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Kleine Geschichte des Reisens durch Russland

Reisen versus Tourismus – da hat sich viel geändert über die letzten Jahrzehnte in Russland. Betrachtungen für Reise-Nostalgiker und handfeste Tipps für die, die es werden wollen. Von Ilja Bujanowski auf Perito Burrito.

Source Perito Burrito

Hinkommen – einst und heute

Bis vor zehn Jahren war das Hauptfortbewegungsmittel in Russland der Fernzug. Die Züge bestanden aus grünen Waggons, und in den langen Gängen wirbelte und schillerte dichter Staub zwischen Schlafpritschen und hervorstakenden Füßen.

Wenn ich irgendwohin wollte, ging ich zur Bahnhofskasse und stellte mich geduldig in eine lange, nervende Schlange. 2010 war ich bereits in der Lage, die Internetseiten der Russischen Eisenbahn nach Fahrplänen und Tickets zu durchsuchen und behelligte die Ticketverkäufer daher nicht mehr mit Fragen wie: „Fährt morgens was von Urjupinsk nach Bobruisk, gibt es noch Platzkart-Tickets, und wie teuer sind die?“ Andere Leute in der Schlange waren durchaus lästig und ganz schlimm wurde es, wenn jemand am nächsten Morgen mit der ganzen Familie per Platzkart auf den unteren Liegen nach Sotschi wollte. Na, ihr seid ja lustig, dachte ich, der ich aus Erfahrung wusste, dass man gute Tickets am besten Wochen, wenn nicht einen Monat im Voraus kauft. Der elektronische Ticketkauf blieb derweil den Fortschrittlichsten vorbehalten – selbst eine Bankkarte hatte damals nicht jeder.

Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito

Platzkart war damals alles, was ich mir leisten konnte, ein Platz im Coupé kostete mitunter das Dreifache. Zugfahren war billig, und lange Zeit war meine liebste Form des Reisens der Eintagestrip: mit dem Nachtzug hin, am nächsten Abend mit dem Nachtzug zurück. Wenn der Platzkart-Wagen mal für einen ganzen Tag oder länger zu meinem Zuhause wurde, war das unvorstellbar ohne lange Gespräche, die manchmal selbst zum einprägsamsten Erlebnis der ganzen Reise wurden, wenn auch nicht immer dem positivsten.

Manche hatten damals schon den Dreh mit dem Fliegen raus, aber insgesamt hielt sich noch hartnäckig die Vorstellung aus den 1990ern, die russischen Weiten durch die Luft zu bereisen sei nur den Reichen vorbehalten.

Doch einmal angekommen, eröffnete sich ein weiter Raum: Aus den großen Städten fuhren Elektritschkas in die Regionen, und selbst in den kleineren Kreisstädten gab es noch große Busbahnhöfe, zwar trostlos und leicht unheimlich vom Klientel her, dafür angenehm warm im Winter. Von den vollgerotzten Bussteigen fuhren alte und unbequeme, aber immerhin geräumige Busse. Und wohin kein Bus fuhr, brachte einen das Taxi – aus heutiger Sicht für ein paar Groschen. Vorausgesetzt natürlich, man hatte gut verhandelt.

Ab 2009 machten sich die Reformen bei der Russischen Eisenbahn bemerkbar, die Züge waren nicht mehr grün, sondern grau-rot. Innerhalb von wenigen Jahren schossen die Ticketpreise um ein Vielfaches in die Höhe, sodass sich der Eintagestrip als Konzept schlicht nicht mehr lohnte – eine Nacht im Zug kostete plötzlich mehr als eine Nacht im Hotel. Andererseits wurden die Tarife flexibler, und jetzt fahre ich fast zum selben Preis öfter Coupé als Platzkart.

Bemerkbar machte sich auch die Smartphonisierung des Landes samt den USB-Steckdosen in den Zügen: Man konnte einen ganzen Tag unterwegs sein, ohne ein Wort mit seinem Sitznachbarn zu wechseln. Und es gab mehr Platz – ausgebuchte Züge wurden zum Alleinstellungsmerkmal der Hochsaison.

