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Playlist: Best of Protest

Die politischen Freiräume werden fortschreitend eingeschränkt, aber kritische Stimmen gibt es weiterhin und immer wieder auch Protest. Dieser wird nicht selten von Musik begleitet, aber auch von ihr angetrieben. Jekaterina Lobanowskaja hat für 7x7 reingehört und die besten Protestsongs des Jahres gekürt.  

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Noize MC – 26.04

Zum 34. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl veröffentlicht Noize MC das Musikvideo 26.04. Iwan Alexejew vergleicht darin die Geschehnisse von 1986 mit der ersten Welle der Coronavirus-Pandemie. Dem Musiker zufolge verhielten sich die Menschen im April 2020 genauso wie vor 34 Jahren: Sie bestritten die Gefahr des Virus, folgten nicht den Empfehlungen der Ärzte und trafen sich, als die Pandemie ihren Höhepunkt erreichte, mit Freunden und Verwandten zum traditionellen Schaschlik.

Der Musiker versprach, den gesamten Erlös aus der Veröffentlichung der Single 26.04. an den gemeinnützigen Verein zur Unterstützung des medizinischen Personals WBlagodarnost zu spenden.

Max Korsh – Teplo

Die Single Teplo (dt. Wärme) wird einen Tag vor der Präsidentschaftswahl in Belarus veröffentlicht. Sie erzählt das Märchen von einem Weisen, der den Menschen die Sonne wegnahm und dafür Ordnung schuf, aber es zeigte sich, dass die Leute zwar nicht viel Wärme brauchen, wohl aber Sonnenauf- und -untergänge, um „Kraft zu schöpfen und zu träumen“.

Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse [Anfang August 2020 – dek] und den ersten Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften postete Korsh auf Instagram einen Beitrag, in dem er die Menschen dazu aufrief, damit aufzuhören – wofür man ihn in den sozialen Netzwerken kritisierte. Der Musiker äußerte sich im Weiteren nicht mehr zu den Protesten, kam jedoch am 15. August ins Minsker Untersuchungsgefängnis Okrestina, um die bei den Protestaktionen inhaftierten Demonstranten zu unterstützen.

Kasta – Wychodi guljat

Ein weiteres Musikvideo über die Ereignisse in BelarusWychodi guljat (dt. Komm mit spazieren) – bringt die Band Kasta im November 2020 heraus. Es zeigt einen Sicherheitsbeamten, der nach seiner Schicht nach Hause kommt und am Esstisch Blut an seinen Händen bemerkt, das sich nicht abwaschen lässt. Diese Szenen wechseln sich mit Aufnahmen ab, die zeigen, wie Menschen hinter den verschlossenen Türen der Justizbehörden misshandelt werden.

Schyma, ein Mitglied der Gruppe, berichtete in einem Interview mit Afisha, dass der zugrundeliegende Song Wychodi guljat bereits 2019 veröffentlicht wurde. Inspiriert wurden die Musiker dazu ursprünglich durch die Massenproteste in Russland, angefangen mit den Kundgebungen auf dem Bolotnaja-Platz im Jahr 2010. Lange Zeit konnte sich die Band nicht auf einen Inhalt für das Video festlegen. Die Idee kam dann infolge der Proteste in Belarus. Übrigens fanden am Tag der Veröffentlichung des Videos, am 15. November, in Belarus Kundgebungen unter dem Slogan „Ja wychoshu“ (dt. „Ich gehe raus“) statt. Es war der letzte Satz, den der Belarusse Roman Bondarenko schrieb, bevor er von Unbekannten in Zivil im Hof ​​seines Hauses zusammengeschlagen wurde und daraufhin seinen Verletzungen erlag.

Pornofilmy – Album Eto proidjot

Im Februar 2020 präsentiert die Punkband Pornofilmy (dt. Pornofilme) das Album Eto proidjot (dt. Es geht vorbei), auf dem mindestens vier Titel auf politische Ereignisse und soziale Tendenzen im modernen Russland Bezug nehmen. 

