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„Sie wiegt nur noch 30 Kilo“

Drei bis fünf Millionen Ukrainer:innen leben in den von Russland besetzten Regionen der Ukraine – laut Freedom House das unfreieste Gebiet der Welt. Zehntausende sitzen aus politischen Gründen in Gefängnissen ein, mindestens 20.000 Kinder sind nach Russland verschleppt worden, um dort russischen Familien zur Adoption angeboten zu werden. Auch der kleinste Widerstand gegen die Zwangsrussifizierung kann im Foltergefängnis enden. 

Zivilpersonen stehen selten auf den Listen der Gefangenenaustausche. Sie werden oft in schauprozessähnlichen Gerichtsverfahren wegen angeblichen „Terrorismus'“, „Spionage“ oder „Staatsverrat“ verurteilt, manche verschwinden spurlos. Sippenhaft ist Teil des Schreckensregimes: Oft trifft sie Frauen, deren Familienmitglieder (angeblich) beim Militär sind.

The Insider erzählt die Geschichten von Nonna, Julia und Vera, die als angebliche ukrainische Spioninnen verurteilt wurden. 

 

Achtung: Dieser Artikel enthält drastische Darstellungen von Gewalt. 

Quelle The Insider

Die Ukrainerinnen Nonna, Julija und Vera wurden als ukrainische Spioninnen verurteilt. © The Insider

„Für jedes Wort in meiner Muttersprache bekam ich eins auf den Kopf“ – Julija Koweschnikowa, ein Brief aus der Strafkolonie 

Ich möchte von mir erzählen. Ich stamme aus Melitopol, der Stadt der weltberühmten Kirschen. Ich habe eine Tochter und zwei Enkel. Und einen Mann. Ich will nicht verheimlichen, dass ich die Ehefrau eines ukrainischen Militärangehörigen bin. Deshalb sitze ich hinter Gittern. Es sind jetzt schon 16 Monate oder genauer 486 Tage, seitdem man mich aus meinem Zuhause weggeholt hat. Ich weiß noch, wie ich mich nach meinen Fenstern umdrehte, als sie mich abführten. Da war diese Klarheit, dass ich nie in die Wohnung zurückkehren würde. Ich will weinen, aber da sind keine Tränen. 

In den ersten Tagen sprach ich mit ihnen [den russischen Militärs – Anm. The Insider] auf meiner Muttersprache. Dann gewöhnten sie es mir ab. Für jedes Wort in meiner Muttersprache bekam ich von maskierten Männern eins auf den Kopf. 

Im September 2023 kamen Wagner-Leute als Wachen, die gaben uns fünf Hymnen: die russische, die der LNR und DNR-Hymen, die sowjetische und – Achtung! – eine neue Hymne der Ukraine, geschrieben von eurem Land. Einen Monat später kam der Anführer und sagte: „Wenn ich reinkomme, geht ihr auf die Knie und singt die Hymnen.“ 

Als ich das Gelände der Strafkolonie betrat, brach ich in Tränen aus. Ich habe Angst, dass ich nicht bis zum [Gefangenen-]Austausch durchhalte. Ich versuche mich zusammenzureißen. Aber eigentlich wünschte ich, sie würden mich in das Erdloch zurückschicken und erschießen. 

Julija Koweschnikowa © The Insider

„Ich hoffe, dass sie nicht die ganze Strafe absitzen muss“ – Anastassija, Tochter von Julija Koweschnikowa 

Als der Krieg begann, lebte ich mit meinem Mann und unserem kleinen Sohn in Melitopol. Unsere Stadt wurde gleich besetzt. Meine Mutter lebte auch dort. Sie bestand darauf, dass wir mit dem Kleinen aus der Besatzungszone ausreisen. Sie selbst wollte nicht weggehen, sie hatte Hunde – kleine Pekinesen – und einen Papagei, dem sie beigebracht hatte, Putin zu beschimpfen. 

[Das ganze nächste Jahr – Anm. The Insider] hielten wir Telefonkontakt, aber manchmal gab es wochenlang keine Verbindung. Sie wartete auf die Befreiung der Gebiete, sagte immer: Nur noch ein bisschen, dann wird alles vorbei sein. Wegen einer Verletzung am Arm arbeitete sie schon lange nicht mehr, ging kaum aus dem Haus. Sogar den Hunden gewöhnte sie an, im Haus zu bleiben. Wahrscheinlich hat sie jemand angeschwärzt, weil sie mit einem ukrainischen Militärangehörigen verheiratet ist. Im April 2023 verschwand sie dann. Über ein Jahr lang hörten wir nichts von ihr. 

Sie haben sie direkt zu Hause abgeholt, alles auf den Kopf gestellt, suchten nach irgendwelchen Beweisen, Handys. Die ersten Monate wurde sie in einem Erdloch festgehalten. Wenn es regnete, lief es voll mit Wasser. 

In ihren Briefen schreibt meine Mutter, dass man sie dort auf den Kopf geschlagen und gesagt habe, dass die Ukraine schon verloren hätte. Sie schrieb, dass man sie hungern ließ und ihr abgelaufene Lebensmittel zu essen gab. Sie hat sehr viel Gewicht verloren.

