Russische Wissenschaftler, Philosophen und Intellektuelle antworten auf die wichtigste Frage des Jahres.
Oleg Aronson, Philosoph
Was dieses Jahr geschehen ist, hatten viele bereits auf die eine oder andere Weise vorhergeahnt. Dennoch ist es nicht leicht, über die Veränderungen im Jahr 2014 zu reden. Meiner Meinung nach betreffen sie nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Umstände, sondern vor allem etwas, das ich unser moralisches Gespür nennen würde. Man kann zwar kaum sagen, dass dieses Gespür selbst nun ein anderes wäre als vorher, aber es war im vergangenen Jahr intensiven Attacken ausgesetzt, Attacken auf die Emotionen und das Bewusstsein: 2014 war ein Kriegsjahr, mit allem, was dies mit sich bringt.
Der Krieg in der Ukraine ist in keiner Weise ein lokaler Konflikt und auch nicht einfach nur eine politische Rivalität unter Staaten oder eine banale Aggression. Die globale Welt, in der wir leben, hat die Epoche der Eroberungskriege bereits hinter sich, heute rennt niemand mehr geopolitischen Phantasmen hinterher. Welche Kriege in einer globalen Welt möglich sind, können wir uns bislang überhaupt nur begrenzt vorstellen: Wir wissen das eine oder andere über die Einsätze der USA im Irak oder in Afghanistan, aber diese Erfahrungen kann man nicht übertragen, denn bei diesen Kriegen wird der Feind noch im klassischen Sinne verstanden. Der Krieg in der Ukraine ist etwas anderes, er hat eher Ähnlichkeit mit einem Bürgerkrieg, allerdings mit einem, der nicht innerhalb der Ex-UdSSR vor sich geht, sondern auf dem Territorium der globalisierten Welt als ganzer.
In diesem Krieg offenbart sich, wie vollkommen unangemessen sich Russland derzeit politisch gesehen verhält. Mehr als alles sonst fällt ein vollkommen unverhohlener Zynismus ins Auge. Je mehr die Politiker über Frieden sprechen, desto mehr entsteht der Eindruck, dass der Frieden an sich unmöglich ist.
Ich denke, dass in einer wirtschaftlich globalisierten Welt alle Kriege die Tendenz haben, zu Bürgerkriegen zu werden, also zu Kriegen, in denen es keinen politischen Freund oder Feind gibt, oder es sie nur der Bezeichnung nach gibt, und in denen das Politische sich überhaupt als eine Fiktion erweist. Diese Art von Kriegen findet sozusagen im Mass-Media-Modus statt. Die Kriegshandlung selbst ist dabei nur eine besondere Art von Effekt – wenn auch ein besonders dramatischer. Wir alle wissen, dass es Opfer gibt. Aber der eigentliche Krieg wird mit den Waffen der Medien geführt, und mit diesen Waffen wird im Grunde auch getötet. Beenden kann man solch einen Krieg nur, indem man die Medien radikal depolitisiert. In Russland sehe ich dafür bislang keine Anzeichen.
In der globalen Welt braucht Krieg keinen konkreten Feind mehr. Der Krieg selbst verdrängt an Wichtigkeit den Gegner. Auch die Ukraine ist eigentlich ein zufälliger Feind. Im Grunde spielt die Trennung in politische Freunde und Gegner keine Rolle mehr, der Gegner kann jeder sein. Für die Politik ist nur wichtig, dass der Krieg weitergeht.
Michail Gelfand, Professor für Bioingenieurwesen und Bioinformatik an der Lomonossow-Universität Moskau
Der Krieg in der Ukraine, den Russland angezettelt hat, hat ausnahmslos alles verändert. Alle weiteren Ereignisse dieses Jahres sind Folgen dieses Krieges.
Ljudmila Petranowskaja, Psychologin
Die wichtigste Veränderung, was Russland angeht, besteht darin, dass von staatlicher Seite der Gesellschaftsvertrag annulliert worden ist. Dieser Vertag war bisher seinem Wesen nach ein Handel: Die Bürger verzichteten auf jegliche Kontrolle der staatlichen Machtausübung und erhielten dafür ein Grundmaß an Wohlstand und Stabilität. Im vergangen Jahr wurde den Bürgern dann gesagt, der Posten „Stabilität“ sei auszutauschen gegen den Posten „Großmacht“. Das sah für viele erst einmal verlockend aus. Aber schon gegen Ende des Jahres stellte sich heraus, dass von der Stabilität so gut wie gar nichts mehr übriggeblieben ist, der Wohlstand von Tag zu Tag dahinschmilzt, und mit der Großmacht hat es auch nicht so recht geklappt. Russland hat sich mit der ganzen übrigen Welt zerstritten, eine Menge alter Freunde verloren und seine Ziele nicht erreicht – mit Ausnahme desjenigen der Krim vielleicht. Aber auch da ist derzeit alles andere als klar, wie es weitergehen soll. Es wurde viel versprochen, aber nichts vollbracht. Faktisch gibt es jetzt überhaupt kein irgendwie greifbares Abkommen zwischen der Bevölkerung und der Staatsmacht mehr. Und das ist eine einschneidende Veränderung, denn zuvor gab es über 15 Jahre hinweg solch ein Abkommen und praktisch immer in der gleichen Form. Wie diese Situation sich weiterentwickelt, werden wir im nächsten Jahr erleben.