Aber nicht nur die Fahrgäste wurden weniger, sondern auch die Züge selbst. Mit den bunten Waggons der legendären sogenannten „Luxusstrecken“ gehörten bald auch die Strecken selbst der Vergangenheit an. Auch die einst zahlreichen lustigen 600er Züge, die die Provinz mit den Dörfern verbanden, waren bald eine Seltenheit. Natürlich fahre ich trotzdem noch oft mit dem Zug, aber die frühere Eisenbahnromantik ist dahin.

Ganz anders sieht es beim Fliegen aus. Wenn man sich geschickt anstellt, kosten die Flugtickets meistens nur unwesentlich mehr als der Zug, One-Way und Tarife ohne Gepäck mitunter sogar weniger. Die Jagd auf Billigflüge und Rabattaktionen ist, genau wie das Sammeln von Meilen, zu einem beliebten Volkssport geworden. 

Um den öffentlichen Nahverkehr ist es hingegen deutlich schlechter bestellt: Gegen Ende des Jahrzehnts waren aus fast allen Kleinstädten die Busbahnhöfe verschwunden, eine Haltestelle am Ortsrand musste reichen. Geräumige Busse mit Gepäckabteil grenzen heute an ein Wunder. Meistens muss man sich in eine armselige, nach Benzin stinkende GAZelle quetschen, und beim Anblick eines Touristen mit großem Rucksack wird der Fahrer ausfallend und hysterisch.

Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito

Aber noch bezeichnender ist die Frage: „Bist du etwa zu Fuß unterwegs?!“, die ich ständig von anderen Touristen zu hören bekomme. Reisen durch Russland ist stillschweigend etwas geworden, das man mit dem Auto macht, ein Tourist ohne fahrbaren Untersatz kommt vielen wie ein Freak vor. Und dann gibt es ja noch BlaBlaCar, Yandex.Taxi, Carsharing und die gute alte Autovermietung, auch jenseits der Metropolen.

Unterkunft – einst und heute

Hier hat sich im vergangenen Jahrzehnt gewaltig was getan. Russland in den frühen 2000ern – als ich gerade anfing zu reisen – ist mir als Land der billigen und schäbigen Hotels in Erinnerung geblieben. Für 300 bis 400 Rubel [heute rund 15 Euro – dek] bekam man ein düsteres Zimmer mit abblätternden Wänden, schmutzigem Boden und einer nackten schummrigen Glühbirne, so dass man nicht genau wusste, ob man im Hotel oder in der Geschlossenen gelandet war. Gemeinschaftsklos auf dem Flur waren eher die Regel denn die Ausnahme, eine heiße Dusche bewegte sich im Bereich des Unvorstellbaren. Und in den Reiseforen rankten sich beständig Legenden um die Schrecken des inländischen Services.

Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito

Bereits Ende der 2000er Jahre wurde alles anders, und 2010 konnte ich in den meisten Städten damit rechnen, für 1000 bis 1500 Rubel [rund 30 Euro – dek] ein kleines sauberes Zimmer mit funktionierendem Bad und WLAN zu bekommen. Ich glaube, vor ungefähr zehn Jahren hörte ich zum ersten Mal im russischen Kontext das Wort Hostel. Und nur wenige Jahre später entdeckte ich zu meinem Erstaunen Hostels in Workuta. Diese Form der Übernachtung verbreitete sich so rasant und umfassend, dass es einem merkwürdig erscheint, dass das nicht schon immer so war. Doch die Quantität ging auf Kosten der Qualität: Die Vorteile des Hostellebens hatten sich bald nicht nur unter den Touristen herumgesprochen. Ich weiß noch, wie ich 2018 in einem Sankt Petersburger Hostel gelandet bin, wo ich für 170 Rubel [sic; 2,30 Euro – dek] die Nacht die ganze Atmosphäre der Mietshäuser des 19. Jahrhunderts erleben durfte. Danach dachte ich viel über die Bedeutung von Mindestpreisen nach.