Dann wurde sie in einen Keller gebracht. In diesen Kellern wurden Menschen zu Tode gefoltert, erzählt sie. Sie hörte ständig die Schreie der Gefolterten. Dass meine Mutter in U-Haft kam, erfuhren wir erst im Sommer 2024. Der Anwalt einer anderen Gefangenen machte mich ausfindig und teilte mir mit, meine Mutter sei bei seiner Mandantin. Da konnte ich ihr schreiben und ein paar Sachen schicken, denn sie hatte rein gar nichts – keine Kleidung, keine Hygieneartikel, kein richtiges Essen. Sie bat, ihr doch wenigstens irgendwas zu schicken – Turnschuhe, Kaffee, einen Wasserkocher.  

Alles, was man ihr zur Last legte, war in lokalen Chats für alle öffentlich zugänglich.

Meine Mutter wurde wegen Spionage angeklagt. Sie soll meinem Stiefvater angeblich Informationen zu russischen Militärs zugespielt haben. Aber das stimmt nicht. Meine Mutter saß zu Hause, alles, was man ihr zur Last legte, war in lokalen Chats für alle öffentlich zugänglich. Trotzdem verurteilte [das Besatzer-Regionalgericht des von Russland kontrollierten Teils der Oblast Saporischschja – Anm. The Insider, dekoder] meine Mutter im Juni 2024 zu 13 Jahren Strafkolonie. 

Während dieser ganzen Zeit hat die Gesundheit meiner Mutter stark gelitten. Sie hat schlimme Magenschmerzen, sie sieht schlecht, sagt, sie würde wie durch einen Schleier sehen. Sie hat starke Schmerzen in den Armen, Gelenkschmerzen. Ihr Gedächtnis lässt nach. Jetzt hat man sie in ein anderes Lager überstellt. Momentan befindet sie sich im Lager IK-15 in der Oblast Samara. 

Mein Stiefvater macht sich große Sorgen um sie. Ich hoffe sehr, dass sie nicht die ganze Strafe dort absitzen muss. Vor jedem Gefangenenaustausch hoffen wir, dass eine unbekannte Nummer anruft, dass wir drangehen und meine Mutter sagt, sie ist zurück. Jedes Mal wartet man aufs Neue, denkt, jetzt ist es soweit. Aber nein. 

„Du wurdest von NATO-Leuten ausgebildet, den Lügendetektor auszutricksen“ – Vera Byrjuk, zivile Gefangene, durch Austausch freigekommen

Ich heiße Vera Byrjuk. Ich komme aus dem Dorf Bachmutiwka in der Oblast Luhansk. Wir wurden sofort okkupiert: Bereits am 26. Februar [2022 – Anm. The Insider] erklärte Russland, dass wir von nun an zur Russischen Föderation gehörten. Anfang März begannen dann die Filtrationsmaßnahmen in den Familien der ukrainischen Militärs. Auch zu uns kamen sie. Suchten nach meinem Bruder, seine Sachen, aber sie fanden nichts.  

Ich wurde in der Nacht zum 4. September 2023 festgenommen. Ich wachte davon auf, dass mich Männer in Sturmhauben unter den Armen griffen. Sie erklärten nichts, stellten sofort Fragen: Wie viele Handys hast du, wo sind deine Verwandten, deine Mutter, deine Kinder? Wenn ihnen meine Antworten nicht gefielen, schlugen sie mich. 

Dann kamen weiße Kleinbusse vorgefahren. Ich wurde mit verbundenen Augen auf den Boden des Kleinbusses gesetzt, dann fuhren wir los. Später erfuhr ich, dass man mich in das ehemalige Gebäude des SBU, des Ukrainischen Sicherheitsdiensts in Luhansk gebracht hatte, jetzt sitzt dort der FSB. Dort brachte man mich zu einem weiteren Verhör in den Keller. Sie sagten einfach zu mir, ich sei eine ukrainische Spionin. 

Wenn du antwortest, bekommst du einen Stromschlag. Wenn du nicht antwortest – auch.

Im Keller setzten sie mich auf einen Stuhl, fesselten mich mit Klebeband und begannen zu fragen. Wenn du antwortest, bekommst du einen Stromschlag. Wenn du nicht antwortest – auch. Sie fragten: Wo bist du aufgewachsen, welche Staatsbürgerschaft hast du, mit wem aus der ukrainischen Armee hattest du Kontakt? Das alles ging die ganze Nacht und bis zum nächsten Nachmittag, 17 Uhr. Ich wurde gezwungen, irgendwelche Papiere zu unterschreiben und dann ins Ermittlungskomitee gebracht. Dort sagten sie mir, dass ich lange würde sitzen müssen, aber wenn ich ein Schuldgeständnis abgebe, etwas weniger. Ich bat sie, meine Familie von meiner Verhaftung zu unterrichten. Worauf ich hörte: „Nichts und niemand brauchst du unterrichten, niemand wird irgendwo anrufen, und einen eigenen Anwalt wirst du auch nicht kriegen.“ 

Daraufhin wurde ich einen Monat lang ohne jeden Gerichtsbeschluss in U-Haft festgehalten. Man brachte mich noch am selben Abend dorthin. Die Aufseher sagten, es sei spät und sie hätten nichts mehr zu essen für mich. Die Antwort war: Macht nichts, geben sie ihr eben morgen was, bei uns hat sie auch nichts bekommen. Dann brachten sie mich in den Untersuchungsraum, befahlen mir, mich nackt auszuziehen und mich hinzuhocken. Das alles in Anwesenheit von Männern. 