Olga Sedakowa, Lyrikerin und Übersetzerin
Das Jahr 2014 war nach meinem Empfinden eine Katastrophe. Wir (damit meine ich unser Land) haben eine ganz bestimmte Linie überschritten, und es gibt keinen Weg mehr zurück. Oder wenn es ihn gibt, dann ist er sehr schwierig zu finden. Zu Gorbatschows Zeiten sprach man von „allgemeinen menschlichen Werten“: Humanismus, Achtung vor dem Gesetz, eine generelle Vernünftigkeit, historische Zurechnungsfähigkeit … Dagegen ist das ganze abstoßende Gerede, das wir stattdessen jetzt als unsere angebliche nationale Identität serviert bekommen sollen, wirklich nichts als Schwachsinn. Es ist eine Mischung aus Protonazismus und Neostalinismus. (Neu ist in diesem Stalinismus allerdings die totale Gewissenslosigkeit: Zu Stalinzeiten hat man die Grausamkeit und Gemeinheit des Regimes versteckt oder wenigstens verschwiegen, nun aber zeigt man sie stolz herum). Hass und bisher nie dagewesene Dreistigkeit – das ist die Tonart der Musik, die jetzt gespielt wird.
Ich habe in meinem ganzen langen Leben noch nie solch einen Unsinn gehört, wie man ihn jetzt überall zu hören bekommt. Und nicht nur in den Medien, obwohl die natürlich den Ton angeben. Auch unsere Mitbürger greifen das alles freudig mit auf! Man hört diese Obszönitäten heute selbst vom Nachbarn, den man noch vor einem halben Jahr für einen anständigen Menschen gehalten hat.
Der kalte Krieg mit der Welt um uns herum hat begonnen. Und es beginnt auch ein (bisher noch) kalter Bürgerkrieg. Unsere Einschätzung davon, wer auf unserer Seite steht, wer unser nächster ist, hat sich ganz entschieden geändert. Es bricht überall etwas auseinander. In den Familien, im professionellen Umfeld, sogar in den Kirchengemeinden. Und es geht da nicht einfach um einen vorübergehenden Streit, sondern um eine tiefgehende Spaltung. Man hat sich so weit voneinander entfernt, dass eine Kommunikation nicht mehr möglich ist. Alles was bleibt, ist einander zu beschimpfen.
Das ist natürlich alles nicht von heute auf morgen so gekommen, sondern hat eine Vorgeschichte. Aber was wir jetzt erleben, ist eine Stunde der Wahrheit. Dadurch wird die Lage nicht einfacher. Aber wir können immerhin die Augen nicht mehr davor verschließen, dass eine neue Zeit anbricht und wir uns ihr stellen müssen.
Alexej Zwetkow, Schriftsteller und Essayist
Es gibt diese Neujahrstradition, dem auslaufenden Jahr Flüche hinterherzuschicken und darauf zu hoffen, dass das neue Jahr besser wird. Es ist dabei schon fast unwichtig, was im scheidenden Jahr eigentlich gewesen ist, weil wir in jedem Fall etwas Besseres wollen. Dieses Mal ist es allerdings so, dass das vergangene Jahr tatsächlich Flüche verdient und 2015 sich schon sehr anstrengen müsste, um in die gleichen Niederungen abzustürzen. Aber auch das kann geschehen.
Wer hätte je gedacht, dass 100 Jahre nach dem Beginn eines Krieges, in dem drei Imperien zu Grunde gegangen sind und die ganze damalige Weltordnung dazu, jemand den Versuch unternehmen würde, ein viertes solches Imperium zusammenzuschweißen, und mit derart tragischen Folgen für die Nachbarn. Und tragisch ist das natürlich nicht nur für die Ukraine, die hoffentlich noch die Chance hat, aus diesem ganzen Schlamassel heil herauszukommen. Es ist auch ein Drama für Russland selbst, denn vor uns selbst können wir nirgendwohin fliehen. Und auch die Hoffnung auf die Generation, die nach dem Zerfall der UdSSR aufgewachsen ist und die hätte freier und glücklicher sein sollen als wir, ist auch erst einmal dahin. Wenn es vielleicht auch einem Teil dieser Generation gelingen wird, sich wie Schiffbrüchige irgendwie zu retten.
Das Schlimmste ist der Verlust von Freunden – oder von denen, die man für Freunde gehalten hat. Wenn es nur Missverständnisse wären – Missverständnisse kommen nun einmal vor, und es gibt fast immer einer Möglichkeit, sie aufzuklären. Aber jetzt sieht es so aus, als würde sich die gemeinsame Welt, in der man zu leben glaubte, auf immer spalten. Das ist sehr schmerzhaft. An die Toten kann man wenigstens gute Erinnerungen behalten, viel schlimmer ist es, Lebende aus seinem Gedächtnis zu streichen.
