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„Wir sind in dem finsteren Märchen gelandet, von dem wir singen“

Verbotene Musik?! In den letzten Wochen wurden zahlreiche Konzerte von russischen Rapmusikern und anderen Bands von den Behörden verboten oder abgebrochen. Das Thema beschäftigte inzwischen nicht nur die Duma, auch der prominente Moderator Dimitri Kisseljow griff es in seiner Sendung auf. 
Vom Konzertverbot betroffen waren auch IC3PEAK. Ihr Konzert Anfang Dezember in Woronesh etwa wurde nach wenigen Minuten von den Behörden abgebrochen.

Bereits mit einem ihrer ersten Videos Go With The Flow betrieben sie einen selbsterklärten „audiovisuellen Terrorismus“, der sich gegen die in Russland verbreitete Homophobie wandte. Zu den Zielen von Nastya und Nick gehört es, „die Hörer aus der Komfortzone herauszubekommen“.

In einem Interview mit Fontanka äußert sich die Band aus Tula zu den Konzertverboten und erklärt, warum sie weiter gegen das System ansingt, und immer nur das macht, worauf sie Bock hat.

https://www.youtube.com/watch?v=Z9m3lqgpLy8

 

Selbsterklärter „audiovisueller Terrorismus“ – „Go With The Flow“ von IC3PEAK
Source Fontanka

Fontanka: Wie geht es euch denn, nachdem mehrere eurer Konzerte abgeblasen wurden?

Nick: Surreal. Wir sind genau in dem finsteren, grimmigen Märchen gelandet, von dem wir singen. Es ist eine völlig irreale Geschichte: Der FSB ist hinter uns her, sie filzen uns, sagen unsere Konzerte ab. Und alles nur, weil wir Musik machen und unsere Videos drehen. Die wirklichen Gründe kennen wir nicht. Niemand hat uns was gesagt. 

Nastya: Das ist so eine Schizophrenie, im Grunde ganz typisch für Russland. Aber wenn du selbst im Mittelpunkt des Geschehens bist, ist es manchmal sogar ganz lustig. Wenn dich ständig ein Auto mit durchtrainierten Typen verfolgt, fühlst du dich wie der Held in einem bescheuerten russischen Film. 

https://www.youtube.com/watch?v=y13sm8OJTf4

 

„Wir sind genau in dem finsteren, grimmigen Märchen gelandet, von dem wir singen.“ – FAIRYTALE von IC3PEAK

Der Chef von AGORA, Pawel Tschikow, hat eine Schwarze Liste erwähnt, auf der Namen von Musikern stehen. Habt ihr die gesehen?

Nick: Es gibt zwei Informationsstränge – wenn man sie verbindet, kann man daraus schließen, dass ein solches „Dokument“ tatsächlich existiert. 
Einerseits hieß es von seiten der Veranstalter wiederholt, es gebe einen „Befehl vom FSB“. Das haben die Clubbesitzer erzählt. Andererseits haben nicht nur wir solche Probleme, sondern auch andere Musiker. Das Muster ist ziemlich ähnlich. Und alles begann wie eine Welle. Innerhalb einer Woche kamen alle diese Verbote.      

Nastya: Man hat den Eindruck, einem von denen da oben wurde die aktuelle russische Szene gezeigt – unsere Clips, und das ist jetzt die Reaktion: Da hat nun irgendjemand entschieden, was für unsere Jugend gut ist und was schlecht.    

Wenn in eurem Lied nicht ein „Bulle ein Kätzchen überfahren“ würde und ohne das Händeklatschspiel vor der Lubjanka, bei dem ihr auf den Schultern von OMON-Männern sitzt – hätten sie euch nicht belangt?

Nastya: Das ist der Punkt! Wir glauben auch, dass sie uns in Ruhe gelassen hätten.