A nas dogonit ljubow (dt. Die Liebe wird uns einholen) ist die Geschichte eines Moskauer Soldaten der Russischen Nationalgarde, der sich in ein Mädchen verliebt, das im Gefängnis sitzt – weil es bei einer Kundgebung einen Plastikbecher nach ihm geworfen hatte. In dem Song Djadja Wolodja (dt. Onkel Wolodja, Koseform von Wladimir (Vorname Putins) – dek) geht es um einen Nachbarn, einen KGB-Oberst, der ordentlich die Daumenschrauben anzieht. Tschushoje gore (dt. Fremdes Leid) handelt davon, dass das, was im Land passiert, das Ergebnis des Schweigens und der Untätigkeit der großen Mehrheit ist. 

Der zentrale Song des Albums ist der gleichnamige Titel Eto proidjot (dt. Es geht vorbei). Das Lied, das während der Moskauer Kundgebungen 2019 veröffentlicht worden war, wurde zur Protesthymne. So sangen Angehörige der Angeklagten und Aktivisten, die die Beschuldigten im Fall Seti (dt. Netzwerk) unterstützten, Es geht vorbei vor dem Gerichtsgebäude und den Mauern des Untersuchungsgefängnisses, in dem die Angeklagten festgehalten wurden. 

Der Musikproduzent und -agent Oleg Rubzow über den Song:

„Ich mag die Band Pornofilmy überhaupt nicht, und ich könnte am Text des Songs sowohl ideologisch als auch ästhetisch einiges beanstanden, aber meiner Meinung nach entfaltete er dank der Verweise auf den Fall Seti eine enorme Wirkung. Und im Laufe des Prozesses wurde er immer wieder mit neuen Bedeutungen gefüllt. Ihn unter den Fenstern der behördlichen Einrichtungen zu spielen, wurde zu einem festen Ritual, er verfolgte buchstäblich die Akteure und Beteiligten des Prozesses und wurde bei den Sitzungen zu einem ähnlich unverzichtbaren Attribut wie die richterliche Robe oder die Worte ‚Bitte erheben Sie sich ...‘. Eine solche gegenseitige Durchdringung und Beeinflussung von Realität und künstlerischem Ausdruck ist der Traum eines jeden Künstlers, der gesellschaftlich etwas bewirken will“, so der von 7x7 befragte Experte.

Ne neshnaja – Orgasm

Tatjana Mingalimowa, Autorin und Moderatorin des YouTube-Kanals Neshny redaktor, veröffentlicht am 24. November 2020 das Musikvideo Orgasm (dt. Orgasmus), in dem sie den Feminismus, die Rollenerwartungen an Frauen und das Selbstvertrauen besingt. Die Journalistin schrieb in ihrem Instagram-Account, sie habe davon geträumt, einen Titel zu machen, bei dem „sich Mädchen aufrichten und ihre innere Stärke spüren“. Ihrer Meinung nach wird den Mädchen schon in der Kindheit keine Selbstliebe eingeimpft, und daher rührt die Unsicherheit, die zu destruktiven Beziehungen, Abhängigkeiten und psychischen Traumata führt.

Shortparis – KoKoKo/Struktury ne wychodjat na ulizy

Das Musikvideo zu diesem Song veröffentlicht die Band Shortparis im September 2020. Die Musiker inszenieren darin Hahnenkämpfe, tanzen auf Ladentheken und hängen in der Schlachterei an Fleischerhaken. Viele dachten, das Video spiele auf die Ereignisse in Belarus an. Doch die Musiker wiesen diese Vermutungen in einem Interview mit der Zeitschrift Meduza zurück.

„Der Text des Liedes und das Skript zum Video entstanden in den ersten Monaten der Quarantäne und beruhen natürlich auf den Besonderheiten unseres Landes. Doch die weltpolitische Realität lieferte in Windeseile Ereignisse, die es fast unmöglich machten, keine Analogien zu ziehen. Wir sind der Meinung, dass die Darstellung aktueller Geschehnisse ein banales, verbotenes Verfahren ist, das in eine Sackgasse führt. Es vereinfacht das Denken und macht die Musik zu einem Diener der Gesellschaft, deshalb können wir nur müde mit den Schultern zucken, nachdem es zum dritten Mal in unseren Videoarbeiten Überschneidungen mit gesellschaftlichen Ereignissen gibt“, so die Künstler von Shortparis.