Auch die Buchungsstrategien veränderten sich. Natürlich gab es booking.com schon 2009, aber in Russland erwies sich die direkte Suche übers Internet als zuverlässiger. Erst um 2015 hatte sich Booking weitgehend durchgesetzt, aber da trat schon ein neuer Trend auf den Plan: Kurzzeitappartements und die entsprechenden Vermietungsportale.

Interessanterweise geht die zunehmende Vielfalt des Angebots mit einer erstaunlichen Preisstabilität einher – wenn ich im Vergleich zu 2009 für eine Übernachtung mehr bezahle, dann nur geringfügig. Die Unterkunft ist nicht mehr der Posten, der beim Reisen am stärksten ins Gewicht fällt.

Verpflegung – einst und heute

Hier sind die Veränderungen nicht so gravierend. Beziehungsweise sind sie eher quantitativ: Es gibt mehr Gastronomie, die Auswahl ist größer, in vielen Städten haben Ketten wie Burger King oder Subway Einzug gehalten, und wenn man will, findet man wie früher eine Kantine oder eine Stolowaja. In größeren Städten gibt es mittlerweile genug gute Cafés. Aber es wurde nichts grundlegend Neues erfunden, selbst die Welle der Anti-Cafés war zwar enorm, doch ebbte sie fast spurlos wieder ab.

Der einzig erwähnenswerte Trend der 2010er Jahre ist wahrscheinlich die Verbreitung der Nationalküchen. Nicht der japanischen, usbekischen oder kaukasischen, sondern die Küchen der russländischen Ethnien. Ende der 2000er erfreuten sich höchstens das tatarische Tschak-Tschak und ossetische Piroggen gewisser Bekanntheit, Burjatien war berühmt für seine Possy, und in manchen Hauptstädten der Autonomen Regionen fand sich ein einzelnes und nicht gerade günstiges Restaurant mit der Küche der jeweiligen Ethnie. Heute ist das keine Seltenheit mehr, und auch die lokalen Variationen der russischen Küche halten Schritt. Geblieben ist jedoch die Urigkeit der kleinen Bahnhofskantinen.

Probleme – einst und heute

Diejenigen, die vor 20 Jahren auf russischen Straßen unterwegs waren, wird das vielleicht noch amüsieren, aber schon vor zehn Jahren lag es auf der Hand, dass Reisen in Russland gefährlich ist. Während in den meisten Ländern mit einer hohen Kriminalitätsrate die Zentren der Großstädte als besonders gefährlich gelten, ist es in Russland damals wie heute viel einfacher, in der depressiven Einöde oder den Arbeitervororten Schwierigkeiten zu bekommen. Nicht immer kann man sich von diesen Schwierigkeiten mit der Brieftasche oder dem Handy freikaufen – oft genug ist das Zusammenschlagen ein Selbstzweck. Nein, nicht vor Raubüberfällen muss man sich fürchten, sondern vor frustrierten, gelangweilten und in der Regel betrunkenen Leuten.

Wenn ich in eine arme Kleinstadt, ein Dorf oder einen Vorort mit Arbeitersiedlungen fuhr, wusste ich, dass mich irgendwann die Gopniki anquatschen würden. Nicht, um mich zu verprügeln oder auszurauben, sondern um mit dem unbekannten und seltsamen Gast zu reden und ihm je nach Gesprächsverlauf am Ende die Hand zu geben oder das Handy zu entwenden. Ich betrachtete die Kommunikation mit diesem Publikum als eine Kunst und leitete sogar eine ganze Philosophie daraus ab, die sich in etwa so zusammenfassen lässt: Wenn du mit den Gopniki zu tun hast, musst du frei sein von Angst, Arroganz und Mitleid. Meine Routen plante ich so, dass ich an einem Freitagabend nicht in soziale Brennpunkte geriet.

Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito

Ein nicht weniger aktuelles Problem war die Willkür der Miliz (die damals noch nicht Polizei hieß). Brutstätten hierfür waren vor allem strategische Objekte wie Bahnhöfe, die Metro, Orte unweit großer Fabrikanlagen und Plätze vor Regierungsgebäuden. Ein harmloses Foto von einem Bahnhof oder einer alten Fabrik konnte leicht in stundenlange sinnlose Nervereien münden.

Dass das alles nicht mehr viel mit der heutigen Zeit zu tun hat, wurde mir ein paar Jahre später bewusst, noch in der ersten Hälfte des Jahrzehnts. Klar, das Risiko in aggressive Gesellschaft oder an einen schlecht gelaunten Unteroffizier Prischibejew zu geraten ist nicht weg. Es ist kein Geheimnis, dass jede Stadt der Welt gefährlich ist, wenn man sich bei einem Grüppchen Betrunkener im dunklen Hinterhof einer Bar erkundigt, wo man hier am besten 500 Dollar wechseln kann. Aber im Großen und Ganzen ist der Faktor Straßenkriminalität und Polizeiwillkür in den letzten zehn Jahren aus meinen Reisen so gut wie verschwunden. An den Bahnhofstüren hängen Schilder mit der Aufschrift „Fotografieren erlaubt!“, und der Fotoapparat oder das Smartphone mit der guten Kamera sind zu alltäglich geworden, als dass sie das Ziel eines Überfalls oder das Attribut eines Spions sein könnten.

2009 wussten wir von Saratow vage, dass es da eine Brücke gibt. Von Archangelsk, dass man dort über hölzerne Gehwege läuft. Von Tjumen, dass es aus allen Nähten platzen muss vor schwarzem Gold. Von Irkutsk – dass es von dort aus ein Steinwurf zum Baikalsee ist, und die Fortgeschrittensten hatten mal irgendwo etwas von Holzbaukunst oder dem Irkutsker Barock gehört. Orenburg oder Ishewsk, Pensa oder Kurgan riefen keinerlei Assoziationen hervor.

Selbst die Frage, warum man überhaupt durch Russland reisen sollte, war damals keine rhetorische. Zu stark war der postsowjetische Impuls des „Endlich darf man“ und Reisen verband man in erster Linie mit dem ungewohnten Ausland, der Schönheit und dem Komfort Europas, der Exotik und Expressivität Asiens … Reisen durch Russland waren was für Heimatforscher-Nerds und Tramper mit leeren Taschen, quasi der Underground des Tourismus. 

Und dann kam die Krise, deren Höhepunkt exakt auf das Jahr 2009 fiel. In den Großstädten bildete sich eine ganze Schicht von Menschen, die sich Florenz, Venedig und Verona nicht mehr leisten konnten. Quasi über Nacht wurde der Inlandstourismus zur Mode. Das Interesse am russischen Erbe machten sich schnell ehrbare Persönlichkeiten zu eigen, wie Leonid Parfjonow mit seinem Buch Chrebtom Rossii (dt. etwa Das Rückgrat Russlands), das bei vielen schlagartig die Vorstellung davon veränderte, was der Ural ist.

Nach dem Interesse endete die Gleichgültigkeit: Bei uns verrotten ja ganze Meisterwerke der Holzbaukunst, die Bauträger verschandeln die Altstädte mit ihren Hochhäusern, und überhaupt weiß niemand den Wert der sowjetischen Mosaiken zu schätzen! Und weil die Politiker die Emotionsregungen der Bevölkerung gerne für ihre Zwecke benutzen, schafften es plötzlich der Abriss irgendeines verlassenen Anwesens oder die misslungene Rekonstruktion einer alten Kirche in die Schlagzeilen.

Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito

Auch die Mäzene ließen nicht lange auf sich warten – so wurde das Land beispielsweise von einer ganzen Welle großer Freilichtmuseen für Technik überrollt. Oder, der aktuellste Trend: die Renaissance der Dampfeisenbahn auf regulären Strecken in Touristenorten. Das rief die Enthusiasten auf den Plan – die einen brachten die lange ausgemusterten Schmalspurloks wieder in Gang, die anderen eilten in die tschuchlomische Einöde, um Holzhütten zu restaurieren. Die Stadtverwaltungen produzierten mal reihenweise einförmige Straßenskulpturen oder wetteiferten darum, wer das absurdeste Festival veranstaltet, mal eröffneten sie ganz anständige Museen.

Vor langer Zeit konstatierte Anton Krotow, der Guru der russischen Tramper-Szene, Reisen werde vom Tourismus abgelöst. Er meinte damit eher das ferne Ausland, während der postsowjetische Raum lange Zeit die letzte Hochburg der touristischen Terra incognita zu bleiben schien. Aber wenn man zurückblickt, stellt man plötzlich fest, dass auch diese Bastion gefallen ist. 2020 sprudelt plötzlich dort das Leben, wo 2010 noch verschlafene, weltfremde Vergessenheit herrschte. Die unermesslichen heimischen Weiten zu bereisen ist einfacher und sicherer geworden, doch das Erstentdecker-Gefühl von einst wartet längst nicht mehr hinter jeder Ecke.

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Sowjetische Eiscreme

Eiscreme ist in Russland mehr als einfach nur Eiscreme. Sie gilt vielen sogar als eine Art russische Nationalspeise und Teil einer glücklichen Kindheit. Monica Rüthers über das sowjetische Speiseeis und seine prominente Stelle im russischen kollektiven Gedächtnis. 

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Pionierlager Artek

Das Pionierlager Artek auf der Krim war der Inbegriff einer glücklichen sowjetischen Kindheit. Das Lager wurde 1925 mit einigen Zelten am Strand eröffnet und diente zunächst als Sanatorium der Tuberkulosevorsorge. Von 1938 an wurde es zu einem ausgedehnten Komplex mit mehreren Teil-Lagern in einer malerischen, südlichen Landschaft am Ufer des Schwarzen Meeres in der Nähe von Hursuf ausgebaut. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde das Lager von der Ukraine weiterbetrieben und kam mit der Annexion der Krim wieder unter russische Verwaltung.

Das Lager war jedermann in der Sowjetunion ein Begriff. Die „Mutter aller Pionierlager“ lieferte ikonische Bilder von Kindern in weißen Pionierhütchen mit Zypressen und blauem Meer im Hintergrund. Das Vorzeigelager wurde in zahlreichen großzügig bebilderten Publikationen vorgestellt, es erschien auf den ersten Seiten der Russischlehrbücher und in Pionierkalendern als Traumland und Wunschziel.1

 

In der Propaganda des revolutionären Russland wurden Kinder als Träger der Utopie von der gerechten sozialistischen Gesellschaft verehrt. Bereits 1922 wurde die Organisation der Jungen Pioniere als Zweig des Komsomol für die 10 bis 15-Jährigen gegründet. Sie übernahm zahlreiche Elemente der Pfadfinderorganisationen: die Losung „Wsegda gotow!“ (dt: „Allzeit bereit!“), die Uniform und die roten Halstücher, die militärisch inspirierte hierarchische Einteilung in Gruppen und Abteilungen (sogenannte drushiny und otrjady). Ab Mitte der 1930er Jahre wurde dann die „glückliche Kindheit“ ein wesentlicher Teil der stalinistischen Kultur und Propaganda, die Organisation von Sommerlagern für Kinder – ähnlich denen der westlichen Lebensreformbewegungen2 –  sollten zur Vermittlung dieses Glücksgefühls maßgeblich beitragen.