Nick: Offenbar haben wir „den Ort besudelt“. Und dann haben sie beschlossen, dass das nicht geht, das „werden wir verbieten“.   

https://www.youtube.com/watch?v=MBG3Gdt5OGs

 

„Wir wollten schlicht und ergreifend selbst dieses Bild sehen – ein Klatschspiel, während wir auf den Schultern von OMON-Männern sitzen, im Hintergrund die Lubjanka.“ – „Smerti bolsche net“ von IC3PEAK

Offenbar haben wir den Ort besudelt

Das habt ihr doch aber mit Absicht gemacht. Ihr habt den Eisernen Felix doch absichtlich am Schnauzer gezupft?

Nick: Wir haben das nicht wegen der Reaktionen gemacht. Wir wollten schlicht und ergreifend selbst dieses Bild sehen – ein Klatschspiel, während wir auf den Schultern von OMON-Männern sitzen, im Hintergrund die Lubjanka. Wir nehmen grundsätzlich nur das auf, was wir selbst sehen wollen. 

Nastya: In erster Linie ist unser Video ein Statement. Wir finden, es ist ironisch, raffiniert und schön geworden. Mit Sinn für Humor.  

Gibt es in Russland eine Politisierung der Jugend?

Nastya: Wenn man bedenkt, dass es immer mehr politisierte Musikevents und Alben verschiedener, auch bekannter und beliebter Interpreten gibt, und dass Musiker einen großen Einfluss auf das Denken der Jugendlichen haben, dann vielleicht ja. Dann gibt es so eine Bewegung. 

Wer gibt hier das Tempo vor? Wer treibt die Politisierung an? Die Staatsmacht oder die Musiker selbst, die ja oft schick sein wollen?

Nastya: Die Zeit. Das ist kein konkreter Mensch, keine bestimmte Personengruppe. Die Zeit gibt das Tempo vor. Für die Politisierung der Jugend ist jetzt einfach die Zeit reif. 

Nick: Das ist ein historischer Prozess. Die jungen Leute haben endgültig aufgehört, Fernsehen zu gucken. Sie sehen diese höllenhafte Propaganda und leben im Internet. Und dort gibt es mehr als eine Meinung. Unterschiedliche Meinungen legen nahe, dass man kritisch denken kann. Das ist alles ganz einfach.     

Es gab ein spektakuläres Konzert für den verfolgten Husky, bei dem erfolgreiche Musiker wie Basta, Oxxxymiron und Noize MC auftraten. Hat’s euch gefallen?

Nick: In unserem System gibt es leider keine andere Möglichkeit, mit dem Druck fertig zu werden. Per Gericht lässt sich das nicht lösen. Das geht nur über Schlagzeilen. Ihr Konzert hat Reaktionen ausgelöst. Eine Masse von Meinungen. 

Nastya: Die Solidarität mit Husky war richtig. Er ist ein unabhängiger Künstler. 

Im Kulturministerium heißt es, dass „Verbote keine Methode“ seien, man müsse jedoch „besonnener an die Texte herangehen“. Werdet ihr eure Songs jetzt „besonnener“ schreiben?

Nastya: Ich glaube, ich gehe auch so besonnen genug an die Texte unserer Tracks heran. Ein Songtext ist vor allem ein Kunstwerk. Und es gibt Themen, über die man eigentlich nicht laut spricht, aber wenn man sie ausspricht, von mir aus auch metaphorisch oder bildhaft, fühlt man sich erleichtert. Daher der therapeutische Effekt der Musik: Menschen hören die Songs und spüren, dass sie mit ihrem Schmerz nicht allein sind, dass sie nicht einsam sind, denn Einsamkeit ist das Schlimmste, meiner Ansicht nach.     

Propaganda für Selbstmord, Gewalt, Extremismus und dergleichen gibt es in unseren Songs absolut nicht, gab es auch nie und wird es nie geben. Wir verwenden nicht mal Mat. Wir reflektieren eine der Facetten der Wirklichkeit, in der unsere Generation lebt, ihre emotionale Seite.      

https://www.youtube.com/watch?v=zf99kdFw9b8

 

„Menschen hören die Songs und spüren, dass sie mit ihrem Schmerz nicht allein sind“– „Sad Bitch“ von IC3PEAK
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Russische Rockmusik

Das „Yeah, yeah, yeah“ ertönte als Ruf einer Generation, der auch auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs zu hören war. Als Gegenentwurf zur offiziellen sowjetischen Musikkultur eröffnete die russische Rockmusik eine emotionale Gegenwelt, die systemverändernd wirkte und den Soundtrack einer neuen Zeit bildete.

