Als Russland am 24. Februar 2022 vollumfänglich die Ukraine überfiel, befanden sich rund 3300 ukrainische Staatsbürger im Strafvollzug oder in Untersuchungshaft in jenen Gebieten, die Russland in den folgenden Wochen besetzt hat. Die russischen Besatzungsbehörden verlegen diese Gefangenen dann oft innerhalb der okkupierten Regionen oder verschleppen sie in Gefängnisse nach Russland.
Menschenrechtsaktivisten berichten, dass auch diese Gefangenen häufig Folter und unwürdigen Haftbedingungen ausgesetzt sind. Außerdem versuche man immer wieder, sie für die russische Armee zu rekrutieren. Ähnliches erleben ukrainische Zivilisten, die unter russischer Besatzung oder in Russland aus politischen Gründen inhaftiert sind.
Wenn die Gefängnisinsassen ihre Haftstrafe verbüßt haben, kommen sie nicht einfach frei, können nicht in die Ukraine zurückkehren. Denn schnell werden sie wieder von russischen Sicherheitskräften festgenommen: Wegen angeblicher Verstöße gegen Aufenthaltsgesetze oder fehlender Dokumente landen sie in temporären Abschiebeeinrichtungen, von wo aus sie theoretisch in die Ukraine abgeschoben werden müssten. Doch wegen des Kriegs ist eine direkte Abschiebung unmöglich. So müssen die Betroffenen oft Monate lang mit ungeklärtem Status in erneuter Haft warten, bis sie über Drittländer ausreisen können. In für lange Aufenthalte nicht ausgelegten Transitzonen sitzen sie fest und können nur auf die Hilfe von Freiwilligen hoffen.
Im großen Gefangenenaustausch „1000 für 1000“, dem einzigen sichtbaren Erfolg der ukrainisch-russischen Verhandlungen in Istanbul, hat Russland Ende Mai auch 120 ukrainische Zivilisten freigelassen. Unter ihnen sollen neben verschleppten politischen Gefangenen auch ehemalige Insassen von russisch besetzten ukrainischen Gefängnissen sein.
Das ukrainische Online-Portal Graty hat für seine Reportage mit Betroffenen und Menschenrechtlern gesprochen.
In manchen ukrainischen Haftanstalten, wie diesem Untersuchungsgefängnis in Cherson, richteten die russischen Besatzer ab 2022 eigene Folterzellen ein. Die ukrainischen Gefangenen verlegten sie innerhalb der besetzten Gebiete oder gar nach Russland. / Foto © Lafargue Raphael/Abacapress/ Imago
„Seht mal, Jungs, da rollen Panzer“
Die Insassen der Nördlichen Vollzugsanstalt Nummer 90 in Cherson behalten den russischen Einmarsch im Februar 2022 in lebhafter Erinnerung. „Es gibt da einen Garten vor dem Gefängnis. Einige Jungs gingen raus, und als sie zurückkamen, sagten sie: Seht mal, Jungs, da rollen Panzer“, erinnert sich Olexii (Nachname auf Wunsch des Gesprächspartners nicht genannt). „Dann rauschten Hubschrauber über uns hinweg. Wir gingen raus, kletterten aufs Dach und sahen, wie die Panzer vorbeifuhren. Sie kamen aus Richtung Beryslaw und fuhren über den Staudamm des Kachowka-Wasserwerks. Wir hatten keine Angst, haben erstmal nichts gemacht und einfach nur zugesehen.“
Olexii berichtet weiter: Einige Tage später kamen dann russische Soldaten in das Gefängnis, ließen alle Insassen in einer Reihe antreten und teilten ihnen mit, dass sie, die Russen, von nun an das Sagen hätten und „kurzen Prozess“ mit jedem machen würden, der etwas dagegen habe.
