Russian Woman heißt der Song, mit dem Sängerin Manizha Russland beim diesjährigen ESC vertreten wird. Darin singt sie in einer musikalischen Mischung aus Folklore, Rap und Pop auf Russisch und Englisch über starke Frauen, die jede Mauer durchbrechen können. Manizha selbst wurde 1991 in Duschanbe geboren, während des Bürgerkriegs in Tadshikistan floh sie mit ihren Eltern nach Moskau.
So viel hybride Identität trifft nicht nur auf Liebhaber, sondern polarisiert: Auf den ESC-Vorentscheid folgten begeisterte Reaktionen genauso wie Anfeindungen. Neben fremdenfeindlichen Kommentaren gab es auch Kritik am Feminismus der Sängerin, die sich außerdem öffentlich mit der LGBTQ-Community in Russland solidarisiert.
Manizha, die bereits vor ihrer ESC-Teilnahme in Russland erste Erfolge feierte, hat sich vor allem auf Instagram eine Fangemeinde von rund 400.000 Followern aufgebaut, die Abrufe ihrer aufwändigen Musikvideos auf YouTube erreichen mitunter Millionenhöhe. Forbes zählte sie 2020 zu den aussichtsreichsten russischen KünstlerInnen unter 30.
Meduza nahm dies 2020 zum Anlass für ein ausführliches Interview. Die Kulturjournalistin Katerina Gordejewa sprach mit Manizha über die Kindheit in Duschanbe und Moskau, die Anfänge ihrer Karriere, die sie auch nach London führten, und die starken Frauen in ihrer Familie.
Katerina Gordejewa: Mit wem verbringst du den Lockdown?
Manizha: Meine ganze Familie lebt derzeit zusammen in einem Haus. In „friedlichen Zeiten“ waren wir ausgeschwirrt und hatten zu tun, aber jetzt sind wir alle unter einem Dach vereint. Und weißt du, irgendwie sieht man jetzt klarer. Alles, worauf man in der Hektik nicht achtet, die Eigenschaften der Menschen, die einen umgeben.
Die Zeit vergeht langsamer und erlaubt es einem, seine Stärken und Schwächen zu analysieren und aufzuspüren: Woran sollte man arbeiten, woran lieber nicht.
Ich esse ständig und bewege mich nie. Ich mache keine Challenges und keine Trainings per Skype
Außerdem ist es schön, dass man auf einmal wieder jemanden anrufen kann, der einem wichtig ist, ein bisschen quatschen, fragen, was sich tut, ein bisschen in den Hörer schweigen oder schnaufen. Das hat es lang nicht gegeben: Wir sind die ganze Zeit gerannt.
I. Manizha und Instagram
Wann begann dein Erfolg?
Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin, aber die Haltung meiner Verwandten hat sich verändert, ich bin jetzt Lieblingsschwester, Lieblingsnichte, Lieblingsenkelin.
Fühlst du dich eigentlich immer noch fremd in Moskau?
Ich habe Moskau lange Zeit abgelehnt. Ich wollte immer weg von hier.
Eine Zeitlang hast du in Petersburg gelebt.
Ja, in Petersburg und in London. Aber vor etwa drei Jahren habe ich begriffen, dass Moskau meine Stadt ist. Ich liebe Moskau. Für jeden Stein, für die ganze Scheiße, die hier passiert, die ganze Liebe, den Hass. Ich musste lange davor flüchten, mich verstecken, um es zu gewinnen.
Warum hast du dich dazu entschlossen, deine Karriere über Instagram zu machen? Es gibt ja naheliegendere Arten: Wettbewerbe, Konzertagenturen, Fernsehen.
Wegen der Freiheit. Aber da muss ich ausholen: Mit 15 Jahren war ich ein Superstar, gewann das Goldene Grammofon, spielte bei Firmenfeiern und ging auf Tournee. Meine Managerin war damals – und ist es bis heute – meine Mutter: Sie investierte Zeit und Geld in mich, fand Sponsoren und Promoter. Alle wollten, dass alles schön, glamourös, erfolgreich ist. Sie haben mir die Haare kürzer geschnitten und blondiert und mir ein rotes Tutu und ein Korsett angezogen und mich auf die Bühne gestellt. Das brachte Erfolg. Das brachte Geld.
