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Ringen um ein gemeinsames Erbe – Belarus und Litauen

In diesem Beitrag steigen wir tief hinein in die belarussische und litauische Geschichte. Im Kern geht es dabei um einen aktuellen Streit, der auf nationalgeschichtliche Narrative zurückgeht, die schwerlich geeignet sind, in konstruktiver, konfliktfreier Form das Erbe von historischen multikulturellen Herrschaftsbereichen abzubilden. Worum geht es? 

 

Tatsächlich teilen Litauer und Belarussen eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte. Seit dem 13. Jahrhundert lebten sie zusammen im Großfürstentum Litauen und ab Mitte des 16. Jahrhundert in der polnisch-litauischen Adelsrepublik, die Ende des 18. Jahrhunderts zwischen Preußen, Habsburg und Russland aufgeteilt wurde. Damit gelangten belarussische Gebiete vollständig unter die Herrschaft des russischen Zarenreiches. So viel ineinander verwebte Geschichte birgt viel Konfliktpotenzial, wenn es zu solchen Fragen kommt: Wer hat das Großfürstentum Litauen geprägt – Litauer oder Belarussen? War dieses Staatswesen im Kern ein litauischer oder ein belarussischer Staat?  

Auf belarussischer Seite hat sich sogar ein Begriff etabliert, der das „Belarussische“ im Streit um das Erbe des Großfürstentum Litauen hervorhebt: Litwinismus. Der Begriff geht auf das 19. Jahrhundert zurück, als sich Vertreter des polnisch-litauischen Adels aus den belarussischen Gebieten als Litwinen bezeichneten. So betonten sie die Verbindung zu ihrer aufgelösten Heimat (Litwa) und die Abgrenzung zur russischen Identität, von einer belarussischen Identität war damals noch keine große Rede. Größere Popularität erfuhr der Litwinismus schließlich in den 1980er Jahren mit den populärwissenschaftlichen Schriften von Mikola Jermalowitsch (1921–2000), der das Großfürstentum als „belarussischen“ Staat und Vilnius als eine „belarussische“ Gründung beschrieb und die Rolle der Balten und Litauer in diesen Prozessen unter den Tisch kehrte. Der Historiker Aliaksei Lastouski unterstreicht, dass diese Sichtweise in der seriösen Forschung nie Anklang gefunden hat, dort wird das Großfürstentum als litauisch-belarussischer Staat gesehen.  

Seit den Massenprotesten von 2020 und den Repressionen in Belarus hat Litauen, wo insgesamt nur 2,88 Millionen Menschen leben, mehr als 30.000 Belarussen aufgenommen. Deswegen birgt der Litwinismus in der aktuellen Situation, wo das litauische Sicherheitsempfinden durch das von Russland abhängige Lukaschenko-Regime zusehends beeinträchtigt wird, und radikale Kräfte versuchen, die belarussischen Neuankömmlinge in Litauen zu diskreditieren und gegen die litauische Gesellschaft aufzustacheln, durchaus Konfliktpotenzial. Es besteht die Gefahr, dass die exilierten Belarussen immer mehr als „Sicherheitsproblem“ diskreditiert werden. Beispielsweise äußerte sich der litauische Politiker Laurynas Kasčiūnas Mitte 2023 so: „Ich möchte nicht, dass in unserem Land eine Gemeinschaft entsteht, die die sogenannte litwinistische Ideologie predigt, die sich nicht nur das Großfürstentum Litauen aneignet, sondern auch behauptet, dass die wahren Litauer die Belarussen sind.“  

Für eine Studie hat der belarussische Politologe Pjotr Rudkowski untersucht, welchen Narrativen sich der Litwinsmus bedient. Auf Pozirk zeigt er, wie Belarussen und Litauer in strittigen historischen Fragen zu einvernehmlichen Lösungen kommen können. 

Quelle Pozirk – Nawіny pra Belarus

Was ist Litwinismus?

Der Begriff Litwinismus wird häufig nicht verwendet, um etwas zu beschreiben, sondern dient lediglich als mediales oder polemisches Etikett. Er beschreibt dann kein Phänomen, sondern soll allenfalls Aufmerksamkeit erregen. 

Wenn wir dieses polemische Gerassel abtrennen und uns auf den Begriffsinhalt konzentrieren, führt er uns zu einer Deutungsart der Geschichte des Großfürstentums Litauen (Litwa). Folgende Thesen werden häufig mit Litwinismus in Verbindung gebracht: 

  1. Das historische Litauen (in vielen slawischen Sprachen heißt Litauen Litwa) befand sich auf ethnisch slawischem (belarussischem) Gebiet. 
  2. Bezeichnungen wie Litwa und Litwine bezeichnen in historischen Quellen in erster Linie die slawische (belarussische) Bevölkerung des Großfürstentums Litauen. 
  3. Vilnius/ Wilnja (oder der hypothetische Vorläufer, die Urstadt der Kriwitschen) wurde von Slawen (Belarussen) gegründet. 
  4. Die slawische Sprache, die man im Großfürstentum Litauen sprach, war Belarussisch, die slawische Bevölkerung des Großfürstentums waren überwiegend Belarussen. 
  5. Die Belarussen (mit ihren verschiedenen historischen Bezeichnungen) waren kulturell höher entwickelt und konnten daher einen bedeutenden Teil der baltischen Bevölkerung kulturell assimilieren. 