Artek als Modell sowjetischer Sommerlager

Artek war anfangs elitär, hierhin reisten nur die verdientesten Pioniere und die Kinder der Eliten für einen drei- oder sechswöchigen Sommeraufenthalt. Bereits in der Stalinzeit wurden auch Kinder ausländischer Parteieliten nach Artek eingeladen.3 Zwischen 1960 und 1964 wurde das Lager völlig umgestaltet und auf 4000–5000 Plätze erweitert. Dafür wurden eigens Fertigbauteile in einem Baukastensystem entwickelt.4 Die filigranen Bettenhäuser aus Aluminium und Glas, die in ihrer Form an Schiffe erinnerten, sollten Schutz vor Wind und Wetter bieten, zugleich aber durch Veranden und offene Seiten dem Gedanken der Freiluftkultur Rechnung tragen.

Nach dem Ausbau konnten jeden Sommer während vier Monatslagern insgesamt 20.000 Kinder ihre Ferien in Artek verbringen.5 Es gab eine eigene Schule, ein Krankenhaus und olympiagerechte Sportanlagen. Sogar eine Kosmonautik-Ausstellung entstand – auf Anregung Juri Gagarins, der das Lager regelmäßig besuchte.

Die Gebäude des Sommerlagers Artek aus der Luft – Foto © Viktor Budan/ ITAR TASS Archive

Pionierbewegung: damals und heute

Generell wurden Pionierlager meistens in den Grüngürteln rund um die sozialistischen Industriestädte angelegt. Die „einfachen“ Pionierlager, die von Betrieben und Organisationen für die Kinder ihrer Angestellten organisiert wurden, eiferten im sozialistischen Wettbewerb dem Vorbild Artek nach. Mit dem Ausbau der Pionierbewegung zur erzieherisch orientierten Massenorganisation in den 60er Jahren wuchs die Zahl der Pionierlager für Kinder der „nicht-elitären“ Sowjetbürger. Es hieß, 1976 würden eine halbe Million Moskauer Kinder den Sommer im Lager verbringen.6 Aus dem Privileg für Wenige wurde damit ein Erlebnis, an dem breitere Kreise teilhatten.

Aus dem Album des Pionierlagers Zoi Kosmodemjanskoi in der Region Cheljabinsk in den 60er Jahren – Foto © Monica Rüthers

Die Tagesabläufe waren weitgehend festgelegt und mussten sowohl von den Pionieren selbst als auch vom Personal, das hauptsächlich aus Freiwilligen bestand, strikt eingehalten werden. Jeder Tag begann mit dem Hissen der Flagge und endete mit ihrem Einholen. Deswegen war das Zentrum jedes Pionierlagers der Appell- oder Aufmarschplatz, der eine Fahnenstange haben musste.

In einer Broschüre aus den 70er Jahren, die Empfehlung und Vorschriften für die Durchführung von Sommerlagern gibt7, wird neben der politischen Erziehung gefordert, die Pioniere sollten in nahegelegenen Kolchosen helfen, Beeren pflücken, Heilkräuter sammeln und die Natur schützen. Das Stichwort lautete „vernünftige Erholung“ (rasumny otdych). Dazu gehörte neben der körperlichen Ertüchtigung die Förderung technischer Fähigkeiten in verschiedenen Zirkeln. Als Anreiz und Belohnung winkten Ehren: Die Besten wurden mit der Lagerflagge oder am Lagerdenkmal fotografiert, durften die Fahne hissen, bekamen Diplome und Abzeichen verliehen. Neben diesem straffen Programm gab es jedoch auch Freiräume, mehrtägige Ausflüge mit dem Zelt und abendliche Lagerfeuer.

 

Kinder im Pionierlager Artek, aufgenommen im Jahr 1987. / Foto © Nikolai Malyshev, Alexander Chumichev/ITAR-TASS/imago images

Bis heute ist es in Russland üblich, dass Kinder im Schulalter ihre Sommermonate ohne die Eltern in organisierten Lagern verbringen, in denen nun verschiedenste Aktivitäten von Sport über Theater bis hin zu Programmierkursen angeboten werden.