Sie haben mir die Haare blondiert und mir ein rotes Tutu angezogen
Aber das war nicht ich. Ich bin ein Mädchen, das Radiohead hört, klar? Und das, seitdem es neun Jahre alt ist, Songs auf Englisch schreibt. Aber die Producer sagten: Wer braucht hier Englisch, spinnst du? Also, mein Erfolg dauerte von 15 bis 17, dann bin ich durchgedreht und habe gesagt, dass ich hasse, was ich mache. Und habe offiziell damit aufgehört.
Und was haben die Producer gesagt?
Die zuckten ratlos die Schultern. Mama war natürlich schockiert, aber sagte: „Gut. Dann zeig mir, dass du es selbst kannst.“ Und ich schwamm los.
Ich packte meine Sachen und fuhr nach Petersburg. Ich studierte an der Uni [Psychologie – dek] und gründete parallel eine Band. Die ganze Zeit dachte ich: „Ich werde Mama beweisen, was ich kann!“ Aber in mir drin wusste ich, dass das Bullshit war. Ich trat in irgendwelchen versifften Underground-Clubs auf, mit scheußlichen Bühnen und miesem Sound, und alles wurde immer schlimmer. Mir wurde klar, dass ich aufhören musste, das ging hier alles den Bach runter.
Und dann kommt unser letztes Konzert, und ich weiß, dass ich danach mit all dem aufhören werde, weil es einfach nicht geklappt hat. Ich schlief unterdessen im Auto meiner Freundin, weil ich keinen Schlafplatz hatte, nichts zu essen und kein Geld, und heulte nächtelang.
Ich bin ein Mädchen, das Radiohead hört, klar? Und das, seitdem es neun Jahre alt ist, Songs auf Englisch schreibt
Ich trete also ein letztes Mal auf, und nach dem Konzert kommt so ein seriöser Typ im Anzug auf mich zu, neben ihm irgendein durchgeknallter Musiker. Die sagten: „Wir möchten Sie zum Casting einladen, als Sängerin in einer europäischen Musikshow. Wir machen eine Tour: Spanien, England, New York.“ Ich habe nichts zu verlieren, also fahre ich nicht nach Hause, sondern gehe zum Casting. Stelle mich ans Mikrofon und singe. Und da kommt dieser Typ im Anzug rein und sagte: „Mein Gott, wie cool, wie toll! Ich find die gut, die nehmen wir!“
So begann mein Leben als Prinzessin! Alle wuselten um mich herum, ich war Teil dieser unglaublichen Show.
Irgendwann war das aber vorbei – offiziell, weil sie nicht genug Geld hatten. Unterdessen hatte ich in London [den Producer] Michael Spencer kennengelernt, dessen Label mir einen Vertrag anbot. Ich las den Vertrag – der war richtig lausig. Keine Rechte für mich, dafür hätten sie uneingeschränkte Macht über mich gehabt. Ich weiß nicht, woher ich die Eier hatte, aber ich lehnte ab und ging zurück nach Russland.
Du hast dich für die Freiheit entschieden?
Die große Freiheit, die ich so unbedingt wollte, hatte mir eine handfeste Depression beschert. Nach diesem weiten Weg war ich wieder bei Null. Alle rundherum sagten: Du musst dich weiterentwickeln … Aber ich lag tatsächlich tagelang auf dem Sofa und starrte auf Instagram. Und dann fiel mir um drei Uhr nachts plötzlich auf: „Warum stellt keiner Videos auf Instagram?“ Ich sah noch mal nach, und wirklich – kein einziges Video. So, also war ich die erste auf Instagram, die Videos gepostet hat. Ich hab gepostet und gepostet, und kurze Zeit später hatte ich – ohne Fernsehen, ohne Producer, ohne Label und ohne viel Geld – ein Publikum beisammen, das nur meins war.
Dann fiel mir plötzlich auf: ‚Warum stellt keiner Videos auf Instagram?‘
Mein Song Wanja entstand nach einem Ritual bei Indianern in Amerika. Ich hatte bei einem Gentest erfahren, dass ich unter anderem indianische Vorfahren habe, daher bin ich dahin gereist und habe ein Ritual gemacht, das hatte drei Hauptaspekte: Freiheit, Wahrheit und Vertrauen. „It‘s all about the trust.“ Dann begann das Ritual. Ich hatte das Gefühl, 20 Minuten da dringewesen zu sein, aber es waren dreieinhalb Stunden. Als wir danach vom Reservat ins Hotel fuhren, schrieb ich gleich im Auto den Song Wanja.
Mein Song Wanja entstand bei Indianern in Amerika
Das Lied zog aber überhaupt nicht. Es war das am wenigsten gehörte Lied meiner ganzen Geschichte. Ein richtiger Flop. Ich hab so geweint, ich kann‘s dir gar nicht sagen. Ich war wahnsinnig enttäuscht, wo ich diese Sache doch mit so viel Herzblut angegangen war und sich alles so schön gefügt hatte … Und dann so ein Flop, verstehst du?
Wie bist du da rausgekommen?
Ich wurde sehr krank. Ich versuchte, die Situation loszulassen, weil ich mich auf ein großes Konzert in der Crocus City Hall [im Februar 2020 – dek] vorbereiten musste, aber mir war elend, und ich war völlig kraftlos. Und plötzlich Anfang Januar – ohne mein Zutun – veröffentlicht Juri Dud einen Post. Ich konnte es kaum glauben, als ich auf meinem Handy sah „Juri Dud hat Sie markiert“. Er schrieb, dass ihm Wanja gefallen habe. Was da abging! Die Views stiegen und stiegen! Einen Tag später wurde ich zur Talkshow Wetscherni Urgant eingeladen. Kurz gesagt, das Schicksal des Songs drehte sich um 180 Grad.
Warum war dir das Konzert in der Crocus City Hall so wichtig?
Weil Moskau eine unbezwingbare Stadt ist. Diese Stadt mit einem großen Konzert zu bezwingen ist ein enormer Kraftakt und ein unfassbares Glück. Stell dir vor, in dieser überforderten Stadt, wo alle ums Überleben kämpfen, gelingt es dir, über 4000 Menschen in einem Raum zu versammeln und in einer Idee zu vereinen – sie singen. Und du weißt ganz genau, dass sie sich dir an diesem Abend hingeben. Und du gibst dich ihnen hin.
Crocus ist nicht als Ort wichtig – obwohl er heute der einzige ernstzunehmende Saal in ganz Moskau ist –, sondern als Ereignis. Eine so riesige Menge Leute sind für mich als Sängerin, die nicht-kommerzielle Musik macht, ein Geschenk und ein Fest. Dieses Konzert war ein absolutes Glück. Alles lief super.
Wie und warum hast du dich dazu entschieden, keine kommerzielle Sängerin zu werden, sondern eine Künstlerin mit einer sozialen Botschaft?
Mir haben meine Fans geholfen, ins Licht zu treten – ich befinde mich in einem ständigen Dialog mit ihnen. Ich beantworte alle Kommentare, frage: „Was soll ich am Montag singen? Was gefällt euch?“ Ich unterhalte mich mit ihnen, und ich interessiere mich wirklich dafür, was sie beschäftigt, wie ich ihnen helfen kann. Ich bin überzeugt davon, dass Musik heilen kann. Mich hat irgendwann Thom Yorke mit seinen blöden Manifesten aus der Depression geholt. Ich finde, Musik ist eine Schulter zum Anlehnen, wenn es dir schlechtgeht. Wir können der Kunst unseren heftigsten Schmerz anvertrauen und ihn gemeinsam mit ihr durchleben.
II. Manizha und Social Impact
Das erste soziale Thema in deinem Werk war häusliche Gewalt. Warum?