Eine Zeit lang schien sich sonst nichts zu ändern, doch im Frühsommer brachten die Besatzer dann Gefangene aus anderen Gefängnissen der Region zu ihnen. „Erst waren wir 600-700, vielleicht 800 Männer im Lager, doch dann wurden wir mehr als 2000. Wir schliefen auf Dreier-Etagenbetten“, berichtet Olexii. „Am 23. Oktober wurden wir nach Hola Prystan gebracht, wo es einen Tuberkulosetrakt gab. Die Brücke [über den Dnipro – dek] war bereits zerstört, also brachten sie uns per Fähre zur ‚Sieben‘ [Nummer des Gefängnisses]. Es war ein Alptraum: Da waren nur noch Ruinen, aber sie hielten uns dort für etwa zwei Wochen fest.“
Das Tuberkulose-Gefängnis von Hola Prystan in der Region Cherson, seit 2022 unter russischer Besatzung
Dann kam das russische Militär mit gepanzerten „Tigr“-Fahrzeugen, mit Maschinengewehren auf dem Dach, zum Gefängnis und teilte die Gefangenen in Gruppen zum Abtransport ein.
„Es fuhren sieben oder acht ‚Schwarze Raben‘ vor. In jedes Fahrzeug steckten sie 30-40 Personen. Wir waren 35 Personen im Laderaum“, erinnert sich Olexii. „Unsere erste Ladung mit etwa 250 Personen wurde nach Armjansk gebracht, wo wir zwei Stunden lang ausharrten, bis man uns nach Simferopol brachte. Dort befindet sich die U-Haftanstalt Nr. 2 des FSB.“
Das FSB-Untersuchungsgefängnis Nr. 2 in Simferopol auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krym / Foto von der Webseite von Sergej Axjonow, dem Oberhaupt der russischen Verwaltungsbehörde für die Krym
„Wenn du nicht arbeitest, stecken sie dich in die Grube“
In Simferopol bereitete man den Gefangenen einen „gebührlichen Empfang“, wie Olexii es beschreibt: Jeder, der aus dem Fahrzeug stieg, wurde von den Wärtern geschlagen. Olexii habe Schläge auf die Beine und den unteren Rücken bekommen. Witalii, ein weiterer ehemaliger Gefangener und ebenfalls Gesprächspartner für diesen Artikel, berichtet, dass einige Mithäftlinge durch die Schläge das Bewusstsein verloren.
„Wir wurden ganz schön verprügelt und ordentlich zugerichtet. Mir schlugen sie einen Zahn aus. Andere schlugen sie so heftig, dass sie ‚ausgeknipst‘ wurden und erst später wieder zu sich kamen. Ich weiß nicht, warum sie das taten. Vielleicht nur, um uns klarzumachen, mit wem wir es zu tun haben“, meint Witalii.
Später wiederholte sich dieses Ritual in Russland, wohin die Gefangenen von der Krym verlegt wurden. Erst bei der Ankunft dort erfuhr Witalii, dass er nun im Gefängnis Nr. 14 in der Region Krasnodar sei.
Olexii indes kam ins Gefängnis Nr. 2 in Dwubratskoje, ebenfalls in der Region Krasnodar. Dort nähten die Häftlinge Arbeitskleidung für Tankwarte, Bauarbeiter oder auch Tarnuniformen – angeblich für Jäger. Bezahlt wurden sie für ihre Arbeit nicht.
„Wenn du nicht arbeiten gehst, stecken sie dich in die Grube und behandeln dich wie einen Hund“, berichtet Olexii.
„Wir sind der Abschaum unseres Landes, aber keine Verräter“
Beide Gesprächspartner in beiden Gefängnissen wurden, so berichten sie, unter Drohungen gedrängt, russische Pässe anzunehmen. Manche lockte man auch zur russischen Armee, um da gegen die Ukraine zu kämpfen.
„Viele Männer nahmen die Pässe an und blieben. Viele aber weigerten sich auch. Mein Land ist mein Land. Ja, wir sind der Abschaum unseres Landes und haben schlimme Dinge gemacht, aber wir sind keine Verräter“, betont Olexii. „Sie [die Russen – dek] wollten, dass wir für sie Stellungen [des ukrainischen Militärs – Graty] auskundschaften. Dabei haben die mir mein Haus zerschossen, meine Kinder mussten im Keller Schutz suchen und ich soll jetzt für sie arbeiten? Das sind doch elende Hunde!“
„Sie unterstellten mir, dass ich die Grenze zur Russischen Föderation illegal überschritten hätte“
Auch Witalii lehnte solche Angebote der russischen Gefängnisverwaltung ab und hoffte, bald nach Hause zurückkehren zu können. Ihm blieben noch dreieinhalb Monate seiner Haftstrafe. Und als es so weit war, wurde er tatsächlich aus dem Gefängnis entlassen.