Sowjetische Retro-Utopie als Kriegsdividende

Nach 1991 bestand das Lager erfolgreich weiter, pflegte den internationalen Schüleraustausch und nahm an pädagogischen Wettbewerben teil. Ab Mitte der 2000er Jahre wurde die staatliche Unterstützung gekürzt, und Artek geriet in finanzielle Schwierigkeiten. Und nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 wurde Artek sogleich unter die Schirmherrschaft des russischen Bildungs- und Forschungsministeriums und des russischen Präsidenten gestellt. In die Rekonstruktion flossen seither insgesamt 21 Milliarden Rubel.8

Während der Sowjetzeit waren die Pionierlager als „Orte der glücklichen Kindheit“ Teil einer mythisch überhöhten Landschaft, in der die Kinder schon in der Zukunft lebten. Heute gehört das Modell-Lager Artek zum Kanon der staatlich geförderten Sowjetnostalgie.

In der russischen Propaganda wurde der Ukraine vorgeworfen, sie habe das Wahrzeichen Artek dem Zerfall preisgegeben. Putin trat als Retter der glücklichen Kindheit auf. Zugleich schuf er retro-Utopien der Stalinzeit. Denn Artek war wie auch die Moskauer Ausstellung sowjetischer Errungenschaften WDNCh mit ihren Republik-Pavillons (1939) oder der Park für Kultur und Erholung names Gorki (1928) eine der gebauten stalinistischen Utopien. All diese von Michail Ryklin so treffend als „Räume des Jubels“9 beschriebenen Themenpärke wurden unter Putin aufwändig restauriert. Dabei war es besonders praktisch, dass das berühmte Ferienlager auf der paradiesischen wiedergewonnenen Krim lag. Die „Rettung“ und Wiedererstehung Arteks konnte als Rechtfertigung und Hauptgewinn der Angliederung beworben werden.

Nach Artek kamen nun vor allem russische Kinder. Alljährlich finden in Russland leistungsorientierte Wettbewerbe um die begehrten Feriengutscheine für die 15 jeweils 21 Tage dauernden Aufenthalte statt. Mit der Annexion kam auch die Politik nach Artek. Der Tag beginnt mit dem Hissen von drei Flaggen – Russland, Krim und Artek – und dem Abspielen von drei Hymnen. Bereits 2020 beklagte die ukrainische Vertretung in der Autonomen Republik Krim die Militarisierung des Lagers und die Allgegenwart russischer Propaganda in Form von Zeichnungen zu Ehren des Russland-Tages, Tänzen zu Ehren des Flaggentages oder Liedern zu Ehren des Tages des Sieges.10 In Zusammenarbeit mit der 2016 gegründeten russischen paramilitärischen Kinder- und Jugendbewegung Junarmija finden in Artek regelmäßig „Jungkämpferkurse“ statt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 schreiben die Kinder während der Ferienaufenthalte in Artek Briefe an die Teilnehmer der so genannten „Spezialoperation“ und schicken Pakete in den Donbass. Seit Juli 2022 werden ukrainische Kinder aus russisch besetzten Gebieten hierher gebracht. Aus diesem Grund verhängten das Vereinigte Königreich und später die USA Sanktionen gegen Artek und seine Leiter.11

 

„Am warmen Meer – sowjetischer Dokumentarfilm von 1940 über das Sommerlager Artek auf der Krim.