Erstens wurde ich darum gebeten. Und zweitens weiß ich genug darüber, dass ich das Recht habe, davon zu singen. Ich habe oft genug häusliche Gewalt miterlebt, war in muslimischen Familien oft damit konfrontiert. Am schlimmsten ist, dass die Frauen das okay finden – die Mutter sagt zur Tochter: „Ich wurde geschlagen, und du wirst auch geschlagen. Das hältst du aus.“ In östlichen Familien werden Mädchen so erzogen, dass das Wichtigste ist zu heiraten. „Papa, ich will ein Tattoo.“ – „Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist.“ „Papa, ich will singen.“ – „Kannst du, wenn du verheiratet bist.“
‚Papa, ich will ein Tattoo.‘ – ‚Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist.‘
Das Wichtigste ist, dass der Mann ein braves, ordentliches Mädchen kriegt und er dann entscheidet, ob sie sich ein Tattoo stechen lassen, singen und tanzen darf – oder eben nicht. Und die Gesellschaft akzeptiert das.
War es in Tadshikistan in der Sowjetzeit einfacher?
In der Sowjetzeit traten Nation und Religion in den Hintergrund, es hing mehr davon ab, in was für einer Familie man lebte. Jetzt ist der Islam strenger geworden: Schon kleine Mädchen tragen Hidjab; die Religion wurde viel mehr zum Kontrollmittel. Noch dazu ist die Lage in Tadshikistan zum Heulen, weil alle Männer zum Geldverdienen ins Ausland fahren.
Was passiert mit Tadshiken in Russland?
Sie trifft absolute Rechtlosigkeit – sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder. Es gibt sehr viele verlassene und aus staatlicher Sicht inexistente Frauen, und noch mehr solcher Kinder.
Auf Instagram postest du viele Fotos von dir ohne Schminke, Photoshop und ohne all das, was ein Star angeblich sonst noch braucht. War es leicht für dich, so selbstsicher zu werden?
Würde ich nicht sagen. Aber ich bemühe mich. Ich bemühe mich zu lernen, mich selbst so zu lieben, wie ich bin. Das ist nicht einfach. In Russland gibt es eine Riesenmenge selbstsicherer Frauen. Doch nur ein geringer Prozentsatz würde auf die Straße hinausgehen ohne männliches Feedback.
Unbedingt ein männliches Feedback?
Ja, unbedingt von einem Mann. Uns ist wichtig, wie uns die Männer bewerten. Weil wir mit dem Paradigma groß geworden sind, dass wir Hälften eines großen Ganzen sind, dass wir für uns genommen nicht genug sind. Das macht mich rasend. Ich will etwas Ganzes sein und will einen ganzen Menschen an meiner Seite haben.
In der Sowjetzeit traten Nation und Religion in den Hintergrund. Jetzt ist der Islam strenger geworden
Erst gestern bin ich durch den Gemüsegarten gegangen und habe ein paar Zeilen zu diesem Thema gedichtet: „Ich dachte nie, nur ein Stück zu sein, zum Glück. Ich bin für mich ein Teil, ein ganzes.“
Ist das der Ursprung deiner Body-Positivity?
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich habe auf Instagram mein allerschönstes Foto gepostet, und die Leute haben kommentiert: „Manizha, bist du schwanger?“
Warst du sauer?
Früher haben mich solche Kommentare sehr getroffen, gekränkt. Aber dann hab ich verstanden, dass ich mich nicht mehr so sehe wie früher. Die schreiben, dass ich dick bin, einen Bauch habe – aber ich finde mich klasse, mir geht‘s genial. Body-Positivity – das ist schon seit der Schule mein Thema. Das ist, wie wir uns als Teenager sehen, wie wir uns in Erinnerung haben.
Die schreiben, dass ich dick bin, einen Bauch habe – aber ich finde mich klasse, mir geht‘s genial
Ich war eine Außenseiterin. Noch dazu war ich bucklig, hatte früh einen Busen und lauter Komplexe. Deswegen trug ich weite Kleidung und tat alles, damit man meinen Busen und überhaupt meine Figur auf keinen Fall sehen konnte. Insofern ist Body-Positivity meine Geschichte, ich habe mir selbst die Challenge gestellt: mich so zu sehen, wie ich bin, und gern zu haben.
