Medien

Playlist: Best of 2019

Nach den zahlreichen Konzertverboten Ende 2018 sagte Wladimir Putin, dass diese kontraproduktiv seien, sie hätten „genau den gegenteiligen Effekt wie erwartet, so viel steht fest.“ Wenn man den Erfolg an den Klickzahlen festmacht, dann hat die gesellschafts- und kremlkritische Musik im Jahr 2019 in der Tat einen regelrechten Boom erlebt. Die Gegenkultur wurde damit ein Stück weit Mainstream.

Ist der Erfolg der Gattung auf die Verbote zurückzuführen? Oder sind etwa die üblichen Kommerzialisierungs-Mechanismen der Musikindustrie dafür verantwortlich? 

Während Soziologen und Musikkritiker über solche Fragen nachsinnen, hat die Colta-Redaktion traditionsgemäß die besten Alben des Jahres gekürt. Protestmusik darf hier natürlich nicht fehlen, in den Top-12 findet sich aber ein bunter Mix: von Rap mit Punchlines à la deine Mudda bis zum feingeistigen Jazz.

Quelle dekoder

1. Rap des Jahres 

Scriptonite
2004

Nach seinem kryptischen Doppelalbum Uroboros, in dem es darum geht, dass Ruhm und Erfolg eine schwere Bewährungsprobe sind, verkündete Adil Zhalelov, er wolle sich aus dem Rap zurückziehen, weil er damit nichts mehr zu sagen habe. Und tatsächlich widmete er sich zunächst völlig anderen Dingen – experimentierte in seiner Band Scriptonite mit lateinamerikanischen Vibes und produzierte Alben von Künstlern seines eigenen Labels Musica36. Umso mehr schlägt 2004 ein, das kurz vor Jahresende erschien. Der Form nach ist es ein typisches Rap-Album wie zu Beginn der 2000er Jahre: mit Selbstdarstellungen, Skits, Interludes und sogar versteckten Angriffen auf die Kollegen der eigenen Zunft. Um es richtig zu würdigen, muss man die von Scriptonite im Sprachmix der wilden Vorstädte geschriebenen sarkastischen Texte Zeile für Zeile auseinandernehmen – dann erweist sich diese Zusammenstellung makellos klingender, betörend grooviger Rap-Hits als eine Sammlung von Geboten für die Gerechten.

2. Antiutopie des Jahres

Delfin
Krai

Das Album Krai (dt. Rand) lässt sich auf unterschiedliche Weise interpretieren, ebenso wie sein mehrdeutiger Titel und das enigmatische Cover. Am leichtesten erkennt man darin die Reaktion des Bürgers und Dichters Andrey Lysikov auf die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse des vergangenen Jahres bis hin zum Moskowskoje Delo. Delfin zufolge sind die Lieder jedoch schon lange vor den besagten Ereignissen entstanden, außerdem entspräche es nicht seiner Art, Lieder über das aktuelle Zeitgeschehen zu schreiben. Allem Anschein nach haben wir es mit einem Beispiel künstlerischer Vorahnung zu tun, und wenn die Realität weiterhin das in Krai beschriebene Szenario abbildet, haben wir 2020 nichts Gutes zu erwarten – es ist ein böses und verzweifeltes Album: Eine Antiutopie, in der junge, ungestüme Herzen zu Kanonenfutter werden. Allerdings verbirgt sich in Krai auch die Antwort auf die Frage, wie man in dieser Hölle überleben kann.

3. Non-standard Jazz des Jahres

Makar Novikov & Hiske Oosterwijk
Stereobass

Das Sankt Petersburger Jazzlabel Rainy Days, 2018 vom Schlagzeuger Sascha Maschin gegründet, nahm 2019 so richtig Fahrt auf und brachte eine Reihe von Alben heraus, die von den renommiertesten Kennern auf diesem Gebiet hoch gelobt wurden. Stereobass, eingespielt von den KontrabassistInnen Makar Novikov und Daria Chernakova und der holländischen Sängerin Hiske Oosterwijk gehört zu jenen Alben, die auch für Menschen, die nicht jeder Entwicklung des Genres folgen, verständlich und interessant sind. Denn es handelt sich um eine seiner traditionellsten Spielarten – den Vocal Jazz, allerdings in modernster Form. Makar Novikov hat die markanten Melodien der Lieder von Hiske Oosterwijk über ein raffiniert konstruiertes rhythmisches Gerüst gespannt, das über zwei Stereokanäle erklingt (ein Kontrabass ertönt von links, der andere von rechts). Daneben verleihen die filigranen Soli des Pianisten Alex Iwannikow und die explosiven Beats von Sascha Maschin den Liedern eine feine Dramaturgie. Stereobass ist Vocal Jazz, wie man ihn sich für das 21. Jahrhundert wünscht.