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Hip-Hop in Russland

Am Anfang war das Wort, und das Wort war Rap. Das etwa 25-minütige Programm Rap von DJ Alexandr Astrow und der Gruppe Tschas Pik (dt. Stoßzeit) gilt als erste russischsprachige Rap-Aufnahme, die 1984 im Nachtclub Kanon in Samara erklang. Musikalisch lehnte es sich stark an Rapper’s delight der US-amerikanischen Gruppe The Sugar Hill Gang (1979) an. Textuell bietet es vor allem eine scherzhafte Reflexion, ob Rap auf Russisch überhaupt möglich ist.

Auch wenn eine Antwort damals alles andere als selbstverständlich war, entwickelte der russische – oder eher russischsprachige – Hip-Hop, im Gegensatz zu der Anpassung an US-amerikanische Formen in den frühen Jahren, allmählich eine eigene stilistische und musikalische Identität. Heutzutage steht er als ein eigenständiges Phänomen und als „dominante Gegenwartskultur“ da, eben auch in erster Linie als kulturelles Gut, das zudem nicht unrentabel ist.

Für die breite Öffentlichkeit wird das allerdings erst 2017 klar. Am 6. August 2017 geraten in einem Battle-Rap zwei russische MCs aneinander. Auf der einen Seite steht Oxxxymiron, einer der bekanntesten und renommiertesten russischen Rapper. Auf der anderen Seite der außerhalb der Szene kaum bekannte Battle-MC Gnoiny (dt. Eitrig) aka Slawa KPSS. Die am 13. August online gestellte Aufzeichnung brach alle Rekorde und verzeichnete elf Millionen Aufrufe in einer Woche, über 37 Millionen bis heute.

Aus dem Underground in die Pop-Kultur

Der Battle wurde bis in die großen Nachrichtenagenturen wie RIA Nowosti wochenlang analysiert, rezensiert und kommentiert. Es ist schon an sich eine Schlagzeile, wenn zehn Prozent der russischen Bevölkerung sich eine Stunde lang elegante verbale Beschimpfungen, a capella vorgetragen, voller vulgärer Ausdrücke, Insider- und kultureller Querreferenzen anschauen. Selbst die, die mit dem Internet „per Sie“ sind, mussten sich mit der „neuen kulturellen Erscheinung“ vertraut machen: „Das Konzept des Rap-Battles war den meisten Russen vor einem Jahr noch unbekannt. Nun ist es praktisch in euer Leben getreten”, schrieb der Kommersant zu Beginn des Jahres.1 So trat der Rap scheinbar plötzlich „aus dem Underground in die Pop-Kultur“ und wurde zum Massenphänomen: die Videoclips erreichen mehrere Millionen Internet-Nutzer, die Rapper füllen die größten Clubs und Konzerthäuser. Das war nicht immer so.

Rap Battle Oxxxymiron VS Slava KPSS from n-ost on Vimeo.

 
„Ich battle heute nur gegen einen Betäubten, eine graue Ratte“ – Der Battle brach alle Rekorde und verzeichnet bis heute 37 Millionen Aufrufe. Video: Maxim Kireev (Übersetzung) und Eva Famulla (Schnitt und Untertitel) / ostpol.de

Geburt des Raps aus dem Geiste des Tanzes

In den frühen 1980er Jahren gelangten die westlichen Rap-Aufnahmen, wie eben der Welthit Rapper‘s delight der Sugar Hill Gang erstmal als Raubkopien in die Sowjetunion und waren – wie auch Rockmusik und andere westliche Kulturgüter – der sowjetischen Jugend nicht länger vorenthalten.