Hast du keine Angst vor Instagram-Sucht? Vor Abhängigkeit vom Publikum, seinen Fragen, Kommentaren, Reaktionen? Ich erinnere mich an deinen Post zur Unterstützung von LGBT und wie du im nächsten Post beklagt hast, dass nach diesem öffentlichen Statement tausend oder sogar noch mehr deiner Follower ihr Abo gelöscht haben.
Ja, eine schlimme Sucht ist das, ein schwarzer Spiegel. Aber Instagram ist auch nichts anderes als Fernsehen. Wozu ist man bereit, um seine Popularität zu fördern? Du erwähnst meine Unterstützung für dieses LGBT-Projekt … Ich habe in die Hölle gestarrt, die sich in den Kommentaren zu diesem LGBT-Post auftat, und habe die ganze Zeit gedacht, in was für einer schiefen Welt wir leben: Viele meiner Mitstreiter im Show-Business verbergen ihre Orientierung. Sie singen Lieder für die Hausfrauen in ganz Russland und verdienen Geld damit. Und lügen ihnen was vor.
In den Kommentaren zu diesem LGBT-Post habe ich in die Hölle gestarrt
Ihr ganzes Leben leben sie mit diesen Lügen. Das heißt, du betrittst die Bühne, versammelst da eine riesige Menge und singst, wie doll du sie geliebt hast. Dabei hast du dein Leben lang nicht sie, sondern ihn geliebt! Du hast einen Partner und ein Kind von einer Leihmutter! Warum verrätst du deine Familie? Die Antwort ist ernüchternd: Die Leute haben einen Riesenbammel, ihre Fans zu verlieren – und damit ihre Einnahmen.
Das ist Heuchelei, verstehst du? Ich sitze bei einer Preisverleihung, und rundum sitzen Manager und PR-Leute von Stars, die ihre Orientierung verbergen und mit homophoben Witzen um sich schmeißen. Und dann meinen sie noch, ich verteidige Gay Rights nur, weil ich keine Kinder habe. So ein Schwachsinn! Sie glauben, ihre Kinder vor Schwulen zu schützen, dabei arbeiten sie selber für welche. Kohle machen ist okay, aber sonst sind Schwule eine Gefahr für die Gesellschaft.
Findest du, dass Russland ein homophobes Land ist?
Ich finde, dass Russland ein heuchlerisches Land ist. In Russland denkt man immer das eine und sagt das andere. Und das geht seit Urzeiten so. Man hat immer Angst zu sagen, was man denkt, um nicht zu verlieren, was man hat.
Hast du auch diese Angst?
Nein. Wenn du alles sagst, was wahr ist, dann kriegst du ein Publikum, das deins ist, weil du du bist. Ja, manches akzeptieren sie nicht. Nach dem LGBT-Projekt ist, genauso wie nach dem Clip über häusliche Gewalt und den über Schönheit und Selbstliebe, ein Haufen seltsamer, zum Teil aggressiver Kommentare gekommen. Aber das ist besser als Lügen. Einfacher.
III. Kindheit in Tadshikistan
Kannst du uns von Tadshikistan erzählen?
Ja. Ich würde mich an Tadshikistan gern in so bunten Farben erinnern, wie es in meiner Kindheit war. Aber das geht nicht.
Warum?
Meine Kindheit zerfällt in zwei Teile – zuerst Tadshikistan, mein Anfang, dann kommt ein gigantisches Loch, und dann Russland. Und das ist bereits ein anderes Ich. Als ob das Leben von Neuem begonnen hätte.
Woran erinnerst du dich noch aus der Zeit in Tadshikistan?
An den Hof. Ich bin drei. Im Hof ist ein großer Hund, ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Ich habe ein bescheuertes Kleid an und ein Gerstenkorn am Auge. Im Hof steht ein riesiger Behälter mit Wasser, kein Pool, aber so etwas Ähnliches. Es ist heiß draußen, und das Wasser ist eiskalt. Ich gehe hin und tauche meine Hand ins Wasser. Die Hitze lässt nach.