4. Comeback des Jahres

Alyans
Chotschu letat (dt. Ich will fliegen)

Dieses Album der Moskauer Neo-Romantik-Pioniere Alyans hätte bereits Anfang der 2000er Jahre erscheinen sollen. Durch die jahrelange Reifezeit ist es wertvoller und interessanter geworden. Für diejenigen, die mit der Geschichte der Band vertraut sind, ist Chotschu letat (dt. Ich will fliegen) ein epochales Ereignis: Denn es handelt sich um die Reunion des Bandleaders von Alyans Igor Shurawljow mit dem Keyboarder Oleg Parastajew, dem Autor des größten Hits der Band Na sare (dt. Im Morgenrot) – nur dass diese ein paar Jahrzehnte länger als vermutet auf sich warten ließ. Ein zweites Morgenrot sucht man hier vergebens, aber es finden sich einige erstklassige Lieder wie der Titelsong, in dem wie in einer Zeitkapsel das Bittersüße der Romantik von Alyans bewahrt ist – der leidenschaftliche Wunsch zu Fliegen, gesteigert durch die Gewissheit, dass der Flug unweigerlich mit einem Fall enden wird.

5. Debüt des Jahres

Maslo tschornogo tmina
Kensshi

Maslo tschornogo tmina (dt. Schwarzkümmelöl) folgt der Linie des kasachischen Rap. Das Projekt des in Karaganda lebenden Aidyn Sakarija hat tatsächlich eine Hip-Hop-Genealogie und einen Sound, der an einige Scriptonite-Tracks erinnert. Doch das ist nur der Ausgangspunkt, und aus Kensshi wird deutlich, dass Sakaria einen anderen Weg einschlägt – irgendwo Richtung britischer Trip-Hop zwischen Portishead und King Krule: verdichtete Melancholie, langsame ausgedünnte Beats, ein somnambuler Bass, bittere Reime, suggestive Bilder, Jazz-Samples und das Rascheln der Nadel auf der Vinyl-Schallplatte. Mit seinen effektvollen Sound- und Textleerstellen ähnelt Kensshi der faszinierenden Skizze eines großartigen Albums, das noch folgen wird. Und was will man mehr von einem Debüt?

6. Widerspruch des Jahres

Shortparis
Tak sakaljalas stal (dt. So wurde der Stahl gehärtet)

Der Titel dieses Albums lässt sich durchaus auch auf die Geschichte von Shortparis selbst übertragen – es scheint, dass keine andere aktive russische Band so polarisiert und so heftige Diskussionen hervorruft, was die Methoden angeht. Nur wenige können von sich behaupten, gleichzeitig als größter Hoffnungsträger und absolute Luftnummer unserer Zeit bezeichnet zu werden. Doch für Shortparis ist es normal, den einen wie den anderen Ruf gleichzeitig für sich zu beanspruchen. Im Prinzip ist die Arbeit mit schärfsten Widersprüchen eine der wichtigsten Fähigkeiten von Shortparis: Kaum einer kann so geschickt Folk und Industrial, Straßenjargon und ästhetisches Drama, zutiefst persönliche und verallgemeinerte soziale Aspekte miteinander verbinden, ohne dabei direkte Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu geben.

7. Gipfelglück des Jahres

AIGEL 
Edem (dt. Eden)

Aigel Gaissina kehrt nach Hause zurück und findet dort Inspiration für AIGELs eindringlichstes und emotional aufgeladenstes Album. Auf Musyka (dt. Musik), dem zweiten Album, hatte das Duo Aigel Gaissina und Ilja Baramija sich an vielen verschiedenen Themen gleichzeitig versucht und ein wenig die generelle Richtung aus den Augen verloren. Edem korrigiert den Kurs selbstbewusst: Es ist ein Album über Wurzeln und Verästelungen, darüber, wo man anfängt und wie man etwas fortschreibt, wenn man unweigerlicher Teil davon ist. Diese für jeden Menschen äußerst wichtigen Themen treiben AIGEL an. Wie ein persönliches Gipfelