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„Das war nicht die übliche Stimme der Sieger“

Ein halbes Jahrhundert lang lag ein Erinnerungsschatten über den Schicksalen der zivilen Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion: In der deutschen Erinnerungskultur war dieses dunkle Kapitel der NS-Zeit kaum sichtbar. Auch in der Sowjetunion herrschte Schweigen über die tragischen Schicksale von fast drei Millionen Menschen.

In Deutschland konnten erst nach der Gründung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) die individuellen Entschädigungszahlungen an die zivilen Zwangsarbeiter am 30. Mai 2001 beginnen. Heute, 76 Jahre nach Kriegsende, sind einige von über 30.000 Zwangsarbeitslagern Gedenkorte. In den vergangenen Jahren kamen in Deutschland zahlreiche Publikationen heraus, auch die Zivilgesellschaft beschäftigt sich immer mehr mit dem Thema. 

Auf Afisha zeichnet Memorial-Mitarbeiterin Ewelina Rudenko die Aufarbeitung in Russland nach – und schildert, wie diese eigentlich „aus Versehen“ begann.

dekoder zeigt Bilder und erzählt die Geschichten dahinter – in Zusammenarbeit mit Batenka. Memorial-Mitarbeiterin Irina Schtscherbakowa ordnet die Bilder ein und erklärt, warum viele Zwangsarbeiter über Jahrzehnte ihre Biografie verheimlichen mussten. 

Source Afisha
Iwan Sch., 16 Jahre alt. Weihnachtsfeier. Selb, 1942 / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr. 212046

Ewelina Rudenko, Koordinatorin des Memorial-Projekts Digitalisierung des „Ostarbeiter“-Archivs

1990 erschien in der Zeitung Nedelja ein kurzer Artikel über „Ostarbeiter“. Darin hieß es, dass die Organisation Memorial die Entschädigungszahlungen an die Menschen übernehmen würde, die während des Großen Vaterländischen Krieges zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren. Der Artikel wurde in unzähligen Lokalzeitungen nachgedruckt. Ein paar Monate später hatte Memorial etwa 320.000 Briefe von ehemaligen „Ostarbeitern“ und ihren Verwandten erhalten. In der Hoffnung auf eine gerechte Wiedergutmachung und aus dem Wunsch heraus, ihre Geschichte zu teilen, schrieben die Menschen ausführliche Briefe, schickten Fotos und Dokumente von ihrer Zeit in Deutschland. So entstand die Sammlung von Dokumenten zur Geschichte der Zwangsarbeit, die Memorial International angelegt hat, durch einen glücklichen Zufall.

Als Geschichtsstudentin hat mich allein schon die Möglichkeit fasziniert, Fotos aus der Kriegszeit in Deutschland in den Händen zu halten. Aber noch viel beeindruckender waren die Erzählungen der „Ostarbeiter“ über den Krieg.

Denn das war nicht die übliche Stimme der Sieger (die uns aufgedrängt wird und die mit jedem Jahr lauter erklingt), sondern der Blick der Opfer, die man gezwungen hatte, sich selbst für Verräter und nicht für Opfer zu halten.

Das war nicht die übliche Stimme der Sieger

Dank der „Ostarbeiter“ habe ich zum ersten Mal ganz klar verstanden und gespürt, dass der Krieg keine unendliche Reihe von Schlachten und Siegen ist, sondern eine einzige riesige Tragödie, die Millionen Menschenleben zerrüttet und zerstört hat.

Nach der Lektüre all dieser Briefe und Erinnerungen kam mir die erschreckende Erkenntnis, wer die „Ostarbeiter“ eigentlich waren: Es waren überwiegend junge Frauen zwischen 17 und 18 Jahren, meistens aus Dörfern. Frauen, die möglicherweise diese Dörfer noch nie verlassen hatten, keine Großstädte kannten, noch nie Zug gefahren waren, wohl kaum je fotografiert worden sind. Und diesen jungen Frauen steht nun bevor, ins Hinterland des Feindes verschleppt zu werden und die Bomben zu produzieren, die auf ihre Heimatdörfer niedergehen würden. Sie würden sich inmitten der Faschisten wiederfinden, in der Fremde, ohne jegliche Sprachkenntnisse. Ihr erstes Foto wird also das Bild für den Ausweis (im Orig. dt. – Anm. d. Übers.) mit einer Kennziffer auf der Brust. Obendrein werden sie in Deutschland keinerlei Information darüber erhalten, was an der Front passiert, ob ihre Angehörigen noch leben, und vor allem, ob sie jemals wieder nach Hause zurückkehren werden. Das scheint mir einzigartig in der Geschichte zu sein, und ich warte nur darauf, dass ein Psychologe oder Volkskundler sich dieses Themas annimmt und ein Buch darüber schreibt.

„Die Fotografie wurde von der Haushälterin des Fabrikleiters in der Silvesternacht 1942/43 gemacht.“
Maria S., mit 19 verschleppt. Arbeitete in einer Fabrik in Rummelsburg / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr.  201032

Fast alle Mädchen haben selbsthergestelltes Rouge auf den Wangen. Im Archiv von Memorial International gibt es Dutzende von Geschichten über die Herstellung von Kosmetika aus improvisierten Materialien. 

Alle jungen Frauen sind festlich gekleidet, einige von ihnen tragen Schmuck. Sie hatten kaum Möglichkeiten, ihre winzigen Gehälter auszugeben. Kleidung war teuer (obwohl es Ausnahmen gab – einige „Ostarbeiterinnen“ erwähnten den Kauf von Pullovern, die „den Juden abgenommen“ worden waren). So war billiger Schmuck die einzige Mode, die den Mädchen im Teenageralter zur Verfügung stand. Kleider wurden für gestellte Fotos ausgeliehen. 

In der Beschreibung zum Foto erwähnt Maria, dass die Haushälterin ihnen Kuchen zur Neujahrsfeier geschenkt hatte. Die durchschnittliche Verpflegung der Zwangsarbeiter bestand aus Steckrübensuppe zweimal am Tag und 200 Gramm Brot mit verschiedenen Beimischungen. Den meisten dokumentierten Erinnerungen ist gemeinsam, dass die Menschen ständig Hunger hatten und Kartoffelschalen aus Küchenabfällen gestohlen haben. (Irina Schtscherbakowa)

Nikolaj Kirejew

1942 mit 16 Jahren aus der Oblast Orlow verschleppt. Arbeitete in Rüstungsfabriken in Berlin. Kam später, nach einem misslungenen Fluchtversuch, ins Konzentrationslager.

„[…] [An Wochentagen] mussten wir um fünf aufstehen, dann gabs Kawa, wie die Polen sagten. Kawa heißt Kaffee. Die Schüssel hast du immer bei dir – das war die wichtigste Ausrüstung, für den Fall, dass dir jemand wo was einschenkt. […] Und einen Laib Brot. […] Ein gewöhnliches, wenn du es anfasst, ist es, als wäre es aus Sägespänen, die zusammengepresst wurden. Nichts als Späne. Du isst es, und es scheint zu schmecken. Das war morgens. Sozusagen unser Frühstück. Ein Brot für fünf Leute […]. So groß wie ein Borodinski-Brot, oder sogar noch kleiner […]. Mittag gab es aus Kübeln. Sie nannten es Kohlrabi. Das gab es ständig. Kohlrabi ist sowas wie sehr fester Kohl. […] Zum Abendessen gab es gar nichts. Es gab nur zwei Arten von Mahlzeiten am Tag. Nein, manchmal gab es [zum Abendessen] Mehlsuppe. Also einfach nur aus Mehl. Sonst nichts, kein Fett. 

Manchmal, an großen Feiertagen, gab es etwas … An Hitlers Geburtstag, am 20. April, war ich [im Spandauer Zwangsarbeitslager] in der Rauchstraße. Zur Feier des Tages gab man uns ein Stückchen Margarine, so groß wie eine Streichholzschachtel. Danach gab es … – davon hatten sie offenbar zu viele – Frösche. Die Frösche gingen sehr gut. Frösche gab es oft an Feiertagen. Die Schenkel und den Rumpf mit irgendeiner Marinade. Das war ein hervorragendes Essen. Ich habe immer versucht, einen zweiten und dritten Nachschlag zu bekommen, weil ich sie sehr gern aß. Das Hungergefühl verschwand nie. […] Dann gab es noch so rote Stiele. Manchmal so dick wie ein Arm. Was das für Stiele waren, weiß ich nicht. Aber die waren süß, mit solchen langen Fäden. Das war ein hervorragendes Essen. Aber vielleicht erschien mir das damals auch nur so […].“ (Quelle)

Wassili G., mit 16 verschleppt (auf dem Bild mit blauem Kugelschreiber gekennzeichnet). Neujahrsfeier. Ort unbekannt, Jahr nicht angegeben / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr. 158013

Auf diesem gestellten Foto sind fast alle sitzenden Männer dem Fotografen zugewandt, die Menschen im Vordergrund schauen ins Objektiv, einer von ihnen isst. Während der Feiertage wurden in Kantinen oder anderen Gemeinschaftsräumen fast überall geschmückte Weihnachtsbäume aufgestellt – auch für Propagandafotos. 

Abgekratzte Stellen sind charakteristisch für viele Fotos von ehemaligen „Ostarbeitern“. In der Regel wurden einzelne Motive nach dem Krieg entfernt, um die kompromittierenden Fotos nicht im Familienarchiv aufzubewahren. Dies betraf meistens Nazi-Symbole oder Aufnäher mit der Aufschrift „OST“. Nicht unüblich war es auch, Hitler-Portraits auf Fotos zu entfernen (in diesem Fall oben links). (Irina Schtscherbakowa)

Galina Schalankowa 

1942 mit 17 aus der Oblast Sumskaja (Ukraine) verschleppt. Arbeitete im Lager an einer Chemiefabrik bei Wittenberg (Sachsen-Anhalt). 
„In diesem Lager wurden alle, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen, sofort geschlagen und so weiter. […] Als ich mir also die zwei Finger abgehackt hatte, um nicht an der Maschine arbeiten zu müssen, wurde ich ins Labor versetzt, als Putzfrau. Da haben sie [die anderen Arbeiterinnen] gesagt: ‚Galja, bring doch einen Viertelliter Alkohol mit, bitte doch deine Chefin. Und dann feiern wir Neujahr.‘ Wenn sie mich drum bitten, kann ich doch nicht nein sagen, es sind ja meine Freundinnen. Ich hatte einen Mantel, […] im Rockschoß [vom Mantel habe] ich den Viertelliter versteckt.

Und dann – nicht alle werden am Kontrollpunkt durchgelassen, [es heißt]: du, du und du, raus zur Kontrolle. Auch ich war eine von denen [die überprüft werden sollten]. […] Eine Frau hat mich durchsucht. […] Ich sagte: ‚Schnaps.‘ Und sie: ‚Hm, ein Viertelliter. Wozu hast du den genommen?‘ ‚Um Neujahr zu feiern‘, sage ich. ‚Die Chefin hat ihn mir gegeben, ich habe ihn nicht gestohlen. Ich habe sie gefragt. Frau Kulta, ich sehe sie noch heute vor mir. Ich hatte zu ihr gesagt: ‚Gib uns einen Viertelliter Alkohol, dann können wir es wenigstens feiern, das neue Jahr.‘

Also wurden wir zur Seite genommen. Da waren noch ein paar junge Männer, die mit irgendwas erwischt worden waren. Das wars, Hände hoch. Man brachte uns zur Gestapo. Und damit wir nicht mit leeren Händen liefen, bekamen alle irgendetwas zum Tragen, einen Stuhl, eine Kiste, einen Baumstamm. Damit auch alle sehen, dass du etwas angestellt hast, und damit du dich gleichzeitig nützlich machst. Wir kamen […] in den Verhörraum, dort wurde alles aufgeschrieben, wer, was, warum. Und dann ging es weiter zur Gestapo, dorthin, in die Baracke, in diese Baracke kamen wir […] unter die Pritschen. Wir waren drei junge Frauen. Die Männer kamen natürlich woanders hin. Drei Tage ohne Essen und Trinken. Wir waren froh, dass sie uns nicht mit den Schlagstöcken geprügelt haben. […] Das wars. […] Sie können sich vorstellen, was für einen Hunger wir hatten.“ (Quelle)