Eine Woche später brachten sie mich wieder ins FSB-Gebäude zu einem Lügendetektortest. Davor sagten sie, den Lügendetektor bräuchten sie, um zu „wissen, wie sie mit mir umspringen sollen. Wenn du die Wahrheit sagst, dann werden wir dich nicht jeden Tag schlagen. Und wenn du lügst, machen wir damit weiter“. 

Vera Byrjuk © The Insider

Die Fragen drehten sich im Wesentlichen darum, ob ich für die ukrainische Armee arbeite und ob ich mich an sie gewandt habe, um Informationen weiterzugeben. Natürlich war meine Antwort nein. Das war die Wahrheit. Dann brachten sie mich ins Büro des Mitarbeiters, der mich überall hinbegleitete. Der sagte, ich hätte den Lügendetektortest bestanden, weil ich von „NATO-Leuten ausgebildet wurde, ihn auszutricksen“.

Erst Anfang Oktober brachte man mich vor Gericht, um einen Haftbefehl zu erhalten. Dort legten sie mir auch gleich die Anklage wegen versuchten Mordes vor. 

Der Prozess gegen Vera Byrjuk: 

Vera Byrjuk wurde wegen versuchten Mordes an Juri Afanasjewski, dem Vorsitzenden des Zollkomitees der [selbsternannten] Volksrepublik Luhansk, angeklagt. Sie soll ein Smartphone mit Sprengstoff in die Region Luhansk gebracht und es Afanasjewski übergeben haben. Bei der Explosion wurde damals dessen Sohn verletzt, der die Schachtel mit dem Telefon geöffnet hatte. 

Danach kam ich zu Frauen, die wegen Drogenhandel angeklagt waren und Putin verehrten.

Die ganze Anklage war an den Haaren herbeigezogen. Alles wurde allein damit begründet, dass ich mich in der Nähe der Übergabe aufgehalten habe. 

Diese ganzen Monate lang trug ich die Sachen, die ich bei der Festnahme anhatte. Erst Ende Oktober [als die Untersuchungshaft vom Gericht verlängert wurde – Anm. The Insider] beschwerte ich mich beim Gericht, dass ich nichts zum Anziehen hätte, und auch sonst nichts. Draußen war es kalt, und ich trug nichts als T-Shirt und Leggins, nicht einmal Socken. Danach erlaubten sie meinem Verteidiger, meiner Familie zu sagen, wo ich bin. 

Im Untersuchungsgefängnis musste ich mir eine Zelle mit einer Frau teilen, die an Schizophrenie erkrankt war. Sie hatte ihre Tochter ermordet und ihre Enkeltochter vom Balkon geworfen. Nachts hatte sie Anfälle. Ich wache auf, und sie sitzt mir gegenüber auf der oberen Pritsche, nackt, in der Hand den Wasserkocher. Und springt auf einmal los wie eine Amazone. Ich schreie, rufe die Wachen, hämmere gegen die Tür: „Hilfe! Retten Sie mich!“ Aber die nur: „Da muss du durch, was sollen wir tun.“ Erst Ende Dezember [2023 – Anm. The Insider] wurde sie in die Psychiatrie zwangseingewiesen. 

Dann wurde ich in eine Zelle mit einer jungen Frau verlegt, sie hieß Nastja und war Separatistin [trat für die Unabhängigkeit der selbsternannten Republiken ein – Anm. The Insider]. Mit ihr saß ich bis Ende Mai. Danach kam ich zu Frauen, die wegen Drogenhandel angeklagt waren und Putin verehrten. Sie hatten Porträts von ihm. Morgens und abends beteten sie und küssten diese Porträts. 

Dass man mich für einen Austausch vorbereitete, sagten sie mir im Vorhinein, noch vor der Urteilsverkündung. Am 27. August [2024 – Anm. The Insider] lief den ganzen Tag meine Anhörung, und am 28. August wurde das Urteil verkündet – 15 Jahre Strafkolonie. Direkt danach machten sie mich für den Austausch bereit. Erst holten sie einen Fotografen, der Fotos von mir machte. Dann wurde ich in der Sanitätsstelle untersucht. Sie gaben mir meine Sachen aus den Postsendungen, die nicht von der Verwaltung genehmigt worden waren. 

Mir wurde ganz schlecht, als wir die Gefangenen auf der anderen Seite sahen – satt und zufrieden. Und unsere Jungs alle abgemagert, ausgelaugt, kaum auf den Beinen.

