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Editorial: Weihnachten der Wirklichkeit

Die Ziege ist im Brauchtum der belarussischen Weihnacht das Symbol der Fruchtbarkeit und Hoffnung / Illustration © Anna I.
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Werte Leserinnen und Leser!

Die frohe Botschaft – sprachlich schön verpackt, an der man sich wärmen und aufrichten kann – wird es auch am Ende dieses Textes möglicherweise nicht geben. Für frohe Botschaften, wie sie den Kern des Weihnachtsfestes bilden, sind wir als journalistisches Medium nicht zuständig. Ebenso wenig für Wunder, wie sie zu Weihnachten ja durchaus vorkommen sollen. Wir bilden die Realität ab, so gut es eben geht. Bei dekoder tun wir dies aus Überzeugung, mit Hingabe und Leidenschaft. Unsere Hoffnung besteht darin, dass unsere Arbeit dazu beiträgt, Sachverhalte besser einordnen und damit die Realität besser verstehen zu können. 

Die Realität sieht seit geraumer Zeit über die Maßen bedrückend und verstörend aus. Nicht nur in Osteuropa natürlich. Aber es sind eben Russland und Belarus, über die wir als Medium schwerpunktmäßig berichten. Der grausame russische Krieg gegen die Ukraine, die nicht enden wollenden Repressionen in Belarus und auch in Russland, Flucht, Vertreibung, Tod, Terror, Exil – es ist düster und finster und ein Licht der Hoffnung, nach dem sich viele sehnen, scheint nicht in Sicht. Unsere Koordinaten – das, was man wohl gemeinhin Normalität nennt – auch unsere Sprache sind erschüttert, Orientierung und Halt: dringend gesucht. 

Wir sind Profis im Umgang mit schlechten Nachrichten, aber wir sind eben auch Menschen, die das, über das wir berichten, mitnimmt. Wir alle im Team sind auf die unterschiedlichste Art und Weise mit der Ukraine, mit Belarus und Russland verbunden. In solch einem Editorial darf man so etwas sagen, etwas Persönliches, Emotionales – etwas, das die fachliche und sachliche Distanz, die wir uns normalerweise zu wahren bemühen, aufhebt. 

Wir halten auch in diesen Zeiten Kontakt mit unseren Kollegen und Kolleginnen aus der Ukraine, aus Belarus und aus Russland, mit unseren Partnermedien, die fliehen mussten, die sich im Exil in Georgien, in Litauen, Polen oder in Deutschland ein neues Zuhause aufbauen mussten, die trotz aller Schwierigkeiten dafür kämpfen, dass ihre Medien weiterexistieren können. Es ist ein existentieller Kampf, der allen alles abfordert, der übermenschliche Kräfte braucht, um einerseits das eigene Leben neu zu organisieren, andererseits wertvolle Informationen und Beiträge zu liefern.

Weil unsere Kolleginnen und Kollegen derart reinhauen, können wir bei dekoder Beiträge übersetzen und veröffentlichen. So können wir verstehen, was sich nicht nur in den neuen Exilgemeinden tut, sondern auch innerhalb von Belarus, Russland, auch in der Ukraine oder in den von Russland besetzten Gebieten. In Belarus arbeiten längst keine internationalen Medien mehr. Die belarussischen und russischen Exilmedien arbeiten weiterhin mit Journalisten zusammen, die sich noch im Land befinden und die tagtäglich Gefahr laufen, festgenommen zu werden und drakonische Haftstrafen zu kassieren. Wir bemühen uns, diesen Medien und Kollegen eine Plattform zu geben, damit ihre Beiträge gelesen werden und eine Realität gesehen wird, die ansonsten in den dichten Nebel der Ahnungslosigkeit entrückt. Wenn das geschieht, wenn die Realität nicht mehr gesehen werden kann, dann ist es wohl ganz vorbei mit der Hoffnung. 

Bleibt wach und stark! 
Euch allen ein Fest, das Kräfte schafft und Hoffnung stärkt.

Euer Ingo
Belarus-Redakteur bei dekoder

PS: Wir danken euch, unseren Leserinnen und Lesern, für die immerwährende Unterstützung. Wenn ihr noch ein Weihnachtsgeschenk sucht: dekoder kann man auch verschenken.

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Kaljady

In Belarus wird das katholische und orthodoxe Weihnachten gefeiert, dazu das aus der Sowjetunion stammende Neujahr und: Kaljady. In dieser kurzen Gnose erklären wir, was es mit diesem archaischen Weihnachtsfest auf sich hat und woher es stammt.

Als Kaljady (каляды) wird in Belarus und bei anderen slawischen Völkern die Zeit zwischen dem 25. Dezember und 6. Januar (und nach orthodoxem Ritus bis zum 19. Januar) bezeichnet, in der sich heidnische und christliche Rituale und Glaubensvorstellungen zu einer besonderen Art des Weihnachtsfestes vermengt haben. 

Die Festtage liegen in der Regel zwischen der Geburt Christi (25. Dezember) und der Taufe Christi (6. Januar). Ursprünglich gehen sie auf die Wintersonnenwende zurück, die Tage nach dem 21. Dezember also, wenn die Tage wieder merklich länger werden. In dieser Zeit sollen böse Geister durch fröhliche Lieder vertrieben werden. Dazu verkleiden sich die Menschen: als kasa (Ziege), ein Symbol der Fruchtbarkeit, als baba (Großmutter) oder dsed (Großvater), die für die verstorbenen Vorfahren stehen, als Soldat, ein Symbol für das bösmächtige und geheimnisvolle Fremde, als tschort (Teufel), der übermächtige Kräfte verkörpert, oder als wouk (Wolf), der in archaischen Vorstellungen als Entführer von Mädchen und jungen Frauen gilt. Es werden Symbole von Sonne und Sternen an Stöcken getragen. Man trägt nicht nur Kostüme und Masken, sondern auch traditionelle belarussische Kleidung. 

Eine Kaljady-Gesellschaft im Gouvernement Mahiljou aus dem Jahre 1903.

So gehen die festlichen Gesellschaften in den Dörfern von Haus zu Haus, häufig begleitet von Musikern, die auf traditionellen Instrumenten den Umzug auf das Fest einstimmen. Man singt Lieder zusammen, tanzt und isst zusammen bestimmte Speisen. Darunter vor allem kuzzja (куцця), eine süße Getreidespeise mit Honig, Nüssen, Rosinen oder Mohn, deren Verzehr Glück, Hoffnung und Unsterblichkeit bringen, die auch das familiäre Wohlbefinden stärken soll und die es in unterschiedlichen regionalen Versionen gibt. Da die Speise rund ist, steckt in ihr symbolhaft eine der Erklärungen für die etymologische Herkunft des Wortes kaljady. Als kola wird in ostslawischen Sprachen das Rad oder der Kreis bezeichnet. In diesem Sinne könnte kuzzja ein Symbol für die Sonne sein und kaljady in archaischer Vorstellung damit als ein Fest für das wiederkehrende Leben verstanden worden sein. Aber in Bezug auf die Etymologie gibt es keine eindeutige Erklärung. Einig ist sich die Wissenschaft lediglich darüber, dass das Wort aus vorchristlicher und womöglich sogar aus vorslawischer Zeit stammt, als der Beginn eines neuen Jahres mit den wieder länger werdenden Tagen gefeiert und entsprechend ritualisiert wurde.

In zahlreichen Regionen von Belarus sind die Kaljady-Rituale bis heute in variierenden Ausformungen lebendig. In dem Dorf Semeshawa beispielsweise stehen die Kaljady-Zaren im Mittelpunkt eines Schauspiels, an dem dutzende Dorfbewohner und Laienschauspieler teilnehmen. Dabei stürmen die Weihnachtssoldaten die Dorfhäuser, führen karnevaleske Tänze und Clownereien auf, was in der Vorstellung der Bewohner Glück, Harmonie und Wohlstand für das kommende Jahr versprechen soll. Das außergewöhnliche Ritual wurde 2009 sogar in die UNESCO-Liste des dringend zu schützenden immateriellen Kulturerbes aufgenommen.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)