Ich bin drei. Im Hof ist ein großer Hund, ich habe ein bescheuertes Kleid
In meiner Kindheit war es sehr schön. Viel Grün, viel Sonne und Früchte, eine Insel vollkommenen Glücks. Als meine Großmutter noch lebte, war ich oft dort, aber sie ist vor zehn Jahren gestorben. Seit zehn Jahren kann ich nicht mehr nach Hause fahren.
Nur im November 2019 war ich in Duschanbe, um einen Clip für Nedoslawjanka zu drehen. Ich setzte mich am Flughafen in ein Taxi und begriff während der Fahrt, dass das nicht mehr meine Stadt ist. Eine tolle, schöne Stadt voller Leute, die nichts davon wissen, wie es hier gekracht hat, wie geschossen wurde. Sie haben keine Ahnung davon, sie leben hier einfach. Aber ich – ich kann nicht. Die ersten zwei, drei Tage habe ich sehr gelitten, dann habe ich losgelassen. Man muss weitergehen. Den Ort meiner Kindheit gibt es nicht mehr.
Erinnerst du dich daran, wie ihr aus Duschanbe weggezogen seid?
Nein, ich kann mich an nichts erinnern. Das war ein Riesenstress. Ich wollte nicht weg, hatte Angst. Offenbar hat mein Unterbewusstsein alles gelöscht. Als würde man die Augen schließen und wieder aufmachen – und plötzlich ist man in Moskau. Eine Einraum-Mietwohnung mit Kakerlaken, in der wir zu viert leben: Mama, Papa, ich und mein kleiner Bruder. Dann hat Mama sich von Papa scheiden lassen und die drei Kinder ihres Bruders zu uns genommen.
Erzähl mal von deiner Mutter.
Meine Mutter ist sehr schön und begabt. Als wir noch in Tadshikistan lebten, war Mama ein richtiger Star. Sie wurde zum Schönheitswettbewerb Miss World eingeladen, sie hatte eine tolle Stimme, sie sang. Aber sie musste arbeiten und fuhr nicht zum Wettbewerb. Seit sie 16 war, nähte sie großartige Mode. Zu ihr kamen die Gattinnen von Ministern und Präsidenten: Wir brauchen etwas zum Anziehen, ein Kleid – nur von Ihnen! Sie hat ziemlich gut verdient. Sie erzählte mir, dass sie sich damals teure Parfums und Jeans leisten konnte, alles, was Mangelware war. Und sie konnte selbst entscheiden, wie sie leben wollte. Ich weiß nicht, wie ich neben ihr keine Feministin hätte werden können.
Warst du mit deiner Großmutter per Sie?
Ja, auch mit Mama.
Warum?
Das ist Tradition. Ich bin gar nie auf die Idee gekommen, sie zu duzen. In Russland habe ich lange gebraucht, mich daran zu gewöhnen, zu Älteren du zu sagen.
Wie war deine Beziehung zur Großmutter?
Ich war jeden Sommer drei Monate bei ihr. Meine Großmutter hat mich in Computerkurse geschickt. Ich hab gebrüllt: „Wozu brauch ich das?“, aber sie blieb ganz ruhig: „Du musst das lernen, du musst dich mit Photoshop auskennen, mit Adobe, mit Adobe Premiere und Fotomontage.“ Und: „Du musst Persisch lernen, du musst Englisch lernen. Sprachen sind das Allerwichtigste.“ Ich habe damals nicht verstanden, wozu das alles, aber jetzt schneide ich meine Videos und bearbeite den Sound selber. Ich spreche fließend und schreibe Songs auf Englisch. Also, es ist alles aufgegangen, was meine Oma gesät hat.
Meine Großmutter hat mir beigebracht, frei zu sein, und davor hat sie das meiner Mutter beigebracht
Aber das Wichtigste ist die Freiheit. Sie hat mir mit ihrem Denken und Verhalten beigebracht, frei zu sein, und davor hat sie das meiner Mutter beigebracht. Von meiner Großmutter haben wir unser freies Verhältnis zum Thema Entscheidung, zum Thema Körper, zum Thema Glauben.