Ich hatte von Leuten gehört, die genauso für einen Austausch bereitgemacht und weggebracht wurden, aber wieder in ihre Zellen kamen. Aber ich war mir irgendwie sicher, dass ich wirklich ausgetauscht würde. Die Fahrt dauerte drei Tage: erst nach Rostow-am-Don, dann Woronesh, dann Brjansk und erst von dort an die Grenze. Als wir dann im Gefängnis die Busse vor den Fenstern sahen, wussten wir, dass der Austausch wirklich stattfindet. 

Mir wurde ganz schlecht, als wir die Gefangenen auf der anderen Seite sahen – satt und zufrieden. Und unsere Jungs alle abgemagert, ausgelaugt, kaum auf den Beinen. Aber natürlich war da die Freude, endlich zu Hause zu sein, in Freiheit. 

„Die Mutter wurde mitgenommen, die Großmutter ist gestorben“ – Irina, Taufpatin von Nonna Galka 

Nonna lebte in Dniproprudne in der Oblast Saporischschja. Dort erlebte sie die Okkupation 2022. Ich bin mit Nonna nicht blutsverwandt, ich bin die Patentante ihres jüngsten Kindes. Ich bin fast sofort aus der Besatzungszone raus, aber Nonna blieb. Sie hatte einen Partner und zwei minderjährige Kinder, aus ihrer ersten und zweiten Ehe. Ihr Mann verbot ihr die Ausreise. Im Juni 2023 verschwand sie , und mit ihr ihre Schwester Natalja und deren Sohn Witja. 

Ich suchte nach ihr, schrieb Briefe an alle möglichen Organisationen. Acht Monate lang führte man mich an der Nase herum. Niemand wollte etwas von ihr gehört haben. Nach vier Monaten fanden wir ihre Schwester Natalja im Leichenschauhaus. Sie war übel zugerichtet, die Haare grau. Der Körper war in einem Zustand, dass man sie nicht im offenen Sarg beerdigen konnte. Sie war einfach in einem Keller zu Tode gefoltert worden. Im Leichenschauhaus sagten sie uns, sie hätten sie so gefunden, und als offizielle Todesursache wurde Herzinsuffizienz angegeben. Ihre Familie bestattete sie im geschlossenen Sarg. 

Ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass wir Nonna lebend wiedersehen würden. Also, meine Seele hat es geglaubt, aber mein Verstand nicht. Aber nach acht Monaten erfuhren wir, dass sie in einem Untersuchungsgefängnis in Rostow ist. 

Wir wissen jetzt, dass man sie ein halbes Jahr lang in einem Keller festgehalten hat. Wahrscheinlich wurde sie genauso gefoltert wie ihre Schwester. Sie sollten gestehen, dass sie Informationen [über russische Soldaten – Anm. The Insider] weitergegeben haben, samt Stellungen, als Zielaufklärer. Alles, weil Nonnas und Nataschas Söhne früher bei der ukrainischen Armee gedient haben. Aber das stimmte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Als man sie wegen Spionage anklagte, war sie bereits russische Staatsbürgerin. 

Nonna Galka (46) wurde im Juli 2023 festgenommen. Im Dezember 2024 verurteilte sie das Regionalgericht Rostow zu 15 Jahren Strafkolonie wegen Spionage. Die gleiche Strafe bekam ihr Neffe Wiktor Meschnjakow. Die Anklage behauptete, die Frau habe Daten über russische Soldaten an ihren Sohn weitergegeben. © The Insider

Jetzt ist Nonna auf dem Weg in die Strafkolonie. Wir hoffen, dass wir etwas von ihr hören, sobald sie angekommen ist. Nonna hat zwei Magen-OPs hinter sich. Sie wiegt nur noch 30 Kilo. Sie muss medizinisch behandelt werden, aber das kümmert niemanden. 

Wir hoffen inständig auf einen Gefangenenaustausch. Das ist mein erster Gedanke, wenn ich aufwache, und mein letzter, bevor ich einschlafe. Ich schreibe an alle Organisationen – die UNO, das Rote Kreuz, überallhin, nur damit man sie eintauscht. Sie überlebt da drin nicht. 

„Im Klartext bedeutet das die Errichtung von Geheimgefängnissen“ – Nikolai Polosow, Anwalt und Mitbegründer der NGO Poshuk. Polon  

Nach Angaben des ukrainischen Ombudsmann für Menschenrechte, Dmytro Ljubinez, hält Russland etwa 16.000 Zivilisten gefangen. Die russischen Behörden haben eigens eine neue Terminologie erfunden: Sie werden „wegen Widerstandes gegen die militärische Spezialoperation“ festgehalten. Im Klartext bedeutet das die Errichtung von Geheimgefängnissen, in denen Tausende von Menschen ohne Gerichtsbeschluss und ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten werden. Diese Menschen befinden sich de facto in Untersuchungshaftanstalten oder in Strafkolonien, die für die Unterbringung von Kriegsgefangenen umgerüstet wurden. Sie können Monate oder Jahre dort sitzen. Die russischen Behörden versuchen, diese Informationen maximal geheimzuhalten. 

„Sie prügeln aus den Menschen Schuldgeständnisse“ – Jewgeni Smirnow, Anwalt von Perwy otdel (dt. Abteilung Nr. 1) 

Diese Menschen werden in den Kellern schwerster Folter unterzogen. In allen Fällen kommen Elektroschocks zum Einsatz, manche werden nur geschlagen, andere aufgehängt, wieder andere sexuell misshandelt. Es kommt vor, dass sexuelle Gewalt vor den Augen der Angehörigen ausgeübt wird, das heißt, eine Frau wird zum Beispiel gezwungen zuzusehen, wie ihr Mann vergewaltigt wird. Diese Folterungen haben kein Ziel. Sie prügeln aus den Menschen Schuldgeständnisse. Die Anklage stützt sich auf banalen Schriftverkehr mit Verwandten oder öffentliche Daten aus sozialen Netzwerken. So ein Schriftverkehr könnte zum Beispiel folgendermaßen aussehen: Gestern ist bei uns eine Rakete eingeschlagen, wir hatten alle große Angst, das und jenes ist passiert. 

In den drei Jahren seit Kriegsbeginn standen ukrainische Zivilisten, die in Russland wegen Spionage oder Hochverrats verurteilt worden waren, nur in Ausnahmefällen auf Gefangenenaustauschlisten.

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Unabhängigkeit à la Ukraine

Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen und sterben für die Unabhängigkeit ihres Landes. Heute im Kampf an der Front oder durch russische Luftangriffe im Hinterland. Seit über zehn Jahren im Untergrundwiderstand in annektierten und besetzten Gebieten und in Kämpfen gegen von Russland unterstützte Separatisten. In früheren Zeiten in von Moskau verschärften Hungersnöten, durch Kugeln des sowjetischen Geheimdienstes und in sowjetischen Arbeitslagern. Ukrainische Nationalisten bekämpften im 20. Jahrhundert neben Russland auch jüdische und polnische Gemeinschaften in ihrem Land, teils zusammen mit den deutschen Nationalsozialisten. Zuvor gab es jedoch auch eine Vorstellung von einer unabhängigen sowjetischen Ukraine – ob staatsbürgerlich oder föderalistisch.  

Woher rührt dieses unbedingte Streben nach staatlicher Souveränität? Was feiert die Ukraine mit ihrem Nationalfeiertag seit 1992 jedes Jahr am 24. August? Wie entwickelte sich das ukrainische Konzept von Eigenstaatlichkeit? 

Der ukrainische Historiker Andrii Portnov skizziert die historische Entwicklung von Ideen und Praktiken einer unabhängigen Ukraine in den vergangenen zwei Jahrhunderten bis heute.  

Staatsflagge und Unabhängigkeitsdenkmal (seit 2001) mit Berehynja und Kalynazweig auf dem Maidan Nesaleshnosti in Kyjiw / Foto © Peggy Lohse/dekoder

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts existierte auf der politischen Landkarte Europas kein Staat namens Ukraine. Die letzten Elemente der kosakischen Staatlichkeit waren Ende des 18. Jahrhunderts durch das Russländische Reich zerstört worden. Doch das Fehlen einer Staatsstruktur bedeutete nicht das Fehlen einer nationalen Bewegung.  

Die ukrainische Intelligenz, inspiriert von den Ideen Herders und anderer romantischer Philosophen, schlug ein Projekt zur kulturellen und politischen Emanzipation der ukrainischsprachigen bäuerlichen Bevölkerung der beiden bestehenden Reiche vor: aus dem zaristischen Russland und Österreich-Ungarn.  

Drahomanow: Staatenlose Ukraine prädestiniert für Ideal-Föderalismus 

Eine Schlüsselfigur des ukrainischen politischen Denkens im 19. Jahrhundert war der Althistoriker Mychajlo Drahomanow, der 1876 wegen seiner politischen Überzeugungen aus dem Zarenreich emigrieren musste. Im Exil gab Drahomanow die Zeitschrift Hromada (dt: Gemeinde) in Genf heraus und wurde 1889 Leiter der Abteilung für Weltgeschichte an der Universität Sofia.  

Nach Drahomanows Ansicht war die Ukraine, die aufgrund der historischen Umstände keine eigene Oberschicht und keinen eigenen Staat besaß, so ideal für die sozialistischen „Praktiken der staatenlosen Ordnungen“ geeignet, und die Ukrainer – „die zahlreichste der bäuerlichen Nationen Osteuropas“ – sollten eine Schlüsselrolle für die Verwirklichung eines idealen Föderalismus spielen. Dieses Ideal bestand in der Gleichberechtigung aller Nationalitäten. 

Drahomanow betrachtete nicht die Erlangung einer eigenen ukrainischen Staatlichkeit als höchstes Ziel. Im Gegenteil, er argumentierte am Beispiel Deutschlands, dass die nationale Einheit innerhalb eines Staates nicht unbedingt zu mehr Freiheit führe. Gleichzeitig forderte er sowohl die polnische als auch die russische sozialistische Bewegung nachdrücklich auf, die ethnisch-kulturelle Eigenständigkeit der Ukrainer anzuerkennen und auf imperialistische Bestrebungen zu verzichten. 

Batschynsky: Nationalstaat als notwendige Etappe zur sozialistischen Revolution 

Die erste theoretische Begründung für die politische Unabhängigkeit der Ukraine stammt aus dem Jahr 1895 und wurde von dem Lwiwer Marxisten Julian Batschynsky verfasst. In seinem Essay Ukrajina Irredenta versuchte Batsсhynsky, die von Friedrich Engels vorgeschlagene Analyse des Klassencharakters des Staates auf ukrainischen Boden zu übertragen. 

Batschynsky verglich die ukrainische mit der irischen Frage und stellte fest: „Die politische Unabhängigkeit der Ukraine ist eine unabdingbare Voraussetzung für ihre wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung, buchstäblich für die Möglichkeit ihrer Existenz.“1 Diese politische Unabhängigkeit sollte dann für „alle Einwohner der Ukraine“ ohne Unterschied hinsichtlich ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion gelten.  

In Anlehnung an Engels betonte Batschynsky, dass der Nationalstaat eine notwendige Etappe in der gesellschaftlichen Entwicklung und ein unvermeidliches Produkt der kapitalistischen Verhältnisse sei. Dementsprechend betrachtete er die politische Unabhängigkeit der Ukraine als Voraussetzung für die Herausbildung einer ukrainischen Bourgeoisie und folglich für die beschleunigte Schaffung von Bedingungen zur Intensivierung des Klassenkampfes und der sozialistischen Revolution. 

Lypynsky: Nation der Staatsbürger 

Der Sturz der Monarchie und die demokratische Februarrevolution von 1917 in Russland ermöglichten es der ukrainischen Intelligenz, die Ideale des Sozialismus, der Föderation und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung umzusetzen. Die in Kyjiw ausgerufene Ukrainische Volksrepublik hielt sich allerdings nicht einmal ein Jahr und wurde durch die militärische Aggression der russischen Bolschewiki gestürzt. Seit 1918 durchlebte die Ukraine ein Kaleidoskop von Regierungswechseln, ausländischen (deutschen, polnischen, französischen) Interventionen, Bauernaufständen und antijüdischen Pogromen. Im März 1921 wurde mit dem in Riga unterzeichneten Frieden eine neue Staatsgrenze festgelegt, nach der die ukrainischen Provinzen des ehemaligen Russländischen Reiches (mit Ausnahme Wolhyniens) zur Sowjetukraine unter bolschewistischer Herrschaft wurden und die westukrainischen Gebiete, die zuvor zum Österreichischen Kaiserreich gehört hatten, an den 1918 wiederhergestellten polnischen Staat abgetreten wurden. 

Die Niederlage der ukrainischen Revolution, die stark von sozialistischen und föderalistischen Parolen geprägt war, führte zu einem schmerzhaften Umdenken über die Aufgaben und Methoden der ukrainischen Bewegung. Wjatscheslaw Lypynsky, ein christlich-konservativer Denker, schlug dabei originelle Ansätze vor: Schockiert von den Erfahrungen der Revolutionsjahre 1917–1921 lehnte Lypynsky Demokratie und Sozialismus kategorisch ab. Aber seine Vision von der Zukunft der Ukraine schloss auch nationalen Exzeptionalismus oder Chauvinismus aus. Für Lypynsky waren die Mitglieder der ukrainischen Nation „alle Bewohner dieses Landes und alle Bürger dieses Staates“.  

Er selbst stammte aus einem polnischen Adelsgeschlecht und betonte: „Ein Ukrainer ist jeder, der will, dass die Ukraine keine Kolonie mehr ist“ – also jeder, der für die Gründung eines ukrainischen Staates eintritt. Lypynskys grundsätzlich integrativer Ansatz hatte großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des ukrainischen politischen Denkens. 

Donzow, Bandera & Zweiter Weltkrieg: Radikalisierungen im Kampf um Eigenstaatlichkeit 

In der Zwischenkriegszeit der 1920er und 1930er Jahre erwies sich Lypynskys Einfluss jedoch als schwächer als der eines anderen politischen Theoretikers: Dmytro Donzow veröffentlichte 1926 in Lwiw sein Buch Nationalismus2 und predigte darin Ideen der nationalen Exklusivität und des rücksichtslosen Kampfes um Staatlichkeit.  

Die Konstante bei Donzow war eine radikal antirussische Haltung. Unter dem spürbaren Einfluss des deutschen Nationalsozialismus machten sich in seinen Texten militanter Antisemitismus und Rassismus breit. Donzows Kernthesen deckten sich mit der Rhetorik der 1929 gegründeten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die proklamierte, für die Eigenstaatlichkeit zu kämpfen. Da sie die Methoden der legalen demokratischen Politik grundsätzlich ablehnte, konzentrierte sich die OUN im Untergrund auf junge Menschen.  

Die jungen Nationalisten betrachteten die interethnischen Beziehungen im Sinne des Sozialdarwinismus als einen zerstörerischen Kampf ums Dasein. In Ablehnung jeglicher Rechtsstaatlichkeit strebte die OUN eine Revision der nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Grenzen an und suchte dementsprechend Kontakte zu Deutschland, das ebenfalls unmittelbar an einer solchen Revision interessiert war. Mit Blick auf Mussolinis Italien und Hitlerdeutschland befürwortet die OUN eine Einparteiendiktatur und das Führerprinzip. 1940 spaltete sich die OUN in zwei Fraktionen, die nach ihren Führern benannt wurden: die Banderiwzi (nach Stepan Bandera) und die Melnykiwzi (nach Andrii Melnyk).   

Nachdem am 22. Juni 1941 Deutschland die Sowjetunion überfallen hatte, rückte am 30. Juni die Wehrmacht in Lwiw ein. Am selben Tag verkündete die OUN (B) in der Stadt die „Wiederherstellung des ukrainischen Staates“. Da diese Erklärung von den deutschen Behörden nicht genehmigt worden war, wurden Bandera (der sich zu diesem Zeitpunkt in Krakau aufhielt) und sein Abgesandter Jaroslaw Stezko verhaftet und in einer Sonderbaracke des Konzentrationslagers Sachsenhausen interniert (wo sie bis September 1944 festgehalten wurden). 

Die Mitschuld einiger ukrainischer Nationalisten am nationalsozialistischen Holocaust und die von der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) initiierte ethnische Säuberung der polnischen Bevölkerung von Wolhynien wurden zu den dunkelsten Seiten der Geschichte des ukrainischen Untergrunds.  

Bereits in den ersten Nachkriegsjahren kritisierten einige ukrainische emigrierte Denker die autoritären Methoden der OUN. Insbesondere der Philosoph Wassyl Rudko bezeichnete die ungezwungene Opferung von Menschen für die abstrakte Losung einer Volksrevolution als charakteristisches Merkmal der OUN und argumentierte, dass Donzows Ideologie den Weg für Totalitarismus und Gewaltkult geebnet habe. In den späten 1940er Jahren schrieb auch der Historiker Borys Krupnyzky über die Gefahren des modernen Nationalismus.  

Chwyljowy: „Unabhängiger republikanischer Organismus als Teil der Sowjetunion“? 

Infolge des Zweiten Weltkriegs wurden alle westukrainischen Gebiete, die bis 1939 zu Polen gehört hatten, Teil der Sowjetukraine. Mit anderen Worten: Es war Stalin – der Politiker, der für den Holodomor von 1932–33 und die Massenrepressionen verantwortlich war –, der das uralte Ideal der ukrainischen Bewegung verwirklichte: die Vereinigung aller ukrainischen Gebiete in einem Staat.  

Dieser Staat – die Sowjetunion – war 1922 gegründet worden, die Sowjetukraine war eine der Gründungsrepubliken. Obwohl die Sowjetherrschaft in der Ukraine mit militärischer Gewalt errichtet wurde, erkannten die Bolschewiki das Mobilisierungspotential der ukrainischen Nationalbewegung, der ukrainischen Sprache und der ukrainischen Nationalität. In den 1920er Jahren schien es vielen, als sei die Sowjetukraine nun die gewünschte Form der ukrainischen Staatlichkeit. So stellte zum Beispiel noch der Schriftsteller und Mykola Chwyljowy in seinem Pamphlet Ukraine oder Kleinrussland? (1926) fest: „Wir sind in der Tat ein unabhängiger Staat, dessen republikanischer Organismus ein Teil der Sowjetunion ist. Und die Ukraine ist nicht deshalb unabhängig, weil wir Kommunisten das wollen, sondern weil der eiserne und unwiderstehliche Wille der Gesetze der Geschichte es verlangt, weil wir nur so die Klassendifferenzierung in der Ukraine beschleunigen können.“  

Doch schon in den späten 1920er Jahren verbot die Sowjetregierung solche Äußerungen, die meisten kulturellen Eliten der Ukraine wurden Opfer von Repressionen, und die Praxis der Russifizierung, das heißt auch der Annäherung der ukrainischen Sprache an das Russische, wurde im Bildungswesen durchgesetzt. Trotz dieser sich weiter verstärkenden Tendenzen hat die Sowjetunion bis zu ihrem Ende weder den republikanischen Status der Ukraine noch die Eigenständigkeit der ukrainischen Sprache und Nationalität abgeschafft. 

Seit 1991: Demokratische Unabhängigkeit unter sowjetischem Erbe 

Im Jahr 1991 brach die Sowjetunion an den Grenzen von 15 Sowjetrepubliken zusammen. Im Falle der Ukraine hatte die bewusste Entscheidung der lokalen Parteieliten für eine Loslösung von Moskau und eine unabhängige Existenz einen entscheidenden Einfluss auf diesen Prozess. 1992 veröffentlichte die Deutsche Bank einen Bericht,3 demzufolge die Ukraine dank Industrialisierung, dem hohen Bildungsstand der Bevölkerung und ihrer natürlichen Ressourcen zu denjenigen Republiken mit den besten Voraussetzungen für ein wirtschaftliches, politisches und soziales Wachstum gehörte.  

Die hohen wirtschaftlichen Erwartungen in Verbindung mit der tiefen Enttäuschung über die staatliche Planwirtschaft der späten Sowjetunion und dem spürbaren Mangel an vielen Gütern erklären weitgehend die beeindruckenden Ergebnisse des Referendums über die Unabhängigkeit der Ukraine: Am 1. Dezember 1991 beteiligten sich 84,2 Prozent der registrierten Wähler an der Volksabstimmung, 92,3 Prozent von ihnen sprachen sich für die Unabhängigkeit aus.  

Am selben 1. Dezember wurde der ehemalige Vorsitzende der örtlichen Kommunistischen Partei, Leonid Krawtschuk, zum ersten Präsidenten der unabhängigen Ukraine gewählt. Und die Person des ersten Präsidenten war eine wichtige Sache: So ist der neue Staat nämlich nicht aus einer Revolution hervorgegangen, sondern wurde auf demokratischem Wege auf den Fundamenten der alten sowjetischen Institutionen errichtet. 

Die unabhängige Ukraine erbte die durch die sowjetische Expansionspolitik geschaffenen Grenzen, die Industrie- und Verkehrsinfrastruktur sowie alle durch die sowjetische Politik verursachten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme. Der neue Staat gewährte allen Menschen auf seinem Territorium automatisch die Staatsbürgerschaft, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Sprachkenntnissen.  

Die Ukraine verzichtete 1994 auch auf die sowjetischen Atomwaffen, die auf seinem Territorium stationiert waren – was damals die einzig richtige Antwort auf die schmerzliche Erfahrung des Unfalls von Tschornobyl 1986 und die allgemeine Auffassung von der Notwendigkeit einer weiteren nuklearen Abrüstung zu sein schien.  

Es ist erwähnenswert, dass es der unabhängigen Ukraine trotz aller wirtschaftlichen und sonstigen Schwierigkeiten gelungen ist, im Gegensatz zu ihren Nachbarn Russland und Belarus, ein politisches System mit regelmäßigen Regierungswechseln und kompetitiven Wahlen zu schaffen. Seit Dezember 1991 wurden in der Ukraine sieben Präsidentschaftswahlen abgehalten, und sechs Personen haben das Amt übernommen. Zum Vergleich: In Belarus gab es zwischen 1994 und 2024 einen Präsidenten, in Russland drei. 

Die Trennung der Ukraine von der UdSSR im Dezember 1991 verlief unblutig. Und auch die politische Entwicklung der unabhängigen Ukraine war bis Januar 2014 nicht von physischer Gewalt geprägt. Dies änderte sich erst mit dem Euromaidan, dann mit der Annexion der Krym durch Russland im März 2014 und dem Ausbruch des Krieges im Donbas im April 2014.  

Die vollumfängliche Invasion Russlands am 24. Februar 2022 und die Fähigkeit der ukrainischen Gesellschaft, sich dagegen zu wehren, haben viele Beobachter dazu veranlasst, den aktuellen Russisch-Ukrainischen Krieg tatsächlich als Krieg um die politische und kulturelle Unabhängigkeit der Ukraine zu bezeichnen. 

 

Diesen Beitrag als Auftakt zu einer Gnosen-Reihe über die Ukraine veröffentlichen wir in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS).


1 Julijan Bačynsʹkyj, 1924. Ukrajina irredenta. Berlin: Vydavnyctvo ukrajinsʹkoji molodi. 
2 Dmytro Ivanovyč Doncov, 1926. Nacionalizm. Lʹviv: Nove žyttja. 
3 Ivan Mikloš, 2015. Quo vadis, Ukraine? Is there a chance for success? (Quo vadis Ukraino? Czy istniejeszansa na sukces?), mBank - CASE Seminar Proceedings 139, CASE-Center for Social and EconomicResearch. 
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Krym-Annexion

Als Krym-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krym in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krym ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland.

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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Ukrainische Volksrepublik

Die Ukrainische Volksrepublik war der erste unabhängige ukrainische Nationalstaat. Sie wurde am 20. November 1917 ursprünglich als autonomer Staat innerhalb Sowjetrusslands gegründet. Am 22. Januar 1918 rief ihr politisches Entscheidungsorgan, die Zentralna Rada, jedoch ihre Unabhängigkeit aus. Von April bis Dezember 1918 wurde sie durch ein sogenanntes Hetmanat abgelöst, anschließend aber neu gegründet. 1920 kam die Ukrainische Volksrepublik mit der vollständigen Besetzung der Ukraine durch die Rote Armee zu ihrem Ende; bis 1992 existierte jedoch eine Exilregierung in München.

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Hungersnot in der Sowjetunion 1932/33

„Ist es ein Wunder, dass meine Haare begannen zu ergrauen, als ich vierzehn Jahre alt war?“, erinnert sich ein Ukrainer an die Hungersnot 1932–33. Am 30. November hat der Bundestag eine Resolution über den Holodomor verabschiedet. Robert Kindler über die dramatische Hungerkatastrophe vor 90 Jahren und die aktuellen Debatten darüber.

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Das Revolutionsjahr an der Peripherie

1917 war nicht nur das Jahr der Revolutionen in den Zentren des russischen Staates, sondern es war auch das Jahr, in dem etablierte Ordnungen an den Peripherien des Imperiums zerbrachen. Robert Kindler über nationale Unabhängigkeitsbewegungen, bolschewistische Nationalitätenpolitik und die Gewalteskalationen des Bürgerkriegs. 

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)