysk Skaryna, Ilja Kapijewitsch und andere berühmte Persönlichkeiten der belarusischen Kultur haben im Ausland prägend gewirkt. 

Die Massenauswanderung setzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Zu dieser Zeit wurden Migranten nicht als Belarusen erfasst, weil die zaristische Regierung diese Nationalitätsbezeichnung offiziell nicht zuließ und es ablehnte, das ethnografisch belarusische Gebiet unter eine einheitliche Verwaltung zu stellen. Obwohl die Zahlenangaben schwanken, liegen sie überwiegend in derselben Größenordnung: Zwischen 1860 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs verließen etwa 1,5 Millionen Belarusen ihre Heimat. Die meisten gingen nach Sibirien, der Rest wanderte in Richtung Westen aus – nach Europa und in die USA. Diese Migrationswelle hatte einen vorwiegend wirtschaftlichen, teils aber auch politischen Hintergrund. Belarusische Juden wanderten in den 1850er Jahren aufgrund religiöser Verfolgung durch die Obrigkeiten aus.

Die Entstehung der belarusischen Diaspora

Die zweite Welle der belarusischen Emigration wurde durch den Ersten Weltkrieg und die revolutionären Ereignisse von 1917 ausgelöst. In den folgenden Jahren gab es in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) über zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Gebiet des heutigen Belarus, mehr als 100.000 Menschen gingen in andere Länder. Mit der Proklamation der Belarusischen Volksrepublik (BNR) 1918 und der Gründung der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) im Jahr 1919 erhielt das erwachende Nationalbewusstsein einen Schub. Die Belarusen sahen sich zunehmend als eigenständige Gruppe. 

Die Politisierung der belarusischen Diaspora begann in den 1920er Jahren in den USA: Zu dieser Zeit nahm die Führung der Rada BNR Kontakt zu neu gegründeten belarusischen Organisationen in New York, New Jersey, Chicago, Michigan und Pennsylvania auf und begann, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Archivdokumente zeigen, dass die kommunistischen Führungen in Moskau und Minsk sogar Versuche unternahmen, belarusische Emigranten über die Schaffung pseudo-nationaler belarusischer Organisationen für die kommunistische Bewegung zu mobilisieren – um die Weltrevolution voranzutreiben. In seinem Buch Belarusians in the United States liefert Vitaut Kipel mit Gershan Duo-Bogen ein Beispiel eines kommunistischen Agenten, der daran beteiligt war, die kommunistische Bewegung auf der anderen Seite des Ozeans zu aktivieren.

Belarusen engagieren sich von den USA aus für nationale Selbstbestimmung

Der Zweite Weltkrieg führte zur dritten Auswanderungswelle. Bei Kriegsende zählte die belarusische Diaspora in Europa etwa eine Million Menschen, von denen es viele weiter in die USA zog. Die politischen Emigranten der 1950er Jahre und ihre Nachkommen bildeten die Basis der modernen belarusischen Diaspora. Diese nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA eingewanderten Belarusen waren nationalbewusst. Sie setzten sich bei der US-Regierung mit Nachdruck dafür ein, den belarusischen Staat als nationale und ethnische Einheit mit dem Recht auf Freiheit und nationale Selbstbestimmung anzuerkennen. So hielten beispielsweise belarusische Priester laut Protokoll des US-Kongresses in den 1960er bis 1980er Jahren fast an jedem Jahrestag der Proklamation der BNR Eröffnungsgebete für den Kongress ab. Zum 50. Jahrestag der BNR-Gründung im Jahr 1968 verzeichnet das Protokoll 23 Redebeiträge im US-Kongress, die die Unabhängigkeit von Belarus unterstützten.

Von 1960 bis 1989 war kaum Auswanderung möglich

In den 1960er bis und 1980er Jahren wuchs die belarusische Diaspora nicht nennenswert an, weil die Emigration aus der Sowjetunion rechtlich nicht möglich war. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR, der massiven Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage in der Republik Belarus sowie den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 erhöhte sich die Zahl der Ausreisen wieder deutlich. Im Jahr 1989 erlaubte die Sowjetrepublik dem Innenministerium zufolge 14.700 Menschen auszureisen. 1990 lag diese Zahl bei 34.100 Menschen und war damit mehr als doppelt so hoch. 

Feierlichkeiten der kanadischen Diaspora zum 50. Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik / Foto © Rada BNR

Nachdem Aljaxandr Lukaschenka im Jahr 1994 an die Macht gekommen war, schwand die anfängliche Hoffnung der belarusischen Diaspora auf eine demokratische Zukunft. An ihre Stelle traten politische Aktivitäten, die von dem Gedanken geleitet waren, Belarus als unabhängigen demokratischen Staat zu erneuern. Die neuen belarusischen Migranten konnten sich im Laufe der Zeit mit der älteren organisierten Diaspora in den USA, Kanada, Europa und anderen demokratischen Ländern auf gemeinsame Positionen verständigen. So wurde in den USA nach erheblichem Engagement der belarusischen Diaspora der Belarus Democracy Act von 2004 verabschiedet – ein US-Bundesgesetz, das erlaubte, politische Organisationen, NGOs und unabhängige Medien zu unterstützen, die sich für die Förderung von Demokratie und Menschenrechte in Belarus einsetzen. Diese Bewilligung wurde in den Jahren 2006, 2011 und 2020 erneuert.