Doch noch am selben Tag nahm die russische Polizei Witalii wieder fest und mit auf die Wache: „Sie unterstellten mir, dass ich die Grenze zur Russischen Föderation illegal überschritten hätte. Dann brachten sie mich zum Gericht. Das Gericht verurteilte mich zu einer Geldstrafe von zweitausend Rubel und ordnete meine Abschiebung an. Ich kam in ein Abschiebehaftzentrum. Acht Monate lang musste ich dort bleiben. Diese acht Monate waren wie eine neue Haftstrafe für mich“, sagt Witalii.
Einen Monat später wurde Witalii in einer Gruppe von Inhaftierten aus dem Abschiebezentrum nach Werchny Lars an die russisch-georgische Grenze gebracht. Doch es kam nicht zur Abschiebung: Weil Witalii zwar seinen ukrainischen Inlandspass dabeihatte, der jedoch kein aktuelles Foto enthielt, entschieden die russischen Grenzbeamten, dass das Dokument ungültig sei.
„Russland ließ mich ausreisen, aber Lettland ließ mich nicht rein“
Sechs Monate später wurde Witalii nach Pskow gebracht, um über die Grenze zu Lettland abgeschoben zu werden. „Vier Tage lang waren wir unterwegs, hin und zurück. Währenddessen mussten wir Handschellen tragen, als wären wir Schwerverbrecher. Wir hatten Hunger und konnten nicht auf die Toilette gehen. Letztlich ließ mich nun zwar Russland ausreisen, doch Lettland ließ mich nicht rein. Ich sollte zurück, wo ich hergekommen war. Also haben sie mich zurückgebracht.“
Und dabei blieb es, bis Russland die Prozedur zur Bestätigung der Identität von Ausländern änderte. Seit Beginn der Vollinvasion erließ Putin mehrere Dekrete, die angeblich den Status ukrainischer Bürger regeln sollten. So sieht ein Erlass vom 29. September 2023 vor, dass ukrainische Staatsbürger, deren Dokumente abgelaufen waren, sowie Menschen ohne Papiere, Russland mit einer Kopie der Identitätsfeststellung des russischen Innenministeriums in einen Nachbarstaat verlassen könnten, wenn dieser zustimmte.
Erlass des russischen Präsidenten vom 29. September 2023, Absatz 4: „Bürger der Ukraine, die nicht im Besitz der in Absatz 1 dieses Erlasses genannten gültigen Dokumente sind, können ausnahmsweise die Russische Föderation über die Landgrenze in an die Russische Föderation angrenzende Staaten verlassen (vorausgesetzt, dass diese Staaten die betreffenden Personen akzeptieren), wenn sie eine Kopie des Beschlusses über die Feststellung der Identität des ausländischen Bürgers vorlegen, der von einem lokalen Organ des Innenministeriums der Russischen Föderation gemäß Artikel 101 Absatz 12 des Föderalen Gesetzes Nr. 115-FZ vom 25. Juli 2002 ‚Über die Rechte ausländischer Bürger in der Russischen Föderation‘ ausgestellt wurde.“
Damit kam auch Bewegung in Witaliis Fall, sodass er und seine Gruppe schließlich abgeschoben wurden. Zurück in Werchny Lars brauchten sie zwei Tage, um die Grenze zu überqueren. In Georgien empfingen sie freiwillige Helfer, die sie aufnahmen und ihnen halfen, Dokumente zu besorgen. Schließlich kehrte Witalii über Moldau in die Ukraine zurück.