Allerdings sind diejenigen, die man in diesen Zeiten als Freunde behalten hat, dann umso wertvoller. Ganz zu schweigen von denen, die neu dazugekommen sind, zusammen mit der Ukraine, in der diese neuen Freunde leben und aus der ich ursprünglich komme und wo ich nun längst vergessene Kontakte wiedergefunden habe.
Michail Jampolski, Philosoph
Im Jahr 2014 hat Russland die Zone von Berechenbarkeit und Rationalität, ja überhaupt die von sinnvollen Kausalitäten verlassen. Alle Normen sind zerstört und das Land ist in eine politische und wirtschaftliche Krise gestürzt. Das soziale Gefüge besitzt keine stabile Konfiguration mehr, es befindet sich in einer Turbulenzzone. In der Systemtheorie nennt man dies ein instabiles Metasystem. In solch einem Zustand kann sich der geringste Einfluss ungeheuer verstärken und zu vollkommen unvorhersehbaren Resultaten führen. Anstelle vorausschauender Planungen kann es jetzt nur noch kurzfristige Überlebensstrategien geben. Man findet in Russland heute keinen einzigen Menschen mehr, der in der Lage wäre, langfristig zu investieren, und das nicht nur, was Geld, sondern auch, was die eigene Kraft angeht. Die Institutionen, welche die Gesellschaft hätten stabilisieren können, sind in ihren Strukturen geschwächt oder überhaupt hinfällig geworden. Das Gefühl, dass sich das ganze politische System nur an einem Menschen festhält – dem Präsidenten – wird immer stärker. Dieses Gefühl hat einen neuen Personenkult hervorgebracht, aber zugleich die Schwächen der Fundamente der russischen Gesellschaft offenbart: Es gibt keine Gerichte, keine politischen Parteien, keine soliden staatlichen Institutionen, keine funktionierende Wirtschaft … Das alles ändert das Bewusstsein der Menschen radikal. Und es bringt alle Maßstäbe von Zeit durcheinander. Eine mögliche 10-jährige Haftstrafe für den Oppositionspolitiker und Blogger Alexej Nawalny entspricht dann fast schon einer lebenslangen Haft – oder nur einer dreimonatigen, man kann es überhaupt nicht sagen. Die Perspektive von Zeit ist überhaupt verschwunden. Es entsteht und verbreitet sich eine Vorahnung des absoluten Systemkrachs. Und diese Transformation der Zeitperspektive und der Erwartungen wird selbst wiederum zu einem gewaltigen Destabilisierungsfaktor. Kurz gesagt, es sieht so aus, als ob das Jahr 2014 das Ende einer ganzen Epoche gewesen ist.
Alexander Etkind, Philologe und Historiker
Für Europa und für den Rest der Welt war 2014 das Jahr Russlands. Bei sehr vielen Menschen hat dieses Jahr ihre bisherige Vorstellung über den Charakter des russischen Staates verändert, über seine Legitimität und Lebensfähigkeit. Ich denke, in Russland selbst wird eine solche Neubewertung auch noch stattfinden, vielleicht sogar schon im nächsten Jahr.
Anna Jampolskaja, Philosophin
Ein großer Teil meiner Bekannten gehört zu denen, die man in Europa als Linke bezeichnet und in Russland als Liberale. Sie alle sind in eine Art Depression verfallen, ja in Verzweiflung. Es ist klar geworden, dass unsere soziale Gruppe, die sich lange Jahre als intellektuelle Avantgarde der Gesellschaft bezeichnet hat, mit der Mehrheit der Bevölkerung keine gemeinsame Sprache mehr hat. Wir haben keinen Traum mehr, den wir dem Menschen auf der Straße anbieten könnten. Das Wort haben jetzt die Traditionalisten, und sie verkünden: „Vorwärts in die rosige Vergangenheit!“ Und so befinden sich die europäischen ultrarechten und Putinisten derzeit im Aufstieg, und die ehemaligen Revolutionäre und Modernisten können nur wie ein Mantra wiederholen: „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ … Diese Worte haben aber durch übermäßigen Gebrauch ihre beschwörende Kraft längst verloren.
Niemand, auch wir selbst nicht, glaubt noch daran, dass man eine gerechte, freie Gesellschaft erschaffen kann. Wir sind nicht in der Lage, uns selbst, geschweige denn den anderen, ein positives Bild von Zukunft aufzuzeigen. Wir haben keine Hoffnung mehr. Ich denke aber, dass unsere Niedergeschlagenheit, unsere Verzweiflung und intellektuelle Kraftlosigkeit nichts mit einer tatsächlichen oder eingebildeten Besonderheit Russlands zu hat. Sie ist ein Zeichen unserer Zugehörigkeit zum europäischen Schicksal. Und deswegen ist es so wichtig, die Herausforderungen anzunehmen und diese Zeit mit erhobenem Haupt zu überstehen.
gekürzt – dek.