DDT – 2020

Die Band DDT zieht dagegen eine Bilanz für das Jahr 2020. In ihrem Song 2020 erinnern sich die Musiker an die Pandemie, die Isolation und daran, wie schwierig das vergangene Jahr mit all seinen Verwundungen und Verlusten war. Und obwohl „die Welt sich verändert hat und eine andere geworden ist“, lässt die jüngste Geschichte auf Besserung hoffen. Im Interview mit dem Korrespondenten von Nasche Radio sagte Juri Schewtschuk, es gehe in diesem Lied um Optimismus.

Original: 7x7
Übersetzerin: Henriette Reisner
erschienen am 15.01.2021

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Protestmusik

Zwei Vampire vor der Kulisse verschiedener Objekte der Staatsmacht in Moskau: Vor dem Weißen Haus übergießt sich die Protagonistin mit Kerosin, sie singt „Alles soll brennen!“. Auf eine Szene, in der die Vampire vor dem Lenin-Mausoleum rohes Fleisch verzehren, folgt ein Klatschspiel – auf Schultern von OMON-Mitarbeitern in voller Montur, vor der FSB-Zentrale Lubjanka mitten in Moskau. Szenen in der WDNCh wechseln mit Szenen, in denen die Protagonistin in einem Sarg vor der Basilius-Kathedrale liegt, schließlich trinken beide Vampire Blut aus Gläsern am Ufer der Moskwa. In der letzten Einstellung ertrinken beide im Fluss.  


Der Clip der Band IC3PEAK verstört und provoziert auf mehreren Ebenen und entwickelt eine enorm subversive Wirkung. Die Vampire lassen sich als das Staats- und Regierungsduo deuten. IC3PEAK-Sängerin Nastja Kreslina singt unter anderem über Verfolgungen aus politischen Gründen, über unkontrollierte Polizeigewalt, Korruption und Einmischung der Kirche in Staatsangelegenheiten. Das Lied Smerti bolsche net (dt. Es gibt keinen Tod mehr) wurde von zahlreichen Fans als „Hymne der Opposition“ und „wahre Äußerung über Russland“ bezeichnet – und ist dabei nur eines von vielen Beispielen für zunehmend kritische Töne in der zeitgenössischen russischen Musikszene. Eine Entwicklung, auf die die Machthaber oft widersprüchlich reagieren, und die auch Konzertverbote Ende 2018 nicht aufhalten konnten. 

 

 

Im November 2018 haben russische Behörden zahlreiche Konzerte von Kreml-kritischen Rapmusikern und anderen Bands verboten oder abgebrochen. Unabhängige Medien verglichen die Situation zunächst mit dem Kampf der sowjetischen Machthaber gegen „ideologisch untragbare“ Musik und fragten, ob der Kreml die Verbote angeordnet habe. Später verdichteten sich allerdings die Hinweise darauf, dass die Konzertabbrüche eher dem vorauseilenden Gehorsam lokaler Behörden geschuldet waren. 


Dennoch suchen die Machthaber nach der richtigen Strategie im Umgang mit der sichtbar zunehmenden Gegenkultur. So schlug der Chef des Auslandsnachrichtendienstes SWR Sergej Naryschkin vor, Rapper staatlich zu fördern. Und Wladimir Putin sagte im Dezember 2018: „Wie kann man sich an ihre Spitze stellen und sie mit passenden Mitteln in die richtige Richtung lenken – das ist das Wichtigste, weil die Methode – sie packen und nicht loslassen –, die ineffektivste und schlechteste ist, die man sich ausdenken kann. Es würde genau den gegenteiligen Effekt haben als erwartet, so viel steht fest.“1 


Auch der prominente Moderator Dimitri Kisseljow griff das Thema im Dezember 2018 in seiner Sendung im staatlichen Ersten Kanal auf und bot mit seinem Majakowski-Rap einen Gegenentwurf zur Gegenkultur. 