Neue Migrationswelle nach den Repressionen in Belarus

Seit der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2019 emigrierten jährlich schätzungsweise zwischen 10.000 und 20.000 Menschen aus Belarus. Das brutale Vorgehen gegen die Opposition nach den größten Protesten in der Geschichte des unabhängigen Belarus 2020/2021 löste dagegen eine beispiellose Migrationswelle aus. Im ersten Jahr nach August 2020 haben etwa 100.000 bis 150.000 Menschen Belarus verlassen. Viele gingen nach Lettland, Estland und noch weiter weg. 

Nicht eingerechnet sind diejenigen, die nach Russland oder in die Ukraine übersiedelten, weil es kein Visum braucht, um in diese Länder zu reisen. Mit präzisen Zahlen ist es dort daher schwierig. Trotzdem lässt sich die Vorstellung einer Größenordnung bekommen: Laut den Zahlen, die der Staatliche Migrationsdienst der Ukraine herausgibt, stiegen die befristeten Aufenthaltsgenehmigungen für belarusische Staatsbürger dort beispielsweise um 39 Prozent (von 2175 im Jahr 2019 auf 3042 im Jahr 2021). Im Oktober 2020 unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky zudem ein Dekret, das es Unternehmern und hochqualifizierten Fachkräften mit belarusischer Staatsangehörigkeit sowie deren Familienangehörigen erleichtert, eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine zu erhalten. Infolgedessen sind seit der Protestwelle nach der Präsidentschaftswahl bis zu 1500 belarusische IT-Spezialisten aus politischen Gründen in die Ukraine emigriert. 

Doch die meisten Belarusen gingen nach Polen. Laut Eurostat sind dort zwischen August 2020 und November 2021 knapp 2000 Asylanträge von belarusischen Staatsbürgern eingegangen – mehr als in jedem anderen EU-Land. Das ist ein eindrucksvoller Zuwachs, denn zwischen  Anfang 2019 und  September 2020 hatten Belarusen in Polen nur 165 Asylanträge gestellt. Nach Angaben des polnischen Außenministeriums hat das Nachbarland im Zeitraum von Juni 2020 bis Ende Juli 2021 zudem 178.711 Visa an Personen aus Belarus erteilt, darunter mehr als 20.000 „Poland.Business Harbour“-Visa, etwa für Programmierer und Unternehmer im IT-Bereich.

Das EU-Land mit der zweithöchsten Zahl von Asylanträgen aus Belarus ist Litauen: Dort beantragten 235 belarusische Bürger Asyl – von Anfang 2019 bis zum Beginn der Proteste waren es dagegen nur 35. Nach den Zahlen der litauischen Migrationsbehörde hat das Land von September 2020 bis November 2021 zudem 26.200 nationale Visa an belarusische Bürger ausgestellt. 

Die Politisierung der Diaspora nach den Protesten in Belarus

Nach dem Ausbruch der Krise hat sich die belarusische Diaspora innerhalb weniger Monate weltweit zu einer ernstzunehmenden Kraft mit politischem Einfluss entwickelt. Ihre Aktivitäten sind jetzt eng mit neuen politischen Kräften verknüpft, etwa dem Koordinationsrat von Belarus, dem Büro der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja und dem NAM (Nationales Antikrisen-Management).

Der Koordinationsrat von Belarus wurde im August 2020 von Zichanouskaja im litauischen Exil ins Leben gerufen, um auf eine friedliche Machtübergabe hinzuarbeiten und die Krise im Land zu überwinden. Er versteht sich als das ausschließliche Repräsentativorgan der demokratischen belarusischen Gesellschaft. Die Arbeitsgruppen des Rats befassen sich unter anderem damit, Bildungsinitiativen zu entwickeln, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und über Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen zu informieren, die ihren Arbeitsplatz verloren haben.

Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja ist eine separate Einrichtung. Es besteht aus ihr selbst, acht Beratern für nationale und internationale Angelegenheiten sowie Kommunikationsmitarbeitern.

Die von Pawel Latuschka im Oktober 2020 gegründete Organisation NAM (Nationales Antikrisen-Management) in Warschau arbeitet mit dem Koordinationsrat und Zichanouskajas Büro zusammen. Zudem gibt es zahlreiche Initiativen, darunter ByPol, das von ehemaligen Sicherheitskräften gegründet wurde, und BySol für Sportler, ein Projekt von Sportfunktionären und Athleten.

Die belarusische Diaspora hat viele Anstrengungen unternommen, um sich weltweit zu vernetzen und sich in das Ringen um ein künftiges Belarus einzubringen. Ein Beispiel dafür ist die neu gegründete Organisation Association of Belarusians in America (ABA), die Repräsentanten belarusischer Communitys aus 25 Städten in 18 US-Staaten verbindet. Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja organisierte im September 2021 eine Konferenz der Belarusen der Welt in Vilnius und brachte Vertreter belarusischer Communitys aus über 27 Ländern und 40 Organisationen zusammen. 

Durch die Repressionen sind die Proteste 2021 abgeebbt. Infolge der brutalen Unterdrückung durch die belarusische Regierung und mit der Rückendeckung durch Russland bestand kaum noch Aussicht, etwas zu erreichen. Gleichwohl ist zu erwarten, dass die neu erstarkte und vereinte Diaspora sowie die organisierten demokratischen Kräfte von außen weiter und stärker als vor dem Krisenjahr 2020 eine demokratische Zukunft für Belarus einfordern und denjenigen helfen werden, die unter den Repressionen des Lukaschenka-Regimes leiden. 

ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

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