Doch auch hier ist Witaliis Status unklar: „Ich habe hier mit der Polizei gesprochen. Meine Mutter hatte bereits Anzeige erstattet, als ich noch in Russland war. Zwar bin ich jetzt hier, doch weiß ich nicht, wie mein Status ist, ob ich als Opfer anerkannt werde. Deswegen weiß ich gar nicht, woran ich bin, aber ich will, dass das nicht ungestraft bleibt.“
Nach Angaben der ukrainischen NGO Sachist wjasniw Ukrajiny (deutsch: Gefangenenhilfe Ukraine) werden solche Fälle tatsächlich untersucht: Bis Ende 2024 bekamen 244 ehemalige Gefangenen und 143 ihrer Angehörigen den Status eines Betroffenen in Verfahren wegen „Verstößen gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges“ (Artikel 438 des ukrainischen Strafgesetzbuches) zuerkannt.
„Am Abend ins Transitgefängnis, am Morgen nach Kertsch“
Olexii musste indes noch zwei Jahre und drei Monate Haftstrafe im Gefängnis in der Region Krasnodar absitzen. Er berichtet, dass noch mehr Ukrainer aus Gefängnissen in den besetzten Gebieten dorthin gebracht wurden. In seiner Gruppe waren demnach etwa 150 Personen. Einige Tage später kam eine weitere Gruppe mit rund 100 Personen an. Im November 2024 wurde Olexii aus der Haft entlassen.
„Am 11. November wurden wir nach Krasnodar gebracht, dort steckten sie uns am Abend in ein Transitgefängnis und brachten uns am Morgen weiter nach Kertsch. Ich verbrachte 45 Tage in Kertsch“, berichtet Olexii. „Als wir dort entlassen wurden, begleiteten uns sechs FSB-Agenten in einem Auto zur Polizeiwache, machten Fotos von uns und nahmen unsere Fingerabdrücke. Sie ließen uns ein Formular unterschreiben, dass wir nichts filmen, niemandem etwas erzählen und nichts in die Luft jagen würden. Warum sollte ich auch? Dann brachten sie uns zu einer Unterkunft.“
Die Übernachtung dort zahlten ihnen freiwillige Helfer. Von der besetzten Krym mussten die ehemaligen Häftlinge dann wieder aufs russische Festland und auf eigene Faust zur Grenze nach Georgien fahren. In Georgien gingen sie sofort zur ukrainischen Botschaft und beantragten Dokumente für ihre Rückkehr in die Ukraine.
„So kam ich zurück. Meine Frau wartete auf mich und nun bin ich wieder zu Hause“, sagt Olexii froh.
„Alle werden illegal in Abschiebezentrum festgehalten“
Neben den unter russischer Besatzung entführten Gefangenen haben auch die aus politischen Gründen in Russland verfolgten und verurteilten Gefangenen [mit ukrainischer Staatsbürgerschaft – dek] Probleme nach der Freilassung.
Einer von ihnen ist Andrii Kolomijez, ein Euromaidan-Aktivist, der 2015 in Russland festgenommen wurde, als er seine zukünftige Frau Halyna treffen wollte. Wegen eines angeblichen Angriffs auf Berkut-Offiziere damals in Kyjiw wurde er verurteilt. Im Januar 2025 kam Kolomijez nach zehn Jahren Haft frei, wurde aber sofort in Abschiebehaft gebracht.
Sein Fall hatte damals viel Aufmerksamkeit erregt. Die Anklage gegen ihn leitete die berüchtigte Staatsanwältin der Krym-Besatzer, Natalja Poklonskaja, erinnert sich Olha Skrypnyk, Leiterin der Krym-Menschenrechtsgruppe.
Skrypnyk zufolge befindet sich Kolomijez noch immer im Abschiebezentrum in der russischen Region Krasnodar, wo er von einem Gericht wegen Verletzung der Aufenthaltsgesetze schuldig gesprochen wurde. Gleichzeitig gilt Kolomijez bereits seit einigen Jahren für Russland (wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer in Russland als extremistisch eingestuften Organisation – dek) als unerwünschte Person, sodass er auch deswegen abgeschoben werden müsste, so die Leiterin der Krym-Menschenrechtsgruppe.