Zur Subkultur wurde Hip-Hop in der Sowjetunion vor allem über Breakdance. Ausgewählte Szenen in Filmen wie Tanzy na krysche (dt. Tänze auf dem Dach, 1985, Viktor Wolkow) oder Courier (1986, Karen Schachnasarow) inspirierten eine ganze Bewegung an B-Boys und B-Girls. 1985 entstanden in Moskau erste Tanzcrews und im Folgejahr fand in Litauen das erste sowjetische Breakdance-Festival statt.

Auch frühe Rap-Gruppen wie Bad Balance oder MC Lika – die vermeintlich erste russische Rapperin – entstanden aus Tanzgruppen. Musikalisch unterscheiden sie sich auf den ersten Blick wenig von ihren US-amerikanischen Vorbildern. Manche Texte sind gar auf Englisch verfasst. Durch die Annahme US-amerikanischer kultureller Formen zeigen die Künstler ihre Kenntnis von und ihre Anbindung an eine zu der Zeit noch sehr US-amerikanisierte Hip-Hop Kultur, die sie durch Kassetten, Filme und seltener auch live konsumieren.

„Keep it real!“

Der Hip-Hop der Perestroika und des ersten Jahrzehnts nach der Auflösung der UdSSR bot der Jugend neben neuen Ausdrucksformen neue Identifikationsmöglichkeiten und künstlerische Freiheiten. Nicht zuletzt auch über ein gemeinsames Vokabular und Ethos. „Keep it real!“, also sowohl „Sei Hip-Hop“ als auch „Sei Du selbst“, ist ein zentraler Wert in der Hip-Hop Kultur. Für den Rap in Russland bedeutete das einerseits die Aufnahme externer Einflüsse, andererseits aber auch eine tiefe Verankerung im Hier und Jetzt. So hat sich das Genre, stets ein Spiegel seiner unmittelbaren Umgebung, zunehmend differenziert.

Räumlich übt Moskau, das Moloch, an dem es sich zu messen gilt, mit seinen Labels und Konzerthäusern gewiss die größte Anziehungskraft aus. Es zieht zwar viele Rapper in die Hauptstadt, aber Hip-Hop ist keineswegs nur ein Moskauer Phänomen. Bad Balance vertritt Sankt Petersburg, die berühmten Basta und Kasta kommen aus Rostow am Don, Face aus Ufa. Gerappt wird sowohl über Moskauer Hochglanz als auch über panelki (dt. Plattenbauten) in der Provinz. Tatsächlich hat sich die russischsprachige Rap-Landschaft seit den 1990er Jahren erheblich erweitert, bis über die Landesgrenzen hinaus: Nicht wenige der aktuellen Größen im russischsprachigen Rap kommen aus postsowjetischen Staaten wie Kasachstan (Skriptonit) oder Belarus (LSP).

„Ich brauche eine Pille“

Der teils rebellische russische Oldschool-Rap der 1990er Jahre bringt auch manche Tabubrüche mit sich. Der wohl erste Rap-Skandal in Russland entflammte um den Track Seks bes pererywa (dt. Pausenloser Sex) der Gruppe Maltschischnik (dt. Junggesellenabschied). Das Stück war 1991 der wohl erste russische Rap-Hit – und ein Bruch mit der Kultur des Schweigens, die in der Sowjetunion um das Thema Sex herrschte.2 Aus heutiger Perspektive ist der Skandal kaum nachvollziehbar. Die zahlreichen sexuellen Anspielungen in Rap-Texten und Videoclips überraschen kaum und selbst der latente Sexismus einiger Künstler, am besten veranschaulicht durch die häufige Nutzung des Wortes suka (vgl. en. „bitch“), führt kaum zu öffentlichen Debatten.