Dabei ist nicht klar, was die aktuelle musikalische Gegenkultur konkret ausmacht: Wie die meisten sozialen Bewegungen ist auch die musikalische Protestbewegung in Russland äußerst diffus und heterogen. Kaum einer der Künstler schreibt sich die Revolution auf die Fahne; als Gegenkultur oder ein kollektiver Akteur lassen sie sich lediglich anhand ihrer Gesellschaftskritik begreifen und wegen ihrer Kritik an der politischen Ordnung des Landes: Sie prangern etwa Verstöße gegen Grundrechte, politische Verfolgungen, fehlende Rechtsstaatlichkeit, Korruption und Konservatismus an.
Die Kritik daran bedient sich völlig unterschiedlicher Musikstile und Methoden. So erreichen die Musiker auch unterschiedliche Zielgruppen. Gemeinsam ist ihnen aber etwas anderes: Gemessen in YouTube-Klickzahlen hören Hunderttausende, zum Teil Millionen von Menschen ihre Musik. Und die Tendenz ist seit den Konzertverboten eindeutig steigend.
Gemeinsam ist den Musikern der Gegenkultur außerdem, dass sie die politische Ordnung deutlich subtiler kritisieren als beispielsweise offen oppositionelle Gruppen wie etwa die Feministinnen-Band Pussy Riot. Und doch gibt es Abstufungen: von der deutlichen Metaphorik IC3PEAKs hin zu den eher sanften, ironischen Tönen Monetotschkas.

Neue Sensibilität: Monetotschka

Monetotschka, mit bürgerlichem Namen Elisaweta Gyrdymowa, komponiert ihre Songs in einem meditativen Elektro und Indie-Pop Stil. Die 21-jährige steht gewissermaßen für eine Generation, die in russischen Großstädten unter Putin aufgewachsen ist. 

In ihren Liedern formuliert Monetotschka ein politisches und ästhetisches Programm, das man als neue Sensibilität bezeichnen kann. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich bei ernsthaften politischen Äußerungen einer strategisch naiven Form bedient. Die Texte oszillieren permanent zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie, verbinden Sentimentalität und kritische Reflexion, die an Zynismus grenzt. Die schwedische Forscherin Maria Engström merkte dazu an, dass die neue Ästhetik, die Monetotschka präsentiert, sich nicht nur durch die politische Neutralität oder Apathie kennzeichne, sondern auch durch bewusste Vermeidung einer engagierten politischen Aussage. Die Sängerin distanziere sich von der revolutionären Grenzüberschreitung des Erlaubten, die für die frühere Protestkultur typisch war.2 

Vor dem Hintergrund der Protestwelle im Sommer 2019 brachte Monetotschka Gori gori gori (dt. Brenne brenne brenne) heraus. Mit der Feuersymbolik knüpft die Sängerin an IC3PEAKs Smerti bolsche net an; zusammengenommen lassen sich die beiden Texte als eine Art Metatext lesen, der eine Anatomie der jüngsten Protestwelle darstellt.
Monetotschka kritisiert in dem Lied sowohl die totale Staatskontrolle als auch die aktuelle wirtschaftliche Situation im Land. Sie würdigt die oppositionelle Hip-Hop Szene, die sich aktiv bei den Protesten beteiligt und ironisiert die eilig organisierten Gegenveranstaltungen, mit denen der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin Menschen von den Protesten abhalten wollte.


Familienehre und autoritäre Liebe: Aigel

Wenn Monetotschka in diesem Lied darüber singt, dass „der Rap der Hauptstadt-Szene schwärzer“ werde, dann meint sie wahrscheinlich den Übergang der Musikrichtung von der Massen- in die Gegenkultur: „Schwärzer“ wird der russische Rap, weil er sich back to the roots bewegt, zu seinen Wurzeln im Underground der afroamerikanischen Ghettos der USA. 