Maria S., mit 23 Jahren verschleppt. Neujahr. Erlangen, Jahreszahl fehlt / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr. 1256

Dieses Foto zeigt, wie Propagandabilder aufgenommen wurden: Der Fotograf verwendet zwei Scheinwerfer, die auf das Zentrum der Aufnahme gerichtet sind. Dort steht eine gut gekleidete junge Frau mit einem „OST“-Kennzeichen. Sie lächelt in die Kamera und nimmt einen Teller Suppe aus den Händen einer ebenso gut gekleideten Köchin entgegen. Viele „Ostarbeiter“ berichten darüber, dass sie gezwungen worden sind, für Fotos zu lächeln. Die Gesichter von Personen, die nicht von Anleuchtgeräten angestrahlt werden, haben einen auffallend anderen Ausdruck als die Gesichter derjenigen, die im Propagandabild sind. (Irina Schtscherbakowa)

Irina Schtscherbakowa, Koordinatorin der Bildungsprojekte von Memorial, Historikerin, Mitverfasserin des Buchs Für immer gezeichnet

In Deutschland gab es viele verschiedene Lager: Arbeitslager, Straflager für Kriegsgefangene und Konzentrationslager (die härtesten von allen). Die Stellung der „Ostarbeiter“ war ein klein wenig besser als jene der KZ-Häftlinge. Allerdings hing alles davon ab, wo sie lebten und arbeiteten: War es ein großes Lager, das zu einer Rüstungsfabrik gehörte, brauchten sie eine Genehmigung, um in die Stadt gehen zu dürfen. War es ein Haushalt, den sie besorgten, durften sie ruhig rausgehen, um Aufgaben zu erledigen (beispielsweise die Kinder von der Schule abzuholen). Aber sie durften nicht alle öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, sondern nur bestimmte Strecken damit fahren. Bis 1944 mussten sie das Kennzeichen „OST“ tragen: Wurden sie ohne angetroffen, wurden sie bestraft.

Im Großen und Ganzen behandelte man sie wie unbezahlte Arbeitskräfte. Der Lohn, den sie für ihre Arbeit bekamen, war so mickrig, dass sie höchstens eine Flasche Limonade dafür hätten kaufen können. 

Natürlich gab es auch Deutsche, die Mitleid mit den „Ostarbeitern“ hatten und ihnen heimlich Stullen in der Fabrik daließen. Doch ein engerer Kontakt war durch die deutschen Gesetze strengstens untersagt. Freundschaftliche und erst recht Liebesbeziehungen wurden verfolgt. Bestraft wurden vor allem die „Ostarbeiter“, aber manchmal trafen die Strafen auch Deutsche – insbesondere bei Liebesbeziehungen, denn diese galten als ein Verstoß gegen die Rassengesetze.

Nach dem Kriegsende sollten die „Ostarbeiter“ gemäß dem Abkommen von Jalta durch die Alliierten an die sowjetische Regierung ausgeliefert werden. Aber schon bald unterbreiteten die Amerikaner den „Ostarbeitern“ das Angebot, nicht in die sowjetische Besatzungszone zu gehen. Viele nahmen das Angebot an und blieben in den Lagern, die nun der amerikanischen Besatzungsmacht unterstanden. Diejenigen, die aber zurückkehrten, mussten eine Filtration durchlaufen. Wenn ihnen außer der Verschleppung nach Deutschland nichts vorgeworfen wurde, bekamen sie eine Bescheinigung. Damit konnten sie per Militärtransport in die Heimat zurückkehren. Einige – nicht sehr viele – wurden zu Zwangsarbeit und in die Arbeitsarmee geschickt. Mehrere Jahre mussten sie am Wiederaufbau von Zechen und Elektrizitätswerken mitarbeiten. 