 

Jede dieser fünf Thesen kann mit unterschiedlichem Grad an Überzeugung und Nachdruck vorgetragen werden. Manche sagen: „Es ist offensichtlich, dass sich das historische Litauen auf ethnisch belarussischem Gebiet befand.“ Andere formulieren „es kann sein“, und wieder andere vorsichtig: „Es gibt die Hypothese“. 

In Wirklichkeit ist die Diskussion über den Litwinismus ein Streit über die Lesart der belarussischen Geschichte, die während der Zeit der nationalen Wiedergeburt (belaruss. adradshenne) entstand. Diese Version wurde im Lauf der Zeit teilweise in die offizielle Ideologie des belarussischen Regimes integriert. Da das Thema durchaus kompliziert ist, gehen wir darauf an dieser Stelle nicht genauer ein. Für die vorliegende Analyse lassen wir diese staatliche Ideologie der Minsker Machthaber beiseite und konzentrieren uns auf das belarussische Narrativ der Wiedergeburt. Umso mehr, da der Ausgangspunkt dieser Analyse ein Disput der Litauer mit der belarussischen Opposition ist. 

Das Großfürstentum Litauen und das Königreich Polen im 18. Jahrhundert auf einer Karte des Franzosen Jean Baptiste Louis Clouet (ca. 1730 – 1790) / Abbildung © public domain

Tabelle der Differenzen 

Durch Vergleich und Gegenüberstellung lassen sich die Dinge verdeutlichen. Um die Wurzeln der Auseinandersetzung um den Litwinismus zu verstehen, betrachten wir die typische litauische und die typische belarussisch-wiedergeburtliche Sichtweise auf das Großfürstentum Litauen. 

Zunächst aber einige Worte darüber, wie die „typische Sichtweise“ rekonstruiert wurde. Als Grundlage der Analyse dienten 20 belarussische und 18 litauische, sowohl wissenschaftliche als auch populärwissenschaftliche, Quellen: Enzyklopädien, Lehrwerke, Wikipedia-Artikel sowie Videomaterial von Youtube.1 

Folgendes Bild ergibt sich bei der Gegenüberstellung der wichtigsten Positionen der jeweiligen nationalen Geschichtsschreibung entlang fünf zentraler Themen, die mit dem Erbe des Großfürstentums Litauen verbunden sind. 

Belarussisch-wiedergeburtliche versus litauische Narrative über das Großfürstentum Litauen (Abkürzung GFL):  

Beträchtliche Widersprüche liegen also auf der Hand. Wir betonen noch einmal: Dieser Vergleich basiert nicht auf publizistischen Quellen, nicht auf Material aus Blogs oder Aufrufen, sondern auf der Analyse seriöser Quellen, also wissenschaftlicher Monografien, Enzyklopädien, Lehrbücher und konzeptioneller Forschungen. Bildlich gesprochen: Diese Positionen sind vielleicht nicht in Stein gemeißelt, aber sicher auch nicht auf Sand gebaut. Es sind gefestigte Narrative, die das moderne historiografische Denken in Belarus und Litauen prägen. 

 

Wie man kultiviert streitet: Fünf praktische Erwägungen 

Bei der Frage zum Litwinismus, also zur Deutung der Geschichte des Großfürstentums Litauen, nützt es weder zu behaupten, es gäbe keine Differenzen (die gibt es), noch zu sagen, es ginge nur um Randmeinungen (sie sind keineswegs marginal). 

Vor uns stehen also zwei Aufgaben: Wie führen wir einen kultivierten Streit über ein Thema, bei dem Differenzen unvermeidbar sind? Und zweitens: Wie vermeiden wir eine Eskalation?  

Wie bereits erwähnt, werden die unterschiedlichen Thesen im Rahmen der „litwinistischen“ Diskussion mit unterschiedlichem Grad an Überzeugung vorgetragen: Von „das ist offensichtlich“ und „es ist zweifellos eine Tatsache“ hin zu vorsichtigeren Formulierungen wie „vielleicht“, „es gibt die Hypothese“ und „es ist nicht ausgeschlossen, dass“. 

Hier ist nicht genug Raum, um die Faktenbasis die zwei Thesenstränge aus der Tabelle detailliert darzulegen. Es genügt anzumerken, dass keine einzige dieser Thesen, weder die belarussischen noch die litauischen Versionen, den Status einer zweifelsfreien Tatsache hat. Sie alle sind entweder Interpretation oder Produkte narrativer Konstruktion. 

Auf dieser Grundlage und ausgehend von der Vergleichsanalyse, formulieren wir fünf praktische Überlegungen. Zwei sind vornehmlich an die belarussische, zwei an die litauische Seite gerichtet, und die letzte explizit an beide Seiten. 