Nicht nur der Platz des Themas Sex hat sich seit den 1990ern erheblich geändert. Die urbane Rap-Welt an sich wandelte sich im Laufe der Zeit parallel der gesellschaftlichen Stellung der Rapper von einer Underground-Existenz zu einem glamourösen Leben. Wo Delfin „einer der feinsten Dichter der russischen Musikszene“3 noch einen Diler (1996) verkörperte, ein „grässlicher Typ“ in einer makabren Umgebung, so treten Drogen mittlerweile vor allem aus der Perspektive des Konsumenten auf. „In meinem Herz hab ich ein Loch / Ich brauche eine Pille“ – besingt der Minsker Rapper LSP im Track Monetka die „furchteinflößende Leere“, die sich hinter dem Erfolg verbergen kann.

 
„In meinem Herz hab ich ein Loch / Ich brauche eine Pille“: Drogen treten vor allem aus der Perspektive des Konsumenten auf.

„Poesie aus drei Buchstaben“

„Poschumim, bljad!“ – „Macht verfickt nochmal Lärm“: So beginnt jedes Battle-Rap der größten russischen Battle-Rap-Liga Versus. Nicht nur im russischsprachigen Rap sind Kraftausdrücke sehr verbreitet. Durch die Besonderheiten des Mat, der russischen Vulgärsprache, die sowohl besonders tabuisiert als auch besonders reichhaltig ist, ist die gekonnte Nutzung obszöner Begriffe oftmals Bestandteil der lyrischen Gewandtheit von MCs. „Poesie aus drei Buchstaben“4, betitelt der Ogonjok einen Artikel über Battle-Rap und lässt dabei offen, ob damit Rap oder ein bekannter Mat-Begriff (хуй [chuj], dt. „Schwanz“) gemeint ist. „Derbe Flüche sind die Perle der großen russischen Sprache“, bestätigt auch eine Battle-Line von Oxxxymiron diese Annahme.

„Die russische Kultur hat erneut ihre Elastizität bewiesen – die Möglichkeiten der Sprache sind nicht erschöpft“, kommentiert Ogonjok die „recht originelle, tiefe und figurative Sprache“ des russischen Raps. Tatsächlich hört sich der Rap mancher Interpreten so an, als sei er „nichts weniger als konzeptuelle Poesie“.5 Wo Tschas Pik 1984 die Machbarkeit von russischsprachigem Rap noch in Frage stellte, wird der Rap heute zunehmend als literarisches Genre ernst genommen. So bot die staatliche Nachrichtenagentur TASS vor kurzem ihren Lesern an, Rap-Zeilen von Versen von Wladimir Majakowski zu unterscheiden.6

Auch Oxxxymiron’s letztes Album Gorgorod (2015) kann als ein langes Gedicht wahrgenommen werden. Als solches stand es jedenfalls zu Beginn des Jahres in der Vorauswahl eines angesehenen russischen Literaturpreises.7 Tatsächlich wagt sich Oxxxymiron dabei an ein anderes Format, ein Konzeptalbum, in dem man von Track zu Track den künstlerischen und persönlichen Werdegang eines Schriftstellers in einer antiutopischen fiktiven Stadt verfolgt.

Große Poesie und große Musik

Rap ist natürlich mehr als nur Text. „Oxxxymiron hat allen bewiesen, dass Rap auf Russisch große Poesie sein kann. Skriptonit hat bewiesen, dass er große Musik sein kann“8, stellt Meduza in einer Kritik zwei der einflussreichsten Rapper der vergangenen Jahre gegenüber. Der kasachische Rapper Skriptonit9, bekannt für seinen abgehackten Flow, nutzt seine Stimme nicht nur als Sinnträger, sondern vor allem auch als ein Instrument unter anderen.

Nicht zuletzt durch die technischen Entwicklungen im Hip-Hop und der Übergang von Samples (also Hip-Hop-Musik als Collage) zu eigen gefertigten Beats gewinnt der russischsprachige Rap zunehmend eine eigene musikalische Identität. Auch in Sachen visueller Ästhetik werden neue Akzente gesetzt. So mischt das Video zu Pharaohs Hit Diko, naprimer (dt. Wild, zum Beispiel, 2017) Bling-Bling mit einer Darstellung der Aristokratie aus dem Russland der Zarenzeit.

„Mein bester Freund ist Präsident Putin“

Anders als in den Vereinigten Staaten oder in Frankreich hat sich der Hip-Hop in Russland allerdings kaum als Gegenkultur etabliert, noch wurde er zum Sprachrohr für diskriminierte Minderheiten. Inhaltlich lässt sich der russischsprachige Rap nur schwer in ein politisches und ein unpolitisches Lager einteilen. Überhaupt wird Politik im engeren Sinne von Rappern selten angesprochen. Die Ausnahmen sind selten und sorgen stets für Aufruhr, links wie rechts. Timati steht exemplarisch für einen ausgeprägt regimetreuen Rap und macht aus seiner Nähe zu Präsident Wladimir Putin keinen Hehl: „Mein bester Freund ist Präsident Putin“, tönt gar der Refrain eines seiner Stücke (2015).

 
„Wenn das Land ein Club ist, entscheidet alles DJ“: Timati macht aus seiner Nähe zu Präsident Wladimir Putin keinen Hehl.

Der in den vergangenen zwei Jahren zunehmend aufsehenerregende Rapper Face, Jahrgang 1997, steht hingegen womöglich für eine politisierte jüngere Generation der Jahrtausendwende. Sein jüngstes Album Puti neispowedimy (dt. Die Wege sind unergründlich) bietet einen höchst kritischen Blick auf den Alltag: „Wir leben weiter und fühlen nicht das Land unter uns“, zitiert er in einem Track in Bezug auf die heutige Situation das fast gleichnamige Gedicht von Ossip Mandelstam, das eine harsche Kritik am Stalin-Regime darstellte. 

In der Regel kann man das Verhältnis zwischen Hip-Hop und Regime in Russland hingegen am besten als ein gegenseitiges Ignorieren schildern. So zieht Rap bislang auch nur wenig Aufmerksamkeit der Behörden auf sich und genießt eine relative künstlerische Freiheit.10 Da, wo Rap an die Justiz gerät, ist es den Künstlern teilweise gar dienlich. So erlangte die 2003 von Absolventen der Moskauer Akademischen Kunsthochschule gegründete Gruppe Krowostok (dt. Blutrinne) erst durch das Verbot ihrer Webpräsenz durch ein Gericht 2015 einen weiten Bekanntheitsgrad. Grundlage für das nach einem halben Jahr aufgehobene Urteil war die „Apologie von Gewalt und Drogenkonsum“. Krowostoks Texte zeichnen sich tatsächlich durch eine äußerst ausgeprägte Nutzung von Mat und kriminellem Jargon aus. Sie binden sich damit gekonnt an die Tradition des Blatnoi-Chanson an.

Rentables Geschäft

Die relative Narrenfreiheit von Hip-Hop in Russland hat gewiss auch mit seinen Verbreitungskanälen und Business-Modellen zu tun. Rap verbreitet sich in erster Linie über das Internet und auch die großen Label wie Bastas Gazgolder sind aus dem Hip-Hop heraus entstanden. Im Fernsehen ist Hip-Hop hingegen relativ wenig vertreten. „Fast alle Werbegelder haben sich Stück für Stück vom Fernsehen ins Internet verlagert“, so Basta im Gespräch mit Kommersant.11 Zurzeit werde aktiv in Werbekampagnen und Product-Placement in der Hip-Hop Kultur investiert – so der renommierte Rapper und Hip-Hop-Unternehmer. 

So geht die künstlerische Unabhängigkeit des Hip-Hop mit der wirtschaftlichen Eigenständigkeit einher. Auch die große Battle-Rap-Liga Versus finanziert sich über Klickzahlen und Sponsorenverträge. Nach dem Battle zwischen Oxxxymiron und Gnoiny bemerkte eines der Jurymitglieder: „Ich weiß nicht, wer von euren Kämpfen hier was hat, aber das russische YouTube gewinnt auf jeden Fall“.


Playlist



 
Tschas PikRap (1984): Der Urrap Rap, erstmals in Samara vorgetragen, bewegt sich noch an der Grenze von Elektro- und Hip-Hop und ist voller Zitate der Sugar Hill Gang oder von Grandmaster Flash.