Auch Aigel (Aigel Gajsina) ist eine Protagonistin dieser Entwicklung. In ihrem 2017 erschienenen Clip Tatarin (dt. Tatare) wendet sich die 33-jährige tatarische Dichterin und Übersetzerin an ihren Freund, der aus dem Gefängnis entlassen wird. Scheinbar unterwürfig erzählt sie ihm, dass sie sich mit niemand anderem eingelassen habe. Dabei besingt sie ihn als einen bösen Kriminellen, als einen „Tataren, der in Sachen Liebe autoritär ist“. Aigel wendet sich damit ironisch gegen Patriarchat, Familienehre, Schande und Rache – Werte, die sie der tatarischen Gesellschaft zuschreibt. 


Das cineastisch ambitionierte Video brachte Aigel über 46 Millionen Aufrufe und gewann bei den Berlin Music Video Awards 2018 den Hauptpreis in der Kategorie Best Editor. Den Protagonisten im Video spielt Goscha Bergal, der öffentlichkeitswirksam den Gopnik-Stil pflegt und unter anderem als Model für Balenciaga arbeitet.


Das Putin-Epigramm: Noize MC

Gesellschafts- und Kreml-kritisch war der Rapper Noize MC schon immer. Auf dem Höhepunkt der Protestwelle im Sommer 2019 brachte er aber das Lied Ljocha heraus: Kein anderer Song spiegelt die Stimmung der Straße treffender als der vom 1985 geborenen Iwan Alexejew. 

Darin rappt er über die brutale Vorgehensweise der Polizei und Justiz gegen die Demonstranten, bedient sich bei Ossip Mandelstam und zieht damit zumindest stilistisch Parallelen zum Großen Terror. So beschreibt Noize seinen Protagonisten Ljocha (Kumpelform von Alexej) mit ungewöhnlich vielen adjektivischen Kurzformen, genauso wie Mandelstam 1933 in seinem Stalin-Epigramm Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr. 


Wie viele sowjetischen Kinder träumte auch der kleine Ljocha davon, Kosmonaut zu werden. Wie in Science-Fiction Filmen wollte er Aliens verprügeln. Als Polizist drischt der erwachsene Ljocha auf Demonstranten ein. In diesen sieht der Gehirngewaschene Aliens – wohl in Anlehnung an die Propaganda, die Protestierende als ausländische Agenten darstellt. 
So stellt Noize MC in Ljocha die Spaltung der russischen Gesellschaft dar und greift dabei sowohl auf kollektive Identitäts- als auch auf Feindbilder aus der sowjetischen Vergangenheit zurück.


Sein Lied Wsjo kak u ljudej (dt. Alles wie bei normalen Menschen) ist ein raues und polemisches Porträt der Epoche Putin und gleichzeitig eine Hommage an Jegor Letow, Ikone der sowjetischen Perestroika-Musik. Veröffentlicht im September 2019, knüpft Noize thematisch an Ljocha an und bringt zunächst einen Originalton von Putin von 1996: „Allen scheint so [...], dass es uns allen besser gehen würde, wenn man mit der starken Hand eine strenge Ordnung einführen würde. [...] In Wirklichkeit [...] wird uns diese starke Hand aber bald erwürgen.“ 

Während des Originaltons ist das Bild Apotheose des Kriegs vom russischen Maler Wassili Wereschtschagin zu sehen. Vor abwechselnden Nachdrucken berühmter russischer Kunstklassiker rappt Noize unter anderem über einen Lego-Baukasten: Еnthalten sind ein Awtosak und drei Figuren – Noize MC kommentiert: „Einer gegen zwei Bullen, alles wie bei normalen Menschen.“ 