An die belarussische Seite: 

1. Ein Dialog ist praktisch unmöglich, solange die belarussische Seite auf ihrer strikten belaruszentristischen Position beharrt. 

Damit ist eine Betrachtung gemeint, dass das Großfürstentums Litauen ein ausschließlich belarussischer Staat ist, wobei die Schlüsselthesen, Vilnius sei von Belarussen gegründet worden und die Belarussen hätten im Fürstentum eine zentrale Rolle gespielt, als unstrittige Fakten gelten und alternative Versionen ausgeschlossen werden.  

Wer einen solchen Ansatz unterstützt oder mit ihm sympathisiert, muss klar sehen: Entweder geht der Kurs in Richtung Dialog und konstruktive Zusammenarbeit mit Litauen, oder es gibt langfristige Feindseligkeit, die Belarus wahrscheinlich keinen Nutzen bringt.  

2. Ein milder Belaruszentrismus, der den belarussischen Anteil am Großfürstentum akzentuiert, die Beteiligung der Litauer aber nicht negiert, schließt die Möglichkeit eines Dialogs nicht aus, verspricht aber auch nicht, dass er leicht wird.  

Man muss damit rechnen, dass trotz der Vielfalt der Meinungen im litauischen Diskurs ein gefestigter Konsens bestehen bleibt, dass das moderne Litauen der direkte Nachfolger des Großfürstentums ist. 

An die litauische Seite: 

3. Die litauische Seite muss ernsthaft darüber nachdenken, was die von ihr präferierte historische Perspektive für die Praxis bedeutet. 

Stellen wir uns einmal vor, die Belarussen akzeptieren plötzlich die Geschichtsdeutung, dass die Litauer das ausschließliche Hoheitsrecht bei der Entstehung und Ausweitung des Großfürstentums hatten. Kann eine solch „triumphale“ Anerkennung Litauen wirklich nutzen? 

Ein solcher „Sieg“ kann in eine Illusion münden: Die Belarussen müssten die Litauer in diesem Fall nicht als Mitstreiter, sondern als Unterdrücker betrachten und den Zerfall des Großfürstentums nicht als Tragödie, sondern als Befreiungsprozess. 

Darüber hinaus sieht jede Ideologie, die auf der Logik der Befreiung aus der Unterdrückung gründet, eine moralische Diskreditierung der Unterdrücker vor. In einem solchen Narrativ müssten die Belarussen den Litauern die Rolle der historischen Okkupanten zuschreiben, mit allen damit verbundenen moralischen und politischen Folgen.  

4. Auch kann es eine Falle sein, wenn die litauische Seite sich bemüht, die Konzepte „belarussisch“ und „russisch/rusinisch“ strikt auseinanderzuhalten, wenn es um die slawische Komponente des Großfürstentums geht.  

Das kommt besonders in der Tendenz zum Ausdruck, jegliche Assoziation zwischen der Kanzleisprache des Großfürstentums und der belarussischen Sprache zu vermeiden, genau wie zwischen der slawischen Bevölkerung des Großfürstentums und den Belarussen.  

Einigen litauischen Autoren mag es scheinen, dass diese Trennung das „geringere Übel“ ist, da es den Belarussen die Grundlage nimmt, Anspruch auf das Erbe des Großfürstentums zu erheben. 

Aber ein warmes Plätzchen weckt viel Begehr. Die Tatsache, dass die Kanzleisprache und die Mehrheit der Bevölkerung im Großfürstentum slawisch waren, ist nicht zu leugnen. Wenn die Belarussen nicht das Recht haben, die Nachfolge des slawischen Anteils des Großfürstentums anzutreten (weil man behauptet, es waren nicht Belarussen, sondern „Russen/Rusinen“), dann eröffnet das dem Russki Mir Tür und Tor, seine Erbfolge zu erklären. Eine solche Argumentation kann demnach nicht nur Moskaus Ansprüche auf Belarus legitimieren, sondern auch Moskaus ideologischen Druck auf Litauen erhöhen.    

Allgemeine Schlussfolgerung für beide Seiten: 

5. Von all diesen möglichen Deutungsansätzen der Geschichte des Großfürstentums hat natürlich die litauisch-belarussische Ökumene das größte Potential für einen Dialog – also ein Verständnis des Großfürstentums Litauen als multiethnischem oder Vielvölkerstaat, in Bezug auf den man nicht behaupten kann, dass eines der Völker oder sprachlich-kulturelle Gruppen „bedeutender“ als andere gewesen sei. 

In Reinform begegnet man einer solchen Position selten, aber Ansätze dazu findet man bei einigen Diskussionen und einzelnen Autoren auf beiden Seiten. Diese Position kann die Grundlage für gegenseitige Anerkennung und Achtung für die historische Erinnerung bilden.    