„Es gibt mehrere Dutzende ukrainische Staatsbürger, die ihre Strafe aufgrund verschiedener Urteile verbüßt haben. Nicht alle von ihnen wurden aus politischen Gründen verurteilt, aber alle werden illegal in sogenannten Abschiebezentrum festgehalten“, betont Skrypnyk. „Formal müsste Andrii Kolomijez abgeschoben werden, aber Russland weigert sich und beruft sich darauf, dass wegen der sogenannten ‚militärischen Spezialoperation‘ keine diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern bestehen.“
Die Inhaftierung in Abschiebezentren könne, so die Menschenrechtlerin, in Russland praktisch zeitlich unbegrenzt dauern – so lange, wie die Gerichte die Haft dort verlängern. Skrypnyk verweist darauf, dass dies nicht nur ein Rechtskonflikt sei, sondern eine gezielte Maßnahme, die von den russischen Strafverfolgungsbehörden eingesetzt werde, um Ukrainer unter Druck zu setzen.
Grenzübergang Werchny Lars Russland-Georgien
„Das Völkerrecht verbietet die Zwangsverbringung von Zivilisten“
Vor dem 24. Februar 2022 befanden sich auf dem Gebiet, das die russische Armee in den folgenden Wochen besetzte, insgesamt 2422 Verurteilte im Strafvollzug und 900 Personen in U-Haft. Diese Zahlen teilte das ukrainische Justizministerium Graty auf Anfrage mit.
Im November 2022 registrierten die Gefangenenhilfe Ukraine, das Menschenrechtszentrum Zmina sowie das European Prison Litigation Network (EPLN) gemeinsam mit der Staatlichen Universität für innere Angelegenheiten in Lwiw eine groß angelegte Verlegung von Gefangenen aus Strafvollzugsanstalten in den besetzten Gebieten der Regionen Cherson und Mykolajiw nach Russland. Die Gesamtzahl dieser Deportierten wird nach vorläufigen Schätzungen auf etwa 1800 bis 2000 Personen beziffert.
Die Menschenrechtler betonen die Rechtswidrigkeit dieses Vorgehens: Das humanitäre Völkerrecht verbietet die Zwangsverbringung von Zivilisten – Ausnahmen erlaubt es nur, wenn sie zu ihrer eigenen Sicherheit evakuiert würden. In diesem Fall verpflichte sich der evakuierende Staat, den Betroffenen ausreichend sanitäre Einrichtungen, Gesundheitsversorgung, Sicherheit und Ernährung zu bieten. Dies geschah nicht.
Außerdem bestätigen die Menschenrechtsexperten die wiederholten Inhaftierungen von entlassenen Gefangenen unter dem Vorwurf, sie hätten gegen russische Aufenthaltsgesetze verstoßen. Die Unterbringung in Abschiebezentren entspreche einer erneuten Haft.
Dem Bericht zufolge konnten ukrainische Staatsbürger Russland bis August 2024 über den Grenzübergang Kolotyliwka-Pokrowka [in der Region Sumy – dek] direkt in die Ukraine oder über Drittländer wie Lettland oder Georgien verlassen. Allerdings gab es häufig Probleme beim Grenzübertritt. Die meisten Ausreisen erfolgten heute über Georgien.
„Diese Menschen landen im Keller einer Baustelle“
Ehemalige Gefangene, die über Georgien ausreisen konnten, erwähnen oft die dortige Initiative Volunteers Tbilisi, die seit März 2022 in der georgischen Hauptstadt aktiv ist und sich ursprünglich dafür engagierte, humanitäre Hilfe in die Ukraine zu schicken. Später kam die Unterstützung von Geflüchteten hinzu, sagt Maria Belkina, die Gründerin der Initiative. Sie ist russische Staatsbürgerin und vor etwa sieben Jahren mit ihrer Familie nach Georgien gezogen.
Im Sommer 2023 erfuhr Belkina durch eine Kollegin von der Situation ukrainischer Staatsbürger, die illegal in russische Haftanstalten gebracht wurden und mit Problemen nach ihrer Entlassung konfrontiert waren. Als die Freiwilligen zur Grenze fuhren, trafen sie dort eine Gruppe ehemaliger Gefangener, die ihnen von der Verlegung aus Gefängnissen aus den russisch besetzten Gebieten und den Schwierigkeiten bei der Rückkehr in die Heimat berichteten. Schnell stellte sich heraus, dass es um Tausende Betroffene ging, die potenziell Hilfe brauchten.