Im muslimischen Tadshikistan ein freies Verhältnis zum Glauben?
Meine Mutter hatte immer eine Faszination für Buddhismus – niemand hat sie aufgehalten oder davon abgehalten. Mein Papa wird jetzt immer mehr zum Muslim, aber das kam erst in Russland. Trotzdem ist er sehr modern und nicht radikal eingestellt.
Warum haben deine Eltern beschlossen wegzugehen?
Weil Krieg war. Unser Krieg war wahrscheinlich ganz ähnlich wie das, was in der Ukraine passiert ist und nach wie vor passiert. Die Leute versuchten, ganz normal weiterzuleben, aber ob sie wollten oder nicht, der Krieg brach in ihr Leben herein. Einmal landete eine Granate in der Wohnung, die meine Eltern zur Hochzeit bekommen hatten.
Wie durch ein Wunder war meine Mama eine Minute zuvor mit mir hinausgegangen zum Wäsche aufhängen. Von der Wohnung ist nichts übriggeblieben. Und genauso ist vom bisherigen Leben nichts übriggeblieben.
Vom bisherigen Leben ist nichts übriggeblieben
Menschen wurden getötet. Niemand brauchte mehr Mamas schöne Kleider und Kostüme, Mamas Schönheit, die Welt brach zusammen. Und Papa und Mama beschlossen, nach Russland zu flüchten.
Sprachen sie Russisch?
Mama konnte Russisch und auch sehr gut Englisch. Sie war hervorragend gebildet. Aber in Russland musste sie putzen gehen, sie putzte Treppenhäuser und verkaufte in der Unterführung T-Shirts.
Weil sie Tadshikin ist?
Es lag nicht daran, dass sie Tadshikin ist. Sie haben in einer neuen Stadt, einem neuen Land, von Null begonnen. Sie mussten ohne Staatsbürgerschaft überleben. Wenn ein hungriges Kind vor dir steht, tust du alles, um es zu füttern. Du arbeitest wahnsinnig viel, legst dich ins Zeug und versuchst, dass wenigstens dein Kind eine Chance hat. So hat es meine Mutter gemacht.
Du legst dich ins Zeug, damit wenigstens dein Kind eine Chance hat
Ich weiß noch, wie ich mit acht Jahren zu ihr gesagt habe, dass ich Sängerin werden will …
Hast du da schon gesungen?
Ich habe schon mit fünf Jahren gesungen, und meine Großmutter hat immer gesagt: Manizha muss Sängerin werden. Sie vermietete in Tadshikistan eine Wohnung, legte das Geld in einen Briefumschlag und schickte es nach Moskau. Auf dem Brief stand: „Für die Gesangsstunden meiner lieben Enkelin“. Und Mama schleppte mich, zum Umfallen müde, in die Musikschule, wo damals eine Unterrichtsstunde 50 Dollar kostete.
Wie ging es dir in der Schule?
Ich war ein Stubenhockerin, war nie viel draußen, dadurch wurde ich automatisch zur Außenseiterin, weil das nicht den Vorstellungen meiner Mitschüler entsprach. Ich tat mich auch mit Jungs nicht leicht, war schüchtern, hatte Angst. In der Schule war es richtig krass, von moralischer Erniedrigung bis zu Raufereien unter Einsatz von Flaschenhälsen gab es alles. Ich war nicht einmal beim Letzten Läuten dabei, auch nicht auf dem Abschlussball, so mies war mein Verhältnis zu meiner Klasse. Ich wollte niemanden sehen und will es bis heute nicht.
Waren das nationalistische Anfeindungen?
Das auch, natürlich. Ich bin schon im Kindergarten Schwarzarsch genannt, beleidigt und gedemütigt worden. Anfangs konnte ich einfach deswegen nicht Paroli bieten, weil ich kein Russisch konnte.
Hast du Russisch im Kindergarten gelernt?