1.Winkelmann, Arne (2004): Das Pionierlager Artek: Realität und Utopie in der sowjetischen Architektur der sechziger Jahre, Dissertation, Universität Weimar, S. 39 und Winkelmann, Arne (2000): Typologie der Ferienstadt: Das Pionierlager Artek auf der Krim, in: Bauwelt 91/16, S. 12-19
2.Das „Lager“ oder die „Fahrt“ waren feste Begriffe in allen europäischen Jugendbewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Deutlich sind die Anklänge an Jean Jacques Rousseaus (1712–1778) Vorstellung vom Heranwachsen eines freien und guten Menschen jenseits der verdorbenen Gesellschaft. Diese Ideen fanden über die Lebensreformbewegungen und über die Sozialdemokratie Eingang in die Institutionen der meisten europäischen Länder.
3.Paul Thorez (1940–1994), der Sohn des französischen Parteivorsitzenden Maurice Thorez, verbrachte zwischen 1950 und 1955 vier Sommer in Artek. Eindrücklich beschreibt er die medizinischen Untersuchungen, das regelmäßige Wiegen, die üppigen Mahlzeiten, die festen Tagesabläufe, die Rituale beim Fahnenappell und die internen Hierarchien der „Republik der roten Halstücher“, siehe: Thorez, Paul (1982): Les enfants Modèles, Paris
4.Winkelmann (2000): Typologie der Ferienstadt: Das Pionierlager Artek auf der Krim, in: Bauwelt 91/16, S. 12-19
5.Fotoočerk (1964): Respublika krasnych gal’stukov, Kiew
6.Kelly, Catriona (2006): Children's World: Growing up in Russia: 1890–1991, New Haven, S. 557-558
7.Pionierskoe leto. Metodičeskie rekomendacii organizatoram letnego otdycha pionerov i škol’nikov (Moskva: Moskovskogo ordena trudovogo krasnogo znameni gorodskoj Dvorec Pionerov i škol’nikov, 1976)
8.Vedomosti: Na kapremont detskogi centra „Artek“ potračeno bolee 11 mlrd rublej; novayagazeta.eu: Detstvo v lagerjach
9.Ryklin, Michail (2003): Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz, Frankfurt a.M.
10.novayagazeta.eu: Detstvo v lagerjach
11.novayagazeta.eu: Detstvo v lagerjach
 
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Tauwetter

Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erfuhren eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.

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Leonid Breshnew

Am 19. Dezember vor 115 Jahren ist Leonid Breshnew (1906-1982) als Sohn eines Metallarbeiters geboren.  Von 1964 bis 1982 prägte er als erster Mann im Staat fast zwei Jahrzehnte lang das Geschehen der Sowjetunion. Seine Herrschaft wird einerseits mit einem bescheidenen gesellschaftlichen Wohlstand assoziiert, gleichzeitig jedoch auch als Ära der Stagnation bezeichnet.

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Perestroika

Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.

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Auflösung der Sowjetunion

Heute vor 31 Jahren trafen sich die Staatsoberhäupter von Russland, Belarus und der Ukraine und vereinbarten, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zu gründen. Damit besiegelten sie faktisch das Ende der Sowjetunion. Welche Dynamiken damals die einstige Supermacht zum Zerfall brachten, skizziert Ewgeniy Kasakow.

 

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Die Wilden 1990er

Das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von tiefgreifenden Umbrüchen gezeichnet, aufgrund derer es in das kollektive Gedächtnis als die wilden 1990er eingegangen ist. Mit dem Begriff werden weniger die neu erlangten Freiheiten, sondern eher negative Erscheinungen wie Armut und Kriminalität assoziiert.

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Gulag

Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. GULag ist die Abkürzung für Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager. Diese Verwaltungsstruktur existierte von 1922 bis 1956 und unterstand dem sowjetischen Sicherheitsdienst.

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Gorki-Park

Gorki-Park ist ein insgesamt rund 220 Hektar große Park in Moskau. Er wurde 1928 angelegt und 1932 nach dem sowjetischen Schriftsteller Maxim Gorki (1868–1936) benannt. Seit 2014 wird der Park aufwendig restauriert und umgestaltet, die Arbeiten sollen 2018 beendet werden. Einen Teil der Kosten tragen Firmen des russischen Oligarchen Roman Abramowitsch. Im Gorki-Park befinden sich unter anderem ein Veranstaltungsgelände, mehrere Sport- und Spielplätze und einige Teiche mit Bootsverleih. 

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