Sie bekommen dort nicht einmal zu essen. Das Essen bringen wir.
Belkina und ihr Team haben seitdem etwa dreihundert Menschen an der Grenze empfangen. Auf ukrainischer Seite arbeitet Volunteers Tbilisi auch mit der Gefangenenhilfe Ukraine zusammen, die in Rechtsfragen berät, Aussagen dokumentiert und sie bei der Logistik der Heimreise unterstützt.
Am schwierigsten sei die Situation für Menschen, die außer ihren Entlassungsurkunden keine weiteren Dokumente hätten, so Belkina. Das seien mehr als die Hälfte der Fälle. Die georgische Seite stellt dann ein Ersuchen an ukrainische Diplomaten, die die Identität der Person bestätigen müssen.
„Diese Menschen landen dann im Keller einer Baustelle an der Grenze. Wir sprechen hier von absolut unwürdigen Bedingungen. Es ist buchstäblich ein Keller voller Baumaterialien, doch irgendwie müssen sie dort ausharren. Das kann einen Monat bis anderthalb Monate dauern. Das ist die gängige Praxis. Sie bekommen dort nicht einmal zu essen. Das Essen bringen wir“, erzählt die Freiwillige.
„Kyjiw und Tbilisi einigten sich auf ein gesondertes Verfahren“
Das ukrainische Außenministerium erklärte auf Graty-Anfrage, dass wegen des Krieges und des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen keine ukrainischen Konsulate auf russischem Hoheitsgebiet tätig seien und die Diplomaten ukrainische Staatsbürger nur von Nachbarländern Russlands aus unterstützen können.
Da die russischen Behörden häufig versuchten, Ukrainer nach Georgien abzuschieben, hätten sich Kyjiw und Tbilisi aber bereits auf ein gesondertes Verfahren zur Identitätsfeststellung und Rückkehr ukrainischer Staatsbürger geeinigt, die aus Haftanstalten in den besetzten Gebieten der Ukraine stammen und nach Russland verbracht wurden, so Sprecher Heorhii Tychy.
„Nach Einleitung eines entsprechenden Verfahrens wird ukrainischen Staatsbürgern in der Regel ein Ausweis für die Rückkehr in die Ukraine ausgestellt. Die Registrierung und Ausstellung dieses Dokuments zur Rückkehr in die Ukraine erfolgt innerhalb eines Arbeitstages, sofern alle Nachweise zur Identitätsfeststellung und der Staatsangehörigkeit vorliegen“, heißt es außerdem in einer Erklärung des Außenministeriums.
Demnach hat die ukrainische Botschaft in Georgien im Jahr 2024 95 Dokumente zur Rückkehr in die Ukraine an ehemalige Gefangene ausgestellt, in den ersten drei Monaten des Jahres 2025 bereits 37. Wie die ukrainische Botschaft in Georgien auf Anfrage der Gefangenenhilfe Ukraine mitteilte, wurden 2024 216 Anträge von ehemaligen Gefangenen sowie 44 Anträge bislang im Jahr 2025 gestellt.
Nach Angaben einer Anwältin der Organisation, Anna Skrypka, dauert dieses Verfahren zur Identitätsfeststellung und Bestätigung der ukrainischen Staatsbürgerschaft, um die zur Rückkehr benötigten Dokumente zu erhalten, tatsächlich im Durchschnitt noch immer zwischen einem und drei Monaten. Schlimm sei es für die Menschen, die trotz allem einen Negativbescheid bekämen. 2024 betraf das nach Botschaftsangaben neun Personen, in diesem Jahr noch keine.
Insgesamt sind seit 2022 etwa 400 ehemalige Gefangene aus den aktuell von Russland besetzten Gebieten der Ukraine aus russischer Haft über Georgien in die Ukraine zurückgekehrt. Etwa einhundert sind in Georgien geblieben.
Zuletzt berichtete der georgische Ableger von Radio Svoboda, dass Ende Juni 2025 etwas mehr als 50 ukrainische Staatsbürger im provisorischen Abschiebetrakt des russisch-georgischen Grenzübergangs Werchny Lars auf ihre reguläre Abschiebung warten.