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Eine der Schlüsselsequenzen rappt Noize vor dem berühmten Bild Bogatyri (Die drei Recken) von Wiktor Wasnezow. Das Gemälde zeigt russische Identifikationsfiguren, die als furchtlose Krieger, Helden und Beschützer glorifiziert werden. Dazu bringt Noize eine Neuinterpretation von Letows Lied My – ljod (dt. Wir sind Eis). Letow singt darin über einen KGB-Major, der 1985 seinen Fall leitete und den oppositionellen Musiker schließlich in die Zwangspsychiatrie brachte: „Wir sind Eis unter Majors Füßen / Major wird ausrutschen und fallen“. Die Version von Noize kann man auf Putin beziehen, denn auch dieser war einst KGB-Major: „Das Eis unter Majors Füßen bricht leichter als eine Falafel-Kruste / Major hat keine Angst, Major wird nicht untergehen – Major sitzt für den Fall der Fälle im Tauchboot.“ 

„Islamisten und Nazis“: Shortparis

Ähnlich wie Letow bemüht auch die Band Shortparis die Eis-Metapher: In ihrem Lied Straschno (dt. Angst) geht der Major bangend über Eis, das ihn womöglich nicht halten kann.
 
Das 2012 gegründete Quintett um den Kunsthistoriker Nikolaj Komjagin macht Art-Punk und experimentiert mit Pop und Avantgarde. Die Band aus Sankt Petersburg brachte den Clip zu Straschno am 12. Dezember 2018 heraus – am Tag der Verfassung der Russischen Föderation. Das Video erscheint geradezu wie Konzeptkunst: Zunächst mimen die Bandmitglieder Skinheads, die in eine Schule eindringen und zum Sportsaal laufen, in dem zentralasiatische Gastarbajtery untergebracht sind. Entgegen der Erwartung eines Pogroms veranstalten sie dort aber eine queere Party, gemischt mit Folklore-Elementen aus Zentralasien. Das Video endet mit einer Sequenz, die man als Beerdigung der russischen Verfassung deuten kann.


Shortparis hinterfragen in dem Clip landläufige xenophobe Stereotype: So wird mit arabischen Karaoke-Untertiteln wohl Islamismus assoziiert, auch wenn dort nur die arabischen Worte für „Frieden“ und „Freundschaft“ geschrieben sind. Gleichzeitig spielen Shortparis auf die terroristischen Anschläge in Beslan an – ein schmerzhaftes Kapitel in der neuesten Geschichte des Landes. Auch Kritik an der Integrationspolitik lässt sich aus dem Video deuten, genauso wie Kritik an Homophobie. 
Sowohl die ethische als auch die ästhetische Aussage der Band rief unterschiedliche, zum Teil ambivalente Reaktionen hervor: So beschimpfte man die Band laut Komjagin sowohl als Islamisten als auch als Nazis.3

„Ich werde meine Musik singen“

Trotz heftiger Kritik, lokalen Konzertverboten und einer Atmosphäre der Einschüchterung singen seit 2018 immer mehr Musiker gegen die politische Ordnung an: So wie bei dem mittlerweile legendären Solidaritätskonzert Ich werde meine Musik singen, das die Rapper Oxxymiron, Noize MC und Basta als Antwort auf die zahlreichen Konzertverbote Ende 2018 veranstaltet hatten.

Solche Reaktionen hatte Putin wohl im Sinn, als er die oben erwähnte Frage stellte, mit welchen Maßnahmen „man sich an ihre Spitze stellen kann“. Durchschlagende Maßnahmen hat der Kreml bislang aber nicht ergriffen. 
Vielleicht war Putin auch bewusst, dass der Inlandsgeheimdienst schon einmal daran gescheitert ist, oppositionelle Musik in kontrollierbare Bahnen zu lenken: Mitte der 1980er Jahre, als Putin KGB-Major wurde und die Protestmusik der sowjetischen Ordnung sogar noch mehr zusetzte als etwa Solschenizyns Archipel Gulag.4 


bbc.com: Putin pro rėperov: „vozglavit' i napravit'“ - chorošo, „chvatat' i ne puščat'“ - plocho.
2 ridl.io: Monetočka: manifest metamodernizma.
3 meduza.io: „Nas nazyvali islamistami i nacistami odnovremenno“. Gruppa Shortparis zachvatyvaet školu: prem'era klipa „Strašno“.
4 sobaka.ru: 30 let perestrojke: glavnye simvoly vremeni.
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