Ja. Ich hab mich in einen Jungen verliebt. Also, ich bin auf ihn zugegangen, ich hab gedacht, das ist ein Mädchen. Er sagte, er sei „eigentlich Mischa“. Da hab ich mich verliebt, warum auch immer. Aber ich bin mir so mickrig vorgekommen, weil ich nicht mit ihm reden konnte. Das heißt, Russisch hab ich gelernt, aber der Spott ist geblieben – im Kindergarten, im Hof, im Bus, in der Schule. Aber mein Glück ist, dass meine Mama Eier aus Stahl hat.
Ich bin schon im Kindergarten Schwarzarsch genannt worden
Wenn ich weinte, sagte sie: „Weißt du, was für gebildete Leute die Tadshiken sind? Was wir für einen Stammbaum haben, davon können die nur träumen. Unsere Verwandten – Tadshiken mit dem blauesten Blut, das es nur geben kann – leben über die ganze Welt verstreut, das sind angesehene, ehrenwerte und einflussreiche Familien, die so viel erreicht haben. Nicht, wegen des nationalen Erbes, sondern weil sie von klein auf gelernt haben. Lerne!“
Wann wurde alles anders?
An der Universität. Da habe ich auch begonnen, kreativ zu sein – anscheinend hatte ich kapiert, wohin mit meiner Energie. Ich war da schon aktive Künstlerin, sang in einem Pop-Projekt und verdiente gar nicht schlecht.
Und dann hast du Psychologie studiert.
Ich hätte die Wahl gehabt zwischen der Gnessin-Musikakademie und dem Institut für Schlager und Jazz.
Warum hast du das nicht gemacht?
Ich wollte das ganz grundsätzlich nicht. Ich darf mich nicht auf eine einzelne Sache beschränken. Wenn ich nur Musik machen würde, würde ich, glaube ich, krepieren. Plus – ich wollte meinen eigenen psychischen Problemen auf den Grund gehen.
Wenn ich nur Musik machen würde, würde ich, glaube ich, krepieren
Meine Mama hat nach ein paar Jahren Arbeit als Putzfrau eine Baufirma geleitet und dann noch ein Psychologiestudium an der MGU und eine Psychotherapieausbildung abgeschlossen, woraufhin sie zu Hause als Psychotherapeutin tätig war. Daher sah mein Leben in den letzten Schuljahren so aus: Ich kam nach Hause, ging in die Küche, und da daß schon jemand und wartete, dass Mama im Zimmer die vorangehende Sitzung abschließen würde. Mama hat mir beigebracht, den Wartenden Tee, Kaffee oder Wasser anzubieten. Das tat ich auch, setzte mich dazu, und wir begannen zu reden.
Ich habe an der RGGU Psychologie studiert. Ich hatte keine Erwartungen an die Universität. Ich dachte, dass sich die Hölle mit meinen Klassenkollegen auf irgendeine Art hier fortsetzen würde. Aber dann waren es fünf fantastische Jahre voller Liebe. Ich habe meine Universität geliebt, jeden Tag meines Studiums. Über Persönlichkeitspsychologie kam ich zur Kinderpsychologie, da habe ich mich viel mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen beschäftigt. Meine Diplomarbeit schrieb ich zu Besonderheiten der Mutterschaft bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen in Russland und Tadshikistan. Ich fuhr von Dorf zu Dorf, sprach mit Frauen, die keinen Zugang zu Hilfszentren, Psychologen und Therapeuten haben.
Warum hast du das gemacht?
Ich wollte wissen, woher sie die Kraft nehmen. Mir fiel auf, dass in diesen Dörfern ohne jegliche Therapieangebote die Frauen und ihre Familien mit behinderten Menschen viel sensibler umgehen. Vielleicht ist das etwas Nationales, vielleicht etwas Transnationales, Menschliches, jedenfalls leben sie mit der Überzeugung, dass wenn ein Mensch mit Besonderheiten geboren wird, dann ist er für irgendetwas in diese Welt gekommen, dann hat er eine Bestimmung. Menschen mit Behinderung werden dort verehrt.