1 Auf die konkrete Auswahl dieser Quellen und die angewandten Kriterien wird ein wissenschaftlicher Artikel eingehen, der Anfang 2026 erscheinen soll. 
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Die Stadt Polazk

Polazk war eines der wichtigsten Zentren der früheren Rus’. Im Spätmittelalter entwickelte sich dort ein Ständesystem mit Teilhabe. Erst 1772 beziehungsweise 1793 wurde die Stadt Teil des Russischen Reichs. Die Umwälzungen von Polazk im 19. Jahrhundert sind Beispiel für die russische Kolonisierungspolitik an der Peripherie des Zarenreichs. 

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Die Stadt Polazk

Polazk ist ab dem 7. Jahrhundert zunächst als sehr kleine Siedlung an der mittleren Düna nachweisbar. Im 9. Jahrhundert festigte sich dort unter dem Eindruck von Warägerüberfällen eine weiträumige Herrschaft über Balten und Slawen. Der Ort blieb im 11. Jahrhundert in der Hand einer warägischen Fürstendynastie. Im 12. Jahrhundert war Polazk als Bischofs- und Fürstensitz neben Kyjiw und Nowgorod einer der ältesten, wichtigsten und insgesamt wenigen wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunkte der Rus’. Über skandinavische und polnische Kontakte kam die Stadt früh und in der Folge immer stärker mit lateineuropäischen Einflüssen in Berührung, welche die gesamte weitere Entwicklung von Polazk prägten. Nachdem es erst im ausgehenden 18. Jahrhundert Teil des Russländischen Imperiums geworden war, folgte im 19. Jahrhundert eine imperiale Politik der Russifizierung. Die Umwälzungen, die Polazk erlebte, dienen als Beispiel für die russische imaginierte „innere Kolonisierung“ an der neuen Peripherie des Reichs. 

Die Sophienkathedrale von Polazk. Bild © CC-BY-SA 3.0/ Youdjin 

Große, zeitweise die meisten Gebiete der heutigen Republik Belarus lagen im Herrschaftsgebiet der Fürsten von Polazk, bis sie mit der Ausweitung des Großfürstentums Litauen im 13. und dauerhaft zu Beginn des 14. Jahrhunderts in dieses und sodann in Polen-Litauen übergingen. Polazk und ganz Ruthenien – das heißt die Ukraine, Belarus und große Teile Litauens – waren über die Jahrhunderte strukturelle Bestandteile der Vielvölkerrepublik Polen-Litauen: In ihr entstand eine transregional verflochtene, aber vor Ort verdichtete „Kommunikationsgemeinschaft“ von Katholiken, Orthodoxen, Unierten, Protestanten, Juden, Armeniern und auch muslimischen Tataren. Sie richteten ihre Lebensformen an den gemeinsamen Mustern des Ständestaates aus, der von mit Privilegien ausgestatteten Adligen und Stadtbürgern getragen wurde.1 Damit und im jeweils mehr oder weniger starken Rückbezug auf dieses Erbe unterschied und unterscheiden sich Polazk und die ganze Region vom Moskauer Herrschaftsbereich: In diesem gab es – bis zur Einverleibung eben dieser polnisch-litauischen Gebiete – neben der Orthodoxie und erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts nur noch eine muslimische Bevölkerung, aber keine anderen zugelassenen christlichen Konfessionen oder Juden. Auch gab es bis ins 19. Jahrhundert keine vergleichbar mit Privilegien verbürgte, wenigstens teilweise autonome lokale ständestaatliche adlige und städtische, insgesamt republikanische Selbstverwaltung.   

Grundlegender Wandel der Kerngebiete der Rus’ in Polen-Litauen  

Anders war das in Polazk: Dort vollzogen sich nach 1380 tiefgreifende Wandlungen nach mitteleuropäischem Vorbild. Zu wesentlichen Veränderungen in den örtlichen gesellschaftlichen Handlungskontexten kam es, als der Großfürst den Teilfürsten Ende des 14. Jahrhunderts durch einen Statthalter ersetzte. Weil dieser häufig nicht in der Polazker Burg residierte, und auch der orthodoxe Adel und die Städter nach 1430 mit Privilegien ausgestattet wurden, erhielten diese mehr Freiraum: Im Widerspruch zu Thesen belarusischer und russischer Historiker ‚überlebte‘ das „Wetsche“ – das waren burgstädtische Versammlungen des 12. Jahrhunderts – nicht. Diese Versammlungen hatten damals dafür gesorgt, dass schwächere Fürsten in Krisensituationen abgesetzt und neue ernannt werden konnten. Nach 1380 bildeten sich aber neue Versammlungsformen, mit ganz anderen Zuständigkeitsbereichen heraus: Sie befassten sich jenseits von Herrschaftskrisen mit alltäglichen, insbesondere handelsrechtlichen Dingen einer sich herausbildenden städtischen Gemeinde. Als wichtigstes Vorbild dienten damals die Selbstverwaltungseinrichtungen westlich gelegener Nachbarstädte wie Riga und Vilnius. Schließlich, allerdings erst mit der Verleihung des Magdeburger Stadtrechts 1498, gab es auch in Polazk ein Organ, das die weitreichenden Befugnisse und festen Konturen eines typischen Stadtrates aufwies.  