Der Vermerk, für die Deutschen gearbeitet zu haben, war ein Makel in den persönlichen Akten der Menschen. Ehemalige „Ostarbeiter“ durften nicht in den Großstädten (Moskau, Leningrad, Kiew) leben, keine höhere Bildungsanstalt besuchen, nicht dem Komsomol oder der Partei beitreten.
Ein kleiner Prozentsatz der „Ostarbeiter“ wurde verhaftet und noch zwei Jahre nach der Rückkehr repressiert. Nach Stalins Tod besserte sich die Lage ein wenig, trotzdem fühlten sich die ehemaligen „Ostarbeiter“ als Menschen zweiter Klasse. Ihnen wurde zwar nicht vorgeworfen, das Vaterland verraten zu haben – andernfalls wären mehr als zwei Millionen zurückgekehrte Menschen in sowjetischen Lagern gelandet. Doch im Alltag hing immerzu der Verdacht über ihnen, sie hätten für den Feind gearbeitet.

Da sich die „Ostarbeiter“ ausgestoßen und stigmatisiert fühlten, verheimlichten viele nach Möglichkeit ihre Biografie. Über sie und ihr Schicksal wurde nicht geschrieben. Dies änderte sich erst Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre. Damals begann die deutsche Regierung mit den Entschädigungsleistungen. 

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„Ostarbeiter“

Als der Krieg anfing, lebte Ljuba in der Ukraine, in der Region Wosnessensk. Kurz zuvor hatte sie die sechste Klasse beendet; da jede helfende Hand wichtig war, begann Ljuba nun gemeinsam mit ihren Eltern in der Kolchose zu arbeiten. 

Rund eineinhalb Monate nach dem Beginn des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion marschierten deutsche Soldaten am 7. August 1941 in Wosnessensk ein. Ihr Kampf um den „Lebensraum Ost“ sah vor, dass die Menschen weiter in den Osten der Sowjetunion gedrängt oder vernichtet werden. Die Nazis planten den Hungertod für 30 Millionen Menschen in den besetzten Ostgebieten.1 

Ljubas Vater trat in die Rote Armee ein. Ljuba, ihre Mutter und ihre vier Schwestern blieben bei Wosnessensk zurück. Die Nazis gründeten das Reichskommissariat Ukraine und das Reichskommissariat Ostland, wo sie ihre rassistische Besatzungspolitik mit Repressionen und Gewalt durchsetzten. Eine allgemeine Arbeitspflicht wurde eingeführt, zunächst mit einer Altersbeschränkung: Für Männer im Alter von 15 bis 65 Jahren und für Frauen zwischen 15 und 45 Jahren.2 Später wurde diese Beschränkung aufgehoben.

Die Abgaben von den Kolchosen an die Besatzungsmacht stiegen an. Die Lebensmittelrationen für die Bevölkerung wurden immer kleiner. Die fruchtbare Ukraine sollte zur „Kornkammer des Reiches“ werden und die „arischen Herrenmenschen“ ernähren.3 Die Menschen im Land gerieten in immer größere, wirtschaftliche Not und litten Hunger. 

Zeitgleich propagierten die Nazis, dass Ukrainer, Russen und Belarussen sich freiwillig für den Arbeitseinsatz im Deutschen Reich melden sollten. Dort würden sie eine faire Arbeit und einen gerechten Lohn erhalten, solange sie für die Deutschen arbeiteten. 

РУССКАЯ ВЕРСИЯ

Bis Mitte Januar 1942 meldeten sich 55.000 Arbeiter:innen für den Arbeitseinsatz. Später kamen noch einige weitere zehntausend Ukrainer:innen dazu.4 Als die ersten Gerüchte und Briefe über die Arbeitssituation und die Lebensumstände die Heimat erreichten, war vielen klar, dass sie auf die Propaganda und die leeren Versprechungen der Nazis hereingefallen waren.5 Um die Kriegswirtschaft zu erhalten, setzten die Deutschen auf Ausbeutung und Zwangsarbeit. Längst verließen sie sich nicht nur auf Propaganda: Auch Zwangsrekrutierungen, Gewalt, Repressionen und willkürliche Razzien kamen massiv zum Einsatz. Ganz offen wurde von „Menschenjagden“ oder „Sklavenjagden“ gesprochen. 

In dem Reichskommissariat Ukraine zogen die Nazis ab 1943 zusätzlich alle Menschen der Jahrgänge 1922 bis 1925 zu einem zweijährigen Pflichtarbeitsdienst im Deutschen Reich ein. Zahlreiche Plakate wurden im Auftrag des Kiewer Stadtkommissars in der ganzen Ukraine verteilt, darauf ließ er verlauten: „Ich erwarte, daß alle in Betracht kommenden Jugendlichen ausnahmslos und pünktlich zur Abreise erscheinen.“ 

Bild © Bundesarchiv, Bild 183-J10854 / CC-BY-SA 3.0Am 19. August 1943 wurde Ljuba ins Deutsche Reich gebracht, als eine von zahlreichen Jugendlichen aus der Sowjetunion, die zwischen 1942 und 1945 Zwangsarbeit leisteten. Ging die 17-Jährige mit der Hoffnung auf mehr? Aus Zwang? Oder um ihre Mutter und Schwestern finanziell zu unterstützen? 

Auf dem Weg zu ihrem neuen Arbeits- und Lebensort gab es für die Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion drei ärztliche Untersuchungen, um die Gesundheit und körperliche Verfassung der neuen Arbeitskräfte zu prüfen. Ljuba schrieb in einer Postkarte an ihre Familie, die heute im Staatsarchiv der Oblast Mykolajiw aufbewahrt wird: „Ich bin für gesund befunden worden. Darum wartet zu Hause nicht auf mich.“6 

„Untermenschen“

Das neue „Material“ musste gesund und einsatzbereit sein. In der rassistischen und menschenverachtenden Ideologie der Nazis galten die Menschen aus der Sowjetunion als „Untermenschen“. Anfangs sollten die Bürger:innen aus der Sowjetunion nicht zur Zwangsarbeit eingesetzt werden, nachdem die Nazis 1943 aber zum „Totalen Krieg“ übergegangen sind, haben sie immer mehr Arbeitskräfte gebraucht. Aus diesem Grund wichen sie vom Vernichtungsplan ab und griffen immer mehr auf die sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter:innen zurück. Durch unmenschliche Behandlung, schlechte und mangelhafte Ernährung, Misshandlungen, Strafen und willkürliche Gewalt starben allein innerhalb weniger Monate ungefähr zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene.7 

„Ich bin am Leben und gesund“, schrieb Ljuba an ihre Familie. „Wir sind 15 Tage lang gefahren, und mir ging es sehr gut. Jetzt bin ich in Bremen, in einem Lager.“8 Zusammen mit ungefähr 700 anderen Frauen war sie im Lager Heidkamp untergebracht. Viele von ihnen kamen, so wie Ljuba, aus der Sowjetunion. Das Lager wurde eingerichtet und betrieben von der Organisation Todt (O.T.) – eine paramilitärische Bauorganisation und zuständig für viele kriegswichtige Bauprojekte. Es war das größte Zwangsarbeitslager in der Rüstungslandschaft in Bremen-Farge und Umgebung.9

Im Sommer 1944, dem Höhepunkt des massiven Einsatzes von ausländischen Arbeitskräften im Deutschen Reich, wurden in der Rüstungsindustrie, der Kriegswirtschaft, in der Landwirtschaft und in deutschen Haushalten mehr als 13 Millionen Zwangsarbeiter:innen eingesetzt: zivile Zwangsarbeiter:innen, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene – darunter ungefähr 2,75 Millionen zivile Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion. 

© Dokumentationszentrum NS-ZwangsarbeitWie die meisten Zwangsarbeiter:innen wusste auch Ljuba nicht, für welches Rüstungsprojekt sie arbeiten musste und welche Ziele die Nazis damit verfolgten. Die sogenannten „Ostarbeitererlasse“ vom Februar 1942 bestimmten ihr Leben in einem Land, in dem sie nicht als Menschen wahrgenommen wurden. Die Regelungen für „Ostarbeiter“ waren an anderen Erlassen für Zwangsarbeiter:innen orientiert und nochmal verschärft worden. So war es den sogenannten „Ostarbeitern“ streng verboten, das Lager zu verlassen. Sie durften nur raus, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gehen. Sie durften kein Geld, keine Wertgegenstände, keine Fahrkarten, keine Feuerzeuge und kein Fahrrad erwerben oder besitzen. In den Lagern wurden Frauen getrennt von den Männern untergebracht. Ihre Vorgesetzten durften sie züchtigen. Sie erhielten eine schlechtere Verpflegung und weniger Lohn als Deutsche. Jeglicher Kontakt zu den Deutschen war verboten. Sex mit einem Deutschen wurde sogar mit dem Tode bestraft. Wer diese Gesetze nicht einhielt, dem drohte die Einweisung in ein Konzentrations- oder Arbeitserziehungslager. 

Aus der Interview-Sammlung des Projekts Zwangsarbeit 1939-194510, die tausende Stunden Video- und Audio-Interviews mit Zwangsarbeiter:innen enthält, wird klar, dass die sogenannten „Ostarbeitererlasse“ im Grunde Vogelfrei-Gesetze gewesen sind: Willkür und Misshandlungen waren an der Tagesordnung, auch Fälle der sogenannten „Vernichtung durch Arbeit“ sind überliefert. 

„OST“

Zudem mussten Zwangsarbeiter:innen eine diskriminierende Kennzeichnung auf ihrer Brust tragen. Für die zivilen Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion war dies ein rechteckiger, blau-weißer Stoffstreifen, auf dem in Großbuchstaben „OST“ stand. Unter keinen Umständen durften sie die Kennzeichnung ablegen. Auch Ljuba war eine solche „Ostarbeiterin“ – ein nationalsozialistischer Begriff, der die Situation von fast drei Millionen zivilen Bürger:innen aus der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs nur unzureichend umschreibt und harmlos wirkt. Dahinter steckte die unmenschliche, rassistische Behandlung und der Antislawismus der Nazis. 

Von den rund drei Millionen Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion waren fast zwei Drittel Frauen.11 Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel war ab März 1942 vor allem für die Organisation und Deportation aller ausländischen Arbeitskräfte für den NS-Staat verantwortlich. Er sagte: „Ich werde diese Russinnen zu Hunderten und Tausenden einsetzen. Sie werden für uns arbeiten. Sie halten zehn Stunden durch und machen jede Männerarbeit.“12 
Die Frauen mussten arbeiten bis zum Umfallen. Schwangerschaften waren nicht gewollt. Viele Frauen berichteten später von Zwangsabtreibungen oder auch davon, dass ihnen die Kinder nach der Geburt weggenommen worden waren. Viele Neugeborene kamen in die sogenannten „Ausländerkinder-Pflegestätten“. In diesen Einrichtungen starben mindestens 50.000 Kinder an den „geplanten Folgen organisierter Unterversorgung“.13 Kurz nach der Entbindung mussten die „Ostarbeiterinnen“ sofort wieder arbeiten.

Im Erinnerungsschatten

Wie viele Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion in Deutschland ums Leben kamen – dazu gibt es keine belastbaren Zahlen. Ljuba hat überlebt. Im Sommer 1945 wollte sie in die Heimat zurück. Die Westalliierten übergaben die sowjetischen Bürger:innen aus ihren Besatzungszonen an den sowjetischen Geheimdienst. Vermutlich wurde auch Ljuba daraufhin in ein sogenanntes Prüf- und Filtrationslager des NKWD überstellt. In diesen Lagern mussten die ehemaligen Zwangsarbeiter:innen lange, strenge Verhöre über sich ergehen lassen. Für alle registrierten rund 5,4 Millionen sogenannter „Repatrianten“14 galt eine Schuldvermutung: Allen Zwangsarbeiter:innen wurde seitens der Sowjetunion Kollaboration und Spionage vorgeworfen. 

Natürlich war es schwer, diese pauschalen Vorwürfe in den Verhören ohne Beweise zu widerlegen. In den schlimmsten Fällen kamen die sogenannten „Repatrianten“ erneut in ein Lager und zur Zwangsarbeit nach Sibirien. Auch für diese Opfergruppe gibt es keine belastbaren Zahlen. Bis zum Zerfall der Sowjetunion und sogar darüber hinaus wurden die ehemaligen Zwangsarbeiter:innen jedenfalls nicht als Opfer des NS-Regimes anerkannt. Sie wurden oft gedemütigt, ausgegrenzt, verfolgt und erhielten keine finanzielle Unterstützung. Deswegen schwiegen viele und sprachen niemals ein Wort über ihr Leid als Zwangsarbeiter:innen. 

Auch in Deutschland waren „Ostarbeiter“ sehr lange Zeit nicht als Opfer des NS-Regimes anerkannt. Sie gehörten zu den „vergessenen Opfern des Nationalsozialismus“.15 Noch 1997 erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl individuelle Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter für ausgeschlossen.16 Erst nachdem die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder den Weg für die Einrichtung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ) ebnete, konnten am 30. Mai 2001 die Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter:innen beginnen. 

Über 30.000 Zwangsarbeitslager hat es in Deutschland gegeben. 75 Jahre nach Kriegsende sind einige davon Gedenkorte, die an sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter:innen erinnern: Der Denkort Bunker Valentin in Bremen-Farge etwa gehört dazu, auch die Gedenkstätte Lager Sandbostel oder die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Über die Opfergruppen wird in den vergangenen Jahren immer mehr geforscht, zahlreiche Publikationen kommen heraus, auch zivilgesellschaftliche Initiativen beschäftigen sich immer mehr mit dem Thema. Häufig wird in Politik und Medien aber überwiegend über die Shoah und die KZs gesprochen. Womöglich deshalb fehlt noch eine differenzierte Darstellung der sowjetischen Zwangsarbeiter:innen. Zusätzliche Herausforderung für Historiker:innen ist, dass viele Zeitzeugen bereits verstorben sind. Natürlich versucht man einen Kontakt zu Nachfahren und Angehörigen aufzubauen oder zu intensivieren (wenn er bereits vorhanden ist). Es gibt jedenfalls zahlreiche Quellen, die noch nicht ausgewertet wurden und in Archiven lagern. Häufig haben die Gedenkstätten kaum Zeit für die Forschung. 

An den Gedenkorten selbst ist es Aufgabe und Ziel, eine differenzierte Sicht zu vermitteln und das Schicksal der zivilen Zwangsarbeiter:innen aus dem „Erinnerungsschatten“17 zu führen.


1.Spoerer, Mark (2001): Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz: Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945, S. 71 
2.ebd. S. 73 
3.ebd. 
4.ebd. 
5.Das Bundesarchiv: Sowjetische Kriegsgefangene und "Ostarbeiter" 
6.Staatsarchiv Oblast' Mykolajiw, Fond No. P-2871, Opris No. 1, Sprava No. 1919 
7.Spoerer, Mark: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S.72 
8.Postkarte aus dem Staatsarchiv der Oblast' Mykolajiw, Fond No. P-2871, Opris No. 1, Sprava No. 1919 
9.Eines der Bauprojekte war die verbunkerte U-Boot-Werft Valentin in Bremen-Farge. Am Denkort Bunker Valentin wird die Geschichte des Bunkers und der Rüstungslandschaft aufgearbeitet und vermittelt. Dabei stehen die Schicksale der vielen Zwangsarbeiter:innen im Vordergrund. 
10.zwangsarbeit-archiv.de: Interviews zur NS-Zwangsarbeit – Die Sammlung 
11.zwangsarbeit-archiv.de: Wichtige Begriffe zur nationalsozialistischen Zwangsarbeit 
12.zit. nach: Kersandt, Kerstin (2002): Doppelte Entrechtung – „Ostarbeiterinnen“ und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg im Raum Wiesbaden-Mainz, in: Brüchert, Hedwig/ Matheus, Michael (Hrsg.): Zwangsarbeit in Rheinland-Pfalz während des Zweiten Weltkriegs, Mainz, S. 57 
13.Stiftung niedersächsische Gedenkstätten: Jahresbericht 2017: Schwerpunktthema: Kindheit im Nationalsozialismus, S. 37 
14.Zemskov V. N. (1995): Repatriacija sovetskich graždan i ich dal'nejšaja sud'ba (1944–1956), in: Sociologičeskoe issledovanie: Ežemesjačnyj žurnal,1995, № 5., S. 3-13, hier: S. 10 
15.zwangsarbeit-archiv.de: Entschädigung – Hintergrundinformationen 
16.Deutschlandfunk: Später Ausgleich für Opfer des NS-Regimes 
17.Süddeutsche Zeitung: Wo Menschen wie Tiere behandelt wurden 
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