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Russophonie – Russische Sprache im Plural

„Russland hat kein Monopol auf die russische Sprache. Unser ukrainisches Russisch Putin zu überlassen, das wäre das gleiche, wie Hitler das Deutsche zu überlassen. Ich persönlich habe nicht vor, meine Sprache irgendjemandem zu überlassen“1, sagte der ukrainische Dichter Alexander Kabanow in einem Interview im Mai 2022. Als russischsprachiger Autor ist er wie auch viele andere russischsprachige Ukrainerinnen und Ukrainer seit dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs gegen die gesamte Ukraine mit der Frage konfrontiert, wie er sich zu seiner Muttersprache positionieren soll. Diese sei, wie er das bereits 2017 formulierte, zur „Sprache des Feindes“ geworden: In diesem Jahr veröffentlichte er unter dem Titel „In der Sprache des Feindes“ einen Gedichtband über den seit 2014 im Osten der Ukraine schwelenden Krieg – und zwar auf Russisch.

Russisch ist eine der sechs Amtssprachen der Vereinten Nationen, weltweit ist es für etwa 258 Millionen Menschen Mutter-, Erst- oder Zweitsprache. Keineswegs alle von ihnen identifizieren sich als Russinnen oder Russen, haben die russische Staatsbürgerschaft, oder sind russischer Herkunft. Der russische Staat beansprucht jedoch für sich, die Interessen dieser Menschen zu vertreten – im Zweifel unter Einsatz militärischer Mittel.

Zum Ausdruck kommt der russische Vertretungsanspruch für Russischsprecherinnen und -sprecher besonders deutlich in der Ideologie des sogenannten Russki Mir (dt. russische Welt). Ursprünglich ein eher diffuses Kulturkonzept, wurde die Idee der „russischen Welt“ nach und nach ideologisch aufgeladen und soll nun auf Grundlage einer gemeinsamen Sprache und vermeintlich gemeinsamer Werte Russlands Herrschaftsanspruch im postsowjetischen Raum und mitunter auch darüber hinaus legitimieren.

Nationales Eigentum Russlands

Die russische Sprache wird oft als „nationales Eigentum Russlands“2 verstanden – so liest man es beispielsweise auf der deutschsprachigen Seite der Stiftung Russkij Mir, die 2007 durch einen Präsidentenerlass gegründet wurde. Die Grenzen dieser „russischen Welt“ werden maximal weit gefasst: „‚Russkij Mir‘ umfasst nicht nur Russen, nicht nur Einwohner Russlands, nicht nur unsere Landleute [sic] in den Ländern des weiten und nahen Auslands, Emigranten, Auswanderer aus Russland und ihre Nachkommen. Das sind ausländische Bürger, die Russisch sprechen, lernen und unterrichten, alle Menschen, die sich aufrichtig für Russland interessieren und über seine Zukunft aufregen [sic].“3

In der russischen Außenpolitik spiegelt sich dieser Vertretungsanspruch spätestens seit Russlands militärischer Intervention in Georgien im August 2008 wider. Die offizielle Rhetorik und Rechtfertigung der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 und des kurz darauf beginnenden und von Moskau kontrollierten Krieges im Osten der Ukraine zeigen, dass Russland lange vor dem 24. Februar 2022 damit begann, den vermeintlichen Schutz russischsprachiger Menschen als Vorwand für die Durchsetzung geopolitischer Interessen zu missbrauchen.

Dieser Vertretungsanspruch beunruhigt Staaten mit einem signifikanten Anteil von Bürgerinnen und Bürgern, die der Kreml durch ihre Herkunft oder ihre Sprache möglicherweise als „russisch“ betrachten könnte. Doch auch nicht alle Russischsprecherinnen und -sprecher wollen sich von Russland vertreten und vereinnahmen lassen. Staaten wie Individuen haben deshalb Strategien entwickelt, um den russischen Vertretungsanspruch einzudämmen und zurückzudrängen. Da Sprache dem Kreml als wichtigstes Identifikationskriterium für die Zugehörigkeit zur „russischen Welt“ dient, fallen auch viele der Gegenmaßnahmen in den Bereich Sprachpolitik.

Russisch im (post)sowjetischen Raum

Zur sowjetischen Amtssprache war das Russische erst kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch das Gesetz „Über die Sprachen der Völker der UdSSR“ vom 24. April 1990 geworden. Die Verfassung der Sowjetunion von 1977 verbot, Menschen aufgrund ihrer Sprache zu diskriminieren, räumte die Möglichkeit ein, muttersprachlichen Unterricht zu besuchen und gewährte den Sprachen der einzelnen Republiken einen besonderen Status. Faktisch war Russisch jedoch jahrzehntelang die Sprache gewesen, die das öffentliche Leben in der Sowjetunion dominiert hatte: Wer in der Politik, der gelenkten Wirtschaft, Wissenschaft oder Kultur etwas werden wollte, musste Russisch sprechen.

Schon während der Perestroika begannen die Sowjetrepubliken, ihre Nationalsprachen aufzuwerten. Sie änderten Schulprogramme, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden bestimmte Sprachkenntnisse teilweise auch zur Voraussetzung für den Erhalt der Staatsbürgerschaft oder die Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Einen verfassungsrechtlichen Sonderstatus hat die russische Sprache außerhalb Russlands heute nur noch in drei Nachfolgestaaten der UdSSR: in Belarus, Kasachstan und Kirgisistan, wobei es nur in Belarus den Rang einer Amtssprache besitzt, die mit dem Belarussischen gleichberechtigt ist.

In der Ukraine gab es seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 immer wieder Debatten um die Nutzung der russischen Sprache. Während der ehemalige Präsident Viktor Janukowitsch 2012 noch die Anerkennung des Russischen als Regionalsprache in den Regionen mit einem hohen Anteil von Russischsprecherinnen und -sprechern gefördert hatte4, unterstützte der Staat nach 2014 immer stärker das Ukrainische. Das 2019 angenommene Gesetz „Über die Gewährleistung des Funktionierens der ukrainischen Sprache als Staatssprache“ wurde zum Wendepunkt der staatlichen Sprachregulierung in der jüngsten Geschichte des Landes. Das Gesetz schreibt unter anderem die Verwendung des Ukrainischen in öffentlichen Einrichtungen vor und stärkt seine Nutzung in den Medien und in der Kultur- und Unterhaltungssphäre, indem es etwa Bußgelder vorsieht, wenn beispielsweise russischsprachige Publikationen nicht auch in ukrainischer Sprache erscheinen.

Seit Beginn des großflächigen russischen Angriffskriegs hat sich die Sprachsituation im Land noch einmal beträchtlich verändert. Laut einer Umfrage, die vom Kyjiwer Internationalen Institut für Soziologie durchgeführt wurde, hat sich die Anzahl der Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich im Alltag ausschließlich auf Ukrainisch unterhalten, im Vergleich zu 2017 bemerkenswert (um 7 Prozentpunkte) vergrößert.5 Auch im Kulturbereich können erhebliche Kurswechsel beobachtet werden. Ehemals primär russisch schreibende Autorinnen und Autoren haben öffentlich ihren Wechsel in die ukrainische Sprache zum Thema gemacht, darunter die aus Donezk stammende Dichterin Ija Kiwa6 oder der in Kanada lebende ukrainische Lyriker und Literaturwissenschaftler Alex Averbuch.7 Und selbst Alexander Kabanow, der weiterhin auf Russisch schreiben will, plant nun einen Gedichtband auf Ukrainisch zu veröffentlichen.8

„Unsere“ russische Sprache

Nicht alle Russichsprecherinnen und -sprecher sind bereit, ihre Sprache dem Kreml zu überlassen. Einen Mitstreiter im Geiste hat Alexander Kabanow in Juri Serebrjanski aus Kasachstan. Der Autor und Kulturwissenschaftler ist einer der führenden Vertreter der sogenannten „jungen“ russischsprachigen Literatur Kasachstans. Auch in der zentralasiatischen Republik wird über die Verwendung der russischen Sprache gestritten. Während kasachische Nationalisten den verfassungsrechtlichen Sonderstatus der russischen Sprache streichen wollen, fürchten Vertreterinnen und Vertreter ethnischer Minderheiten in diesem Fall um ihre Zukunft in Kasachstan: Russisch ist für viele Angehörige dieser Minderheiten Erstsprache. Ihre Kasachischkenntnisse liegen trotz massiver staatlicher Investitionen in Sprachförderung weiterhin deutlich unter denen der Mehrheitsbevölkerung.

Schon 2019 hatte Serebrjanski in einem Essay mit dem Titel „Die russische Sprache – das ist Kasachstan“9 gefragt, ob sich die Diskussion um die Nutzung der russischen Sprache in Kasachstan nicht entspannen würde, wenn man die russische Sprache als etwas begreife, das den russischsprechenden Bürgerinnen und Bürgern Kasachstans gehöre, und eben nicht Russland. Seit Russlands Angriff auf die Ukraine wirbt Serebrjanski vermehrt für die Einrichtung eines kasachstanischen Instituts für russische Sprache, das eigene Standards für die russische Sprache Kasachstans setzen und die russischsprachige Kultur Kasachstans unterstützen solle.10 Als Kasachstans Präsident Qassym-Schomart Toqajew im Oktober 2022 vorschlug, ein internationales Institut für die Unterstützung und Entwicklung der russischen Sprache zu schaffen, erschien es für einen kurzen Moment, als bekäme diese Idee Rückendeckung von höchster Ebene. Dass diese Ankündigung bei einem Gipfeltreffen der GUS-Staaten im Beisein Wladimir Putins erfolgte, weckte allerdings Zweifel, ob es sich bei einem solchen Institut um eine von Russland unabhängige Einrichtung handeln kann.

Indessen werden Debatten um die Beschaffenheit der russischen Sprache sowie um deren Zukunft nicht nur in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion geführt, sondern weltweit. So sprechen in den USA, Israel oder Deutschland, also in jenen Ländern, die zwischen den 1970–1990er Jahren Hauptziele (post)sowjetischer Emigrantinnen und Emigranten waren, noch heute Millionen dieser Menschen und ihrer Nachkommen Russisch, darunter zahlreiche Kulturschaffende. Ihrer russischen Muttersprache bedienen sich etwa die in Israel lebende Bestsellerautorin Dina Rubina, die Lyrikerin Polina Barskova in den USA oder der Komponist und Dichter Boris Filanowsky in Deutschland. Die Themen dieser und anderer migrierter Autorinnen und Autoren sind dabei ebenso vielfältig wie die sprachliche Ausgestaltung ihrer Werke: Während viele Migrationserfahrungen und das Leben in den jeweils neuen Ländern in den Fokus stellen, beschäftigen sich andere mit der Geschichte oder der Gegenwart Russlands, dritte wiederum mit gänzlich anderen Themen. Vielfach finden die jeweiligen Landessprachen Eingang in die Texte, Deutsch, Englisch oder Hebräisch werden kunstvoll mit dem Russischen verflochten. Oftmals verändert sich in der neuen Umwelt aber auch die russische Sprache selbst: Neologismen und Lehnwörter verleihen ihr eine spezifische lokale Prägung und verankern sie in einem konkreten, erkennbar nicht russländischen geokulturellen Kontext. Diese Veränderungen des Russischen sowie die alltägliche und literarische Mehrsprachigkeit verweisen auf die Entstehung einer Mehrzahl postimperialer ‚russischer Sprachen‘ – ganz so, wie nach dem Zerfall des britischen Imperiums eine Vielzahl von ‚World Englishes‘ entstanden ist.

Globale russophone Kulturen

In akademischen Debatten trifft man in diesem Zusammenhang auf den Begriff der „Russophonie“.11 Analog zu Überlegungen zu frankophonen Literaturen und Kulturen12 ließen sich russophone Autorinnen und Autoren vor allem über die Sprache definieren, in der sie schreiben. Diese Betonung der Sprache der Texte, statt der territorialen Zugehörigkeit der Schreibenden, macht die Frage nach ihrer Herkunft oder ihrer Beziehung zu Russland obsolet. Statt der russischen Kultur wird nun von den globalen russischen oder eben russophonen Kulturen13 – und der Plural ist hier wichtig – gesprochen, die sich als ein „Archipel“ verstehen lassen. Zusammen formen die weltweit verteilten „Inseln“ russophoner Kulturen ein dezentrales Ganzes. Diese „Inseln“, die sich unter anderem im Baltikum und in Israel, in Zentralasien, den USA oder Deutschland befinden, stehen im regen Austausch miteinander, sind aber voneinander unabhängig und orientieren sich nicht an einem gemeinsamen Zentrum – also weder an Russland, noch an einem anderen Land.14

Der russische Angriff auf die gesamte Ukraine hat diese Debatte auch unter Kulturschaffenden intensiviert. Dabei geht es um Abgrenzung zu Putins Russland, aber auch um ganz praktische Fragen, etwa darum, wie man sich von dem für russischsprachige Autorinnen und Autoren seit den 1990er Jahren so relevanten russischen Literaturmarkt unabhängig machen kann. Welche konkreten Resultate diese Diskussionen einmal haben werden, ist aktuell offen. Dass sie geführt werden, zeigt aber, dass Russlands Alleinvertretungsanspruch auf die russische Sprache und die russische Kultur nicht zu halten ist.


1.novayagazeta.eu: «Otdatʹ russkij jazyk Putinu — vse ravno čto nemeckij Gitleru» 
2.russkijmir.ru: Über Stiftung „Russkij Mir“ 
3.russkijmir.ru: Ideologie (Waybackmachine archivierte Version 19. Juni 2022). Das Zitat entstammt der deutschen Übersetzung der Website und wurde von uns nicht verändert. Mit „aufregen“ ist wohl eher „sorgen“ gemeint. 
4.Das Gesetz sah vor, dass eine Regionalsprache, die nicht unbedingt Russisch sein musste, in einer bestimmten Region de facto als zweite Amtssprache in den Bereichen Bildung, Justiz und Verwaltung hätte verwendet werden sollen. 
5.zbruc.eu: Mowa ta identytschnist w Ukrajini na kinez 2022-ho 
6.pravda.com.ua: Ija Kiva: Tam, de vseredyni mene bula rosijsʹka mova, ja vidčuvaju mertvoho zvira 
7.apofenie.com: Relieving the Terrible Knots of History: An Interview with Alex Averbuch 
8.Youtube/LaboratorioEditoria: Editoria e poesia civile in Ucraina: incontro con Aleksandr Kabanov (28. Oktober 2022) 
9.camonitor.kz: Russkij jazyk — ėto Kazachstan 
10.Für die Ukraine forderte der prominente russischsprachige Autor Andrej Kurkow bereits 2018 ein solches Institut (S.: dsnews.ua: Andrej Kurkov: "Ukraina dolžna sdelatʹ russkij jazyk svoej kulʹturnoj sobstvennostʹju").. Im April 2022 sagt er in einem Interview, dass sein Land ein solches Institut weiterhin bräuchte, die Frage aber an Aktualität verloren habe (S.: radiosvoboda.org: Ščo bude z rosijsʹkoju movoju, kulʹturoju i literaturoju pislja vijny. Interv’ju z Andrijem Kurkovym
11.In den slawistischen Diskurs eingeführt wurde dieser Begriff von der US-amerikanischen Slawistin Naomi Caffee: Caffee, Naomi (2013): Russophonia: Towards a Transnational Conception of Russian-Language Literature, PhD diss. University of California, Los Angeles 
12.Jack, Belinda (1996): Francophone Literatures: An Introductory Survey, Oxford 
13.Platt, Kevin M.F., Hrsg. (2019): Global Russian Cultures, Madison 
14.S.: Rubins, Maria (2019): A Century of Russian Culture(s) ‘Abroad’. The Unfolding of Literary Geography, in: Platt, Kevin M.F., Hrsg.: Global Russian Cultures, Madison S. 21-47 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)