Im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts versammelte sich der Adel des Landes Polazk in der Burg nach polnischem Muster zu Landtagen. Nachdem er sich infolge der Standesprivilegien vom Träger der lokalen Macht gelöst hatte, begann er sich politisch zu emanzipieren. Nach Vorbild des polnischen Adels entwickelte sich die zuvor gefolgschaftlich auf den Fürsten fixierte Bojarenschaft zum staatstragenden Stand. 

Der orthodoxe Klerus verlor im Zuge dieser Entwicklung schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts das Monopol über Bildung und Religion: In der Stadt entstanden zwei katholische Klöster und eine calvinistische Kirche. Es erscheinen erste Hinweise auf eine jüdische Gemeinde. Einzelne Mitglieder der ruthenischen Elite studierten an den Universitäten Mitteleuropas. Zu ihnen zählte auf Polazker Seite der später bedeutende Sohn eines Kaufmanns: der Buchdrucker Franzysk Skorina. Im Zuge der Gegenreformation festigten sich in der Stadt der Frühneuzeit zahlreiche konfessionelle Identitäten in wechselseitiger Konkurrenz. Die Union von Brest 1596 erfolgte dabei nicht unmittelbar als staatliche Maßnahme, sondern als Initiative, die genauso auf die orthodoxen Bischöfe zurückging. Damit entstand die griechisch-katholische Kirche, die dem Papst von Rom unterstellt war. 

Eine Gravur von Giovanni Battista Cavalieri (von 1580) – gemäß einer Abbildung von Stanisław Pachołowiecki – zeigt Polazk im 16. Jahrhundert. Bild © gemeinfrei

Wettstreit der Konfessionen 

Im folgenden konfessionellen Konflikt wurde der unierte Erzbischof Josafat von Polazk 1623 durch Orthodoxe in Wizebsk getötet. Er hatte die griechisch-katholische Kirche – auch mit unnachgiebigen Mitteln – vorangetrieben. Die Umsetzung der Union war tatsächlich erst im ausgehenden 17. Jahrhundert auf breiter Ebene erfolgreich, sodass bis zu den Teilungen Polen-Litauens diese griechisch-katholische Kirche im heutigen Belarus’ und in der Ukraine – neben der römisch-katholischen Kirche – gegenüber der Orthodoxie vorherrschte. In diesem zwischenkonfessionellen Streit und Austausch entstanden nach dem lateinischen, gegenreformatorischen Muster nach 1600 zahlreiche orthodoxe Laienbruderschaften, die sich für die Verbesserung von Bildung und für den Buchdruck in der Nachfolge von Skorina einsetzten. 

Solche, im Vergleich zu Moskau ältere ruthenische Regionen wie Polazk grenzten sich seit dem 13. und 14. Jahrhundert im Großfürstentum Litauen und später, ab 1569, innerhalb der politischen Nation Polen-Litauens als Bewohner der Rus’ und Rutheniens von den Bewohnern des Moskauer Herrschaftsbereichs, das heißt gegenüber den „Moskauern“ und später den „Russen“, klar ab.2 Ihr Selbstverständnis war es, sich als „rusisches“ oder „ruthenisches Volk“ zu betrachten. Innerhalb Litauens, dann Polen-Litauens, handelten diese Regionen politische Partizipation aus – auf der Grundlage von Privilegien nach lateineuropäischem Muster. Diese ständestaatliche Teilhabe, von der – anders als die Bauern – Städter und Adlige sowie Kleriker profitierten, stand im Gegensatz zur Moskauer Gesellschaft, wo sich die Autokratie durchsetzte.  

Dieser Gegensatz war zentral für lokales Geschichtsbewusstsein und wurde auch bewusst inszeniert, wie das Beispiel von Polazk zeigt: Unter der Überschrift „Vom Polazker Venedig oder über die Polazker Freiheit“ („O Polockoj Venecei abo svobodnosti“) berichtet etwa ein Abschnitt einer Chronik der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert in ruthenischer Sprache von der legendären Freiheit, derer sich die Polazker „Republik“ im 13. Jahrhundert erfreut haben soll. Tatsächlich aber pries man so in Form der lokalen, frühneuzeitlich-humanistischen Aneignung einen idealen Republikanismus im Sinne der Adelsrepublik Venedig.3  

Erfundene Ansprüche Russlands und Russifizierung im 19. Jahrhundert 

Ukrainische und belarusische Geschichte steht auch in Deutschland bis heute weithin im Schatten nationalimperialer, russländischer Aneigungserzählungen. So waren die erst seit dem 19. Jahrhundert als „Westrussland“, „Nordwest-“ oder „Südwestrussland“ bezeichneten Gebiete genauso wenig frühere Bestandteile des Moskauer Herrschaftsgebietes, wie die ebenfalls mit den Teilungen Polen-Litauens neu geschaffenen Provinzen „Südpreußen“ und „Neuostpreußen“ (anders als diese Namen suggerieren sollten) einmal angestammte Teile „Deutschlands“ oder Preußens gewesen waren: Bei all diesen Regionen handelt es sich vielmehr um historische Kerngebiete der Vielvölkerrepublik Polen-Litauen. Die neuen Provinzen des Imperiums wurden als wiedergewonnene, vor Jahrhunderten angeblich verlorengegangen Gebiete imaginiert. Unter diesem Vorwand wurden sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts wie im Falle von Belarus’ und der Ukraine schließlich russisch, imperial (sowie vermehrt national) kolonialisiert. 