 
Bad Balance Gorodskaja Toska (1996): Städtische Sehnsucht, einer der ersten russischen Rap-Videoclips, ist eines von zahlreichen der Stadt gewidmeten russischen Rap Stücke und repräsentativ für den russischen Old-School. Bad Balance ist eines der Urgesteine des russischen Rap. 


 
Zentr (feat. Basta) – Gorod Dorog (2008): Zwölf Jahre später nach Gorodskaja Toska von Bad Balance, ein anderer Beat, ein anderer Flow und es geht weiter um die Stadt. Für dieses Stück über die Hauptstadt erhielten die Moskauer Gruppe Zentr und der Rostower MC Basta den russischen MTV Music Award für das beste Hip-Hop Projekt.


 
KastaNa Poryadok vysche (2002): “Vergiss nicht deine Wurzeln/ Erinner’ dich / Es gibt höhere Dinge/ Hörst Du!”, wenden sich die Rapper von Kasta an die, die Russland verlassen wollen. Das Album Gromtsche WodyNishe Trawy (dt. Lauter als Wasser, niedriger als Gras) war einer der ersten kommerziellen Erfolge des russischen Rap. 


 
OxxxymironGorod pod Podoschwoj (2015): Oxxxymiron, Oxford-Absolvent, aufgewachsen in Essen und in London, steht an sich schon für die Fülle an Einflüssen des russischen Hip-Hop. In dem bekannten Stück reflektiert er über seinen fast nomadischen Werdegang, stets mit der „Stadt unter der Fußsohle“.  


 
SkriptonitVBVVCTND (2014): Skriptonit kommt aus einem Vorort von Pawlodar, Nodkasachstan und rappt überwiegend über die dortigen Lebensumstände. So auch in seinem ersten Clip, der ihm einen Vertrag mit einem der größten russischen Labels einbrachte. Drei Alben später ist auch er ohne Zweifel zu einer der einflussreichsten Figuren des russischsprachigen Rap geworden. 


 
PharaohDiko, naprimer (2017): Pharaoh (geb. 1996) gehört schon zur jüngeren Generation des russischen Rap. Diko Naprimer wurde 2017 zum Sommerhit und zeichnet sich neben seinem trägen Beat vor allem durch die besondere Ästhetik des dazugehörigen Videoclips aus.

1.Kommersant.ru: Is andegraunda v pop-kulturu 
2.Die Ausstrahlung eines Auftritts auf dem Fernsehsender ORT (heute Perwy Kanal) löste eine weite Polemik aus und führte zur Entlassung des Programmredakteurs. 
3.Gontchar, Alexandre (2017): Violence as Existential Punctuation. Russian Hip Hop in the Age of Late Capitalism, in Miszczynski, Milosz und Helbig, Adriana: Hip Hop at Europe’s Edge. Music, Agency and Social Change, Indiana, S.184 
4. Ogonjok: Poesija is trjoch bukw 
5.Gontchar, Alexandre (2017): Violence as Existential Punctuation: Russian Hip Hop in the Age of Late Capitalism, in Milosz Miszcynski und Adriana Helbig, Hip Hop at Europe's Edge, S.182 
6. TASS: Poprobujte otlitschit’ stichi Majakowskogo ot russkogo repa 
7. http://piatigorskyprize.ru/long-list 
8. Meduza: Neljubow i bednost’: Repper Skriptonit vypustil, vosmoschno, lutschschij russkojazytschnyj al’bom goda. Rasskasywaem, chem on chorosch 
9. Novastan.org: Skriptonit – zeitlose Beats 
10. Ein Tabu bleibt vor allem die unmittelbare Kritik an wichtigen politischen Persönlichkeiten. So wurde beim Versus-Battle zwischen Gnoiny und Ernesto Zatknites’ 2016 Erwähnungen von Ramsan Kadyrow und dem Patriarch Kyrill herausgebeept. 
11. Kommersant: Is andergraunda v pop-kul’turu 
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