In diesem Beitrag steigen wir tief hinein in die belarussische und litauische Geschichte. Im Kern geht es dabei um einen aktuellen Streit, der auf nationalgeschichtliche Narrative zurückgeht, die schwerlich geeignet sind, in konstruktiver, konfliktfreier Form das Erbe von historischen multikulturellen Herrschaftsbereichen abzubilden. Worum geht es?
Tatsächlich teilen Litauer und Belarussen eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte. Seit dem 13. Jahrhundert lebten sie zusammen im Großfürstentum Litauen und ab Mitte des 16. Jahrhundert in der polnisch-litauischen Adelsrepublik, die Ende des 18. Jahrhunderts zwischen Preußen, Habsburg und Russland aufgeteilt wurde. Damit gelangten belarussische Gebiete vollständig unter die Herrschaft des russischen Zarenreiches. So viel ineinander verwebte Geschichte birgt viel Konfliktpotenzial, wenn es zu solchen Fragen kommt: Wer hat das Großfürstentum Litauen geprägt – Litauer oder Belarussen? War dieses Staatswesen im Kern ein litauischer oder ein belarussischer Staat?
Auf belarussischer Seite hat sich sogar ein Begriff etabliert, der das „Belarussische“ im Streit um das Erbe des Großfürstentum Litauen hervorhebt: Litwinismus. Der Begriff geht auf das 19. Jahrhundert zurück, als sich Vertreter des polnisch-litauischen Adels aus den belarussischen Gebieten als Litwinen bezeichneten. So betonten sie die Verbindung zu ihrer aufgelösten Heimat (Litwa) und die Abgrenzung zur russischen Identität, von einer belarussischen Identität war damals noch keine große Rede. Größere Popularität erfuhr der Litwinismus schließlich in den 1980er Jahren mit den populärwissenschaftlichen Schriften von Mikola Jermalowitsch (1921–2000), der das Großfürstentum als „belarussischen“ Staat und Vilnius als eine „belarussische“ Gründung beschrieb und die Rolle der Balten und Litauer in diesen Prozessen unter den Tisch kehrte. Der Historiker Aliaksei Lastouski unterstreicht, dass diese Sichtweise in der seriösen Forschung nie Anklang gefunden hat, dort wird das Großfürstentum als litauisch-belarussischer Staat gesehen.
Seit den Massenprotesten von 2020 und den Repressionen in Belarus hat Litauen, wo insgesamt nur 2,88 Millionen Menschen leben, mehr als 30.000 Belarussen aufgenommen. Deswegen birgt der Litwinismus in der aktuellen Situation, wo das litauische Sicherheitsempfinden durch das von Russland abhängige Lukaschenko-Regime zusehends beeinträchtigt wird, und radikale Kräfte versuchen, die belarussischen Neuankömmlinge in Litauen zu diskreditieren und gegen die litauische Gesellschaft aufzustacheln, durchaus Konfliktpotenzial. Es besteht die Gefahr, dass die exilierten Belarussen immer mehr als „Sicherheitsproblem“ diskreditiert werden. Beispielsweise äußerte sich der litauische Politiker Laurynas Kasčiūnas Mitte 2023 so: „Ich möchte nicht, dass in unserem Land eine Gemeinschaft entsteht, die die sogenannte litwinistische Ideologie predigt, die sich nicht nur das Großfürstentum Litauen aneignet, sondern auch behauptet, dass die wahren Litauer die Belarussen sind.“
Für eine Studie hat der belarussische Politologe Pjotr Rudkowski untersucht, welchen Narrativen sich der Litwinsmus bedient. Auf Pozirk zeigt er, wie Belarussen und Litauer in strittigen historischen Fragen zu einvernehmlichen Lösungen kommen können.
Was ist Litwinismus?
Der Begriff Litwinismus wird häufig nicht verwendet, um etwas zu beschreiben, sondern dient lediglich als mediales oder polemisches Etikett. Er beschreibt dann kein Phänomen, sondern soll allenfalls Aufmerksamkeit erregen.
Wenn wir dieses polemische Gerassel abtrennen und uns auf den Begriffsinhalt konzentrieren, führt er uns zu einer Deutungsart der Geschichte des Großfürstentums Litauen (Litwa). Folgende Thesen werden häufig mit Litwinismus in Verbindung gebracht:
- Das historische Litauen (in vielen slawischen Sprachen heißt Litauen Litwa) befand sich auf ethnisch slawischem (belarussischem) Gebiet.
- Bezeichnungen wie Litwa und Litwine bezeichnen in historischen Quellen in erster Linie die slawische (belarussische) Bevölkerung des Großfürstentums Litauen.
- Vilnius/ Wilnja (oder der hypothetische Vorläufer, die Urstadt der Kriwitschen) wurde von Slawen (Belarussen) gegründet.
- Die slawische Sprache, die man im Großfürstentum Litauen sprach, war Belarussisch, die slawische Bevölkerung des Großfürstentums waren überwiegend Belarussen.
- Die Belarussen (mit ihren verschiedenen historischen Bezeichnungen) waren kulturell höher entwickelt und konnten daher einen bedeutenden Teil der baltischen Bevölkerung kulturell assimilieren.
Jede dieser fünf Thesen kann mit unterschiedlichem Grad an Überzeugung und Nachdruck vorgetragen werden. Manche sagen: „Es ist offensichtlich, dass sich das historische Litauen auf ethnisch belarussischem Gebiet befand.“ Andere formulieren „es kann sein“, und wieder andere vorsichtig: „Es gibt die Hypothese“.
In Wirklichkeit ist die Diskussion über den Litwinismus ein Streit über die Lesart der belarussischen Geschichte, die während der Zeit der nationalen Wiedergeburt (belaruss. adradshenne) entstand. Diese Version wurde im Lauf der Zeit teilweise in die offizielle Ideologie des belarussischen Regimes integriert. Da das Thema durchaus kompliziert ist, gehen wir darauf an dieser Stelle nicht genauer ein. Für die vorliegende Analyse lassen wir diese staatliche Ideologie der Minsker Machthaber beiseite und konzentrieren uns auf das belarussische Narrativ der Wiedergeburt. Umso mehr, da der Ausgangspunkt dieser Analyse ein Disput der Litauer mit der belarussischen Opposition ist.
Tabelle der Differenzen
Durch Vergleich und Gegenüberstellung lassen sich die Dinge verdeutlichen. Um die Wurzeln der Auseinandersetzung um den Litwinismus zu verstehen, betrachten wir die typische litauische und die typische belarussisch-wiedergeburtliche Sichtweise auf das Großfürstentum Litauen.
Zunächst aber einige Worte darüber, wie die „typische Sichtweise“ rekonstruiert wurde. Als Grundlage der Analyse dienten 20 belarussische und 18 litauische, sowohl wissenschaftliche als auch populärwissenschaftliche, Quellen: Enzyklopädien, Lehrwerke, Wikipedia-Artikel sowie Videomaterial von Youtube.1
Folgendes Bild ergibt sich bei der Gegenüberstellung der wichtigsten Positionen der jeweiligen nationalen Geschichtsschreibung entlang fünf zentraler Themen, die mit dem Erbe des Großfürstentums Litauen verbunden sind.
Belarussisch-wiedergeburtliche versus litauische Narrative über das Großfürstentum Litauen (Abkürzung GFL):
Beträchtliche Widersprüche liegen also auf der Hand. Wir betonen noch einmal: Dieser Vergleich basiert nicht auf publizistischen Quellen, nicht auf Material aus Blogs oder Aufrufen, sondern auf der Analyse seriöser Quellen, also wissenschaftlicher Monografien, Enzyklopädien, Lehrbücher und konzeptioneller Forschungen. Bildlich gesprochen: Diese Positionen sind vielleicht nicht in Stein gemeißelt, aber sicher auch nicht auf Sand gebaut. Es sind gefestigte Narrative, die das moderne historiografische Denken in Belarus und Litauen prägen.
Wie man kultiviert streitet: Fünf praktische Erwägungen
Bei der Frage zum Litwinismus, also zur Deutung der Geschichte des Großfürstentums Litauen, nützt es weder zu behaupten, es gäbe keine Differenzen (die gibt es), noch zu sagen, es ginge nur um Randmeinungen (sie sind keineswegs marginal).
Vor uns stehen also zwei Aufgaben: Wie führen wir einen kultivierten Streit über ein Thema, bei dem Differenzen unvermeidbar sind? Und zweitens: Wie vermeiden wir eine Eskalation?
Wie bereits erwähnt, werden die unterschiedlichen Thesen im Rahmen der „litwinistischen“ Diskussion mit unterschiedlichem Grad an Überzeugung vorgetragen: Von „das ist offensichtlich“ und „es ist zweifellos eine Tatsache“ hin zu vorsichtigeren Formulierungen wie „vielleicht“, „es gibt die Hypothese“ und „es ist nicht ausgeschlossen, dass“.
Hier ist nicht genug Raum, um die Faktenbasis die zwei Thesenstränge aus der Tabelle detailliert darzulegen. Es genügt anzumerken, dass keine einzige dieser Thesen, weder die belarussischen noch die litauischen Versionen, den Status einer zweifelsfreien Tatsache hat. Sie alle sind entweder Interpretation oder Produkte narrativer Konstruktion.
Auf dieser Grundlage und ausgehend von der Vergleichsanalyse, formulieren wir fünf praktische Überlegungen. Zwei sind vornehmlich an die belarussische, zwei an die litauische Seite gerichtet, und die letzte explizit an beide Seiten.
An die belarussische Seite:
1. Ein Dialog ist praktisch unmöglich, solange die belarussische Seite auf ihrer strikten belaruszentristischen Position beharrt.
Damit ist eine Betrachtung gemeint, dass das Großfürstentums Litauen ein ausschließlich belarussischer Staat ist, wobei die Schlüsselthesen, Vilnius sei von Belarussen gegründet worden und die Belarussen hätten im Fürstentum eine zentrale Rolle gespielt, als unstrittige Fakten gelten und alternative Versionen ausgeschlossen werden.
Wer einen solchen Ansatz unterstützt oder mit ihm sympathisiert, muss klar sehen: Entweder geht der Kurs in Richtung Dialog und konstruktive Zusammenarbeit mit Litauen, oder es gibt langfristige Feindseligkeit, die Belarus wahrscheinlich keinen Nutzen bringt.
2. Ein milder Belaruszentrismus, der den belarussischen Anteil am Großfürstentum akzentuiert, die Beteiligung der Litauer aber nicht negiert, schließt die Möglichkeit eines Dialogs nicht aus, verspricht aber auch nicht, dass er leicht wird.
Man muss damit rechnen, dass trotz der Vielfalt der Meinungen im litauischen Diskurs ein gefestigter Konsens bestehen bleibt, dass das moderne Litauen der direkte Nachfolger des Großfürstentums ist.
An die litauische Seite:
3. Die litauische Seite muss ernsthaft darüber nachdenken, was die von ihr präferierte historische Perspektive für die Praxis bedeutet.
Stellen wir uns einmal vor, die Belarussen akzeptieren plötzlich die Geschichtsdeutung, dass die Litauer das ausschließliche Hoheitsrecht bei der Entstehung und Ausweitung des Großfürstentums hatten. Kann eine solch „triumphale“ Anerkennung Litauen wirklich nutzen?
Ein solcher „Sieg“ kann in eine Illusion münden: Die Belarussen müssten die Litauer in diesem Fall nicht als Mitstreiter, sondern als Unterdrücker betrachten und den Zerfall des Großfürstentums nicht als Tragödie, sondern als Befreiungsprozess.
Darüber hinaus sieht jede Ideologie, die auf der Logik der Befreiung aus der Unterdrückung gründet, eine moralische Diskreditierung der Unterdrücker vor. In einem solchen Narrativ müssten die Belarussen den Litauern die Rolle der historischen Okkupanten zuschreiben, mit allen damit verbundenen moralischen und politischen Folgen.
4. Auch kann es eine Falle sein, wenn die litauische Seite sich bemüht, die Konzepte „belarussisch“ und „russisch/rusinisch“ strikt auseinanderzuhalten, wenn es um die slawische Komponente des Großfürstentums geht.
Das kommt besonders in der Tendenz zum Ausdruck, jegliche Assoziation zwischen der Kanzleisprache des Großfürstentums und der belarussischen Sprache zu vermeiden, genau wie zwischen der slawischen Bevölkerung des Großfürstentums und den Belarussen.
Einigen litauischen Autoren mag es scheinen, dass diese Trennung das „geringere Übel“ ist, da es den Belarussen die Grundlage nimmt, Anspruch auf das Erbe des Großfürstentums zu erheben.
Aber ein warmes Plätzchen weckt viel Begehr. Die Tatsache, dass die Kanzleisprache und die Mehrheit der Bevölkerung im Großfürstentum slawisch waren, ist nicht zu leugnen. Wenn die Belarussen nicht das Recht haben, die Nachfolge des slawischen Anteils des Großfürstentums anzutreten (weil man behauptet, es waren nicht Belarussen, sondern „Russen/Rusinen“), dann eröffnet das dem Russki Mir Tür und Tor, seine Erbfolge zu erklären. Eine solche Argumentation kann demnach nicht nur Moskaus Ansprüche auf Belarus legitimieren, sondern auch Moskaus ideologischen Druck auf Litauen erhöhen.
Allgemeine Schlussfolgerung für beide Seiten:
5. Von all diesen möglichen Deutungsansätzen der Geschichte des Großfürstentums hat natürlich die litauisch-belarussische Ökumene das größte Potential für einen Dialog – also ein Verständnis des Großfürstentums Litauen als multiethnischem oder Vielvölkerstaat, in Bezug auf den man nicht behaupten kann, dass eines der Völker oder sprachlich-kulturelle Gruppen „bedeutender“ als andere gewesen sei.
In Reinform begegnet man einer solchen Position selten, aber Ansätze dazu findet man bei einigen Diskussionen und einzelnen Autoren auf beiden Seiten. Diese Position kann die Grundlage für gegenseitige Anerkennung und Achtung für die historische Erinnerung bilden.