Diese Politik wurde nach dem ersten polnischen Aufstand von 1831 und insbesondere nach dem zweiten Aufstand von 1863 massiv verstärkt. So wie die neue Provinz Posen innerhalb des Deutschen Kaiserreichs nach 1866 einer starken Germanisierungspolitik ausgesetzt wurde, überzog das Russländische Imperium die neuen Gebiete der „Russifizierung (obrusenie)“. Diese Politik wurde durch die imperiale russischnationale Erzählung legitimiert, Polen-Litauen sei im Spätmittelalter vorübergehend in Gebiete vorgestoßen, die eigentlich zu Russland gehörten – denn tatsächlich müsse man die mittelalterliche Rus’ mit Russland gleichsetzen. Dabei handelt es sich um eine klassische „erfundene Tradition“: Gerade die erwähnten frühneuzeitlichen orthodoxen Bruderschaften dienten der im 19. Jahrhundert entstehenden russischen nationalen Geschichtsschreibung und in deren regionaler Spielart, im „Westrussismus“ („Sapadnorussism“), dazu, zur ganzen Region einen russischen Bezug herzustellen. Ihr Ursprung, so wurde fälschlich behauptet, reichte bis in die Zeit der Rus’ zurück. Sie galten ihnen demnach als wichtige Zeugen eines „Kampfes“ der orthodoxen Bevölkerung Polen-Litauens gegen das „Lateinertum“ („latinstvo“), den Moskau unterstützt habe – und der dann mit den Teilungen Polen-Litauens sowie der Auflösung der Union 1839 in Russland (aber nicht im habsburgischen Galizien) siegreich ausging.  

Im Jahr 2000 errichtetes Denkmal der Polazker Fürstentocher Euphrosyne vor dem Gebäude der heutigen Stadtverwaltung. Bild © CC BY-SA 3.0/Andrej Kuźniečyk 

Dieser konstruierte Rückbezug auf eine angeblich russische Geschichte der Region sollte zur Handlungsanweisung werden: In der Unterdrückung des Aufstands von 1863 wurde die explizite „Russifizierung“ dieses so genannten „Westlichen Gebiets“ („Sapadny krai“) zur offiziellen regionalen Politik. Im Mai 1864 wurde gerade zu diesem Zwecke eine von höchster Stelle gutgeheißene Musterordnung für neue „kirchliche Bruderschaften“ publiziert. Mit der „Nikolaj-und-Evfrosinija-Bruderschaft“ wurde bereits drei Jahre später die 19. dieser daraufhin neu gegründeten Bruderschaften gegründet. Sie bestand unter dem Dach eines nach preußischem Vorbild eingerichteten Militärgymnasiums, dem Polazker Kadettenkorps. Zuvor war in dem Gebäude noch die Jesuitenakademie untergebracht gewesen. Parallel zu diesen Entwicklungen reagierte auch die römisch-katholische Kirche auf die neue Welle der Orthodoxie, die die neue Zarenherrschaft über das Gebiet gebracht hatte: Im Juni 1867 folgte der Vatikan dem Wunsch polnischer Magnaten, Josafat von Polazk heiligzusprechen. Der Heilige Stuhl kanonisierte Josafat als Reaktion auf die russische Drangsalierung der katholischen Polen.  

Der frühneuzeitliche konfessionelle Zusammenhang war damit vergegenwärtigt worden, jedoch unter neuen, nationalen Vorzeichen. Josafats Todestag jährte sich 2023 zum mittlerweile 400. Mal: Die Feierlichkeiten standen für eine Rückbesinnung auf die griechisch-katholische Kirche, die heute in der Ukraine wieder bedeutsam ist. 

Das imaginierte „russische Volkstum“ im Polazker Land 

Laut der Satzung der „Nikolaj-und-Evfrosinija-Bruderschaft“ war es ihr unmittelbares Ziel, „der Regierung in der schweren Aufgabe der Russifizierung (obrusenie) dieser Gegend [zu] helfen“. Das Interesse des imaginierten „russischen Volkstums“ wurde an dem Vorbild ausgerichtet, das den russischen Wortführern vor Ort andere ethnokonfessionelle Gruppen im lokalen Alltag vorlebten: Nach Polazk zugezogene orthodoxe Lehrer und Militärs sowie Geistliche beschreiben das kollektive Handeln ihrer lokalen Glaubensgenossen im Vergleich zu dem der anderen ethnokonfessionellen Gemeinschaften vor Ort in zahlreichen Quellen als „schlecht organisiert“. In Konkurrenz zur nationalpolnisch geprägten katholischen Vereinsbewegung sowie zu den Bruderschaften der jüdischen Bevölkerung der Stadt, die zu diesem Zeitpunkt die absolute Mehrheit stellte, hielten die Autoren die Mobilisierung der „eigenen“ Gruppe für notwendig. Denn die stand nur für einen kleinen Teil der Stadtbevölkerung (1852: 19,5 Prozent, 1897: 27,5 Prozent). Bis zum Zusammenbruch des russischen Kaiserreichs blieb dies ihr erklärtes Ziel.  

Der Ausschluss jüdischer Vertreter aus der städtischen Selbstverwaltung 1892 sowie die Überführung der Gebeine der Euphrosyne, einer Polazker Fürstentocher des 12. Jahrhunderts, aus Kyjiw im Jahr 1910 nach Polazk bekräftigten diese Bemühungen zur Wiederherstellung eines vermeintlich nationalen Urzustandes. Euphrosyne war seit dem 12. Jahrhundert als heilig verehrt worden. Ihr Kult wurde im 18. Jahrhundert in Polen-Litauen von der Unierten Kirche stark gefördert und erst nach 1863 von russischen Wortführern für die Russifizierung von Polazk instrumentalisiert. So wurde das Eintreffen von Euphrosynes Gebeinen als so bedeutsam inszeniert, dass auch Mitglieder der Zarenfamilie dafür angereist waren. Im Fokus der nationalen und zugleich imperialen Imagination stand dabei ein als orthodox und rein russisch imaginiertes Mittelalter, in dem es in der Stadt Polazk keine dauerhaft ansässige jüdische oder katholische Bevölkerung gegeben hatte. Dieses Vorhaben der Russifizierung entsprach auch ganz den slawophilen Vorstellungen, was Iwan S. Aksakows Mitgliedschaft in der „Nikolaj-und-Evfrosinija-Bruderschaft“ bezeugt – von der Gründung der Bruderschaft bis zu seinem Tod 1886. Dieser Vorgang stand als imaginierte innere Kolonisierung des eigentlich Äußeren im direkten Zusammenhang mit der Politik Preußens. Diese hatte das Ziel, ehemals zentrale polnische Gebiete zu germanisieren: Im Unterschied zu den klassischen Kolonien in Übersee handelt es sich im östlichen Europa ähnlich wie in Irland in der Regel um imaginierte „innere Kolonisierungen“ vormalig äußerer Gebiete durch moderne und expansive, sich nationalisierende Imperien beziehungsweise sich imperial inszenierende Nationalstaaten.4


Anmerkung der Redaktion 

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 


Literatur in Auswahl 

 

Bartal, Israel. „Jews in the Crosshairs of Empire: A Franco-Russian Comparison“, in: E. Katz, L. M. Leff, M. S. Mandel (Hg.), Colonialism and the Jews, Bloomington 2017, S. 116–226. 
C’vikevič, Aljaksandr. „Zapadno-russizm“. Narysy z historyi hramadzkaj mys’li na Belarusi ŭ XIX i pačatku XX v, Mensk 1929, zweite Auflage Minsk 1993. 
Etkind, Alexander. Internal Colonization. Russia’s Imperial Experience, Cambridge 2011. 
Gasimov, Zaur. Kampf um Wort und Schrift. Russifizierung in Osteuropa im 19.–20. Jh. Göttingen, 2012.  
Healy, Róisín, Dal Lago, Enrico (Hg.). The Shadow of Colonialism on Europe's Modern Past. New York, 2014. 
Nelson, Robert. L. (Hg.). Germans, Poland, and Colonial Expansion to the East. 1850 through the Present, New York, 2009. 
Rohdewald, Stefan. „Vom Polocker Venedig.“ Kollektives Handeln sozialer Gruppen in einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, Frühe Neuzeit, 19. Jh. bis 1914), Stuttgart 2005. Open Access der belarusischen Übersetzung (Minsk 2020). 
Rohdewald, Stefan. Medium unierter konfessioneller Identität oder polnisch-ruthenischer Einigung? Zur Verehrung Josafat Kuncevyčs im 17. Jahrhundert, in: Yvonne Kleinmann (Hg.). Kommunikation durch symbolische Akte. Religiöse Heterogenität und politische Herrschaft in Polen-Litauen, Stuttgart 2010, S. 271–290. 
Rohdewald, Stefan. Ukrainische Geschichte dekolonial, transimperial und transregional vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Eine Einleitung, in: Ukraine und Ukrainische Geschichte unter Beschuss. Historische Perspektiven im transepochalen und transregionalen Zugriff. Gastherausgeber Stefan Rohdewald, Historische Mitteilungen 33 (2022 [erschienen 2023]), S. 7-32. 
Rohdewald, Stefan. „Vnešnjaja kolonizacija vnutrennego“ i „vnutrennjaja kolonizacija vnešnego“. oppozicionnye ėlity stolic vs. lojal’nye ėlity Zapadnogo kraja, 1830–1910, in: Aleksandr Ėtkind, Dirk Uffelmann, Il’ja Kukulin (Hg.). Tam, vnutri. Praktiki Vnutrennej kolonizacii v kul’turnoj istorii Rossii, (=Biblioteka žurnala neprikosnovennyj zapas, 23), Moskva 2012, S. 518–551. 
Rohdewald, Stefan / Frick, David / Wiederkehr, Stefan (Hg.). Litauen und Ruthenien. Studien zu einer transkulturellen Kommunikationsregion (15.–18. Jahrhundert)/ Lithuania and Ruthenia. Studies of a Transcultural Communication Zone (15th–18th Centuries), Wiesbaden 2007.  
Rohr, Eitel Karl. Russifizierungspolitik im Königreich Polen nach dem Januaraufstand 1863/1864, Berlin: Freie Univ., Diss., 2003. 
Rolf, Malte. Imperial Russian Rule in the Kingdom of Poland, 1864–1915. Pittsburgh 2021. 
Staliūnas, Darius. Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863, Amsterdam, 2007. 
Staliūnas, Darius, Aoshima, Yoko (Hg.), The Tsar, The Empire, and The Nation. Dilemmas of Nationalization in Russia's Western Borderlands, 1905–1915, Budapest New York: Central European University Press, 2021. 
Stamatopoulos, Dēmētrios. Imagined Empires. Tracing Imperial Nationalism in Eastern and Southeastern Europe, Budapest New York, 2021. 

 


1 Vgl. Stefan Rohdewald, David Frick, Stefan Wiederkehr (Hg.). Litauen und Ruthenien. Studien zu einer transkulturellen Kommunikationsregion (15.–18. Jahrhundert) / Lithuania and Ruthenia. Studies of a Transcultural Communication Zone (15th–18th Centuries), Wiesbaden 2007. Open Access: https://www.harrassowitz-verlag.de/titel_1270.ahtml. 
2 Frick, David. Meletij Smotryc’kyj and the Ruthenian Question in the Early Seventeenth Century. in: Harvard Ukrainian Studies 1984 8 (3/4), S. 351–375. 
3 „(...) sie herrschten in dieser Zeit frei über sich, und hatten keine Obrigkeit über sich, nur 30 Älterleute aus der Mitte ihrer Republik für das Gericht über die anstehenden Angelegenheiten, die sie sich als Senatoren gaben.“  
Wichtiger aber als diese Älterleute seien ihre Versammlungen gewesen, die zusammengerufen wurden „auf den Schlag der großen Glocke, welche in der Mitte der Stadt aufgehängt war, wo sie sich alle versammelten (...).“  
An diesen Zusammenkünften entschieden diese alle „über ihre Angelegenheiten und über die Notwendigkeiten ihrer Republik und ihrer Besitzungen. (...) Dieselbe Freiheit genossen damals Pskow und Groß-Nowgorod.“
 
Meine deutschen Sätze übersetzen hier, was ein unbekannter belarusischer Schreiber aus der 1582 in Königsberg in polnischer Sprache gedruckten polnisch-litauischen Chronik von Maciej Stryjkowski in die ruthenische Schriftsprache übersetzt hatte. Der Text dieses polnischen Renaissancehistoriographen beruhte seinerseits auf älteren rusischen Chroniken, in denen die Volksversammlungen in Polazk mit dem Verweis auf Nowgorod gerühmt worden waren. Der belarusische Übersetzer ließ diesen Bezug zu Nowgorod unverändert, beseitigte aber den von Stryjkowski in humanistischer Manier eingebrachten Vergleich von Polazk mit „griechischen Republiken“ wie Athen und Sparta. Stattdessen brachte er die Polazker Stadtgeschichte – ebenfalls ganz nach westeuropäischem Geschichtsverständnis – in den Zusammenhang mit Venedig, das im lateinischen Europa bereits im 15. Jh. als ideale Stadtrepublik galt. Damit überlagerten sich im Schreiben über Polazk durchaus glokal ostslawisch-osteuropäische Idealvorstellungen städtischen kollektiven Handelns (Nowgorod, Pskow) mit lateineuropäischen (Venedig).  
Nachweise zu diesen und den übrigen hier nur leicht veränderten Passagen zu Polazk: Rohdewald, Stefan. „Vom Polocker Venedig.“ Kollektives Handeln sozialer Gruppen in einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, Frühe Neuzeit, 19. Jh. bis 1914), Stuttgart 2005. Open Access: https://elibrary.steiner-verlag.de/book/99.105010/9783515125659. 
Vgl. Rohdewald, Stefan. „Vnešnjaja kolonizacija vnutrennego“ i „vnutrennjaja kolonizacija vnešnego“. oppozicionnye ėlity stolic vs. lojal’nye ėlity Zapadnogo kraja, 1830–1910, in: Aleksandr Ėtkind, Dirk Uffelmann, Il’ja Kukulin (Hg.). Tam, vnutri. Praktiki Vnutrennejkolonizacii v kul’turnoj istorii Rossii, hg. v.  (=Biblioteka žurnalaneprikosnovennyj zapas, 23), Moskva 2012, S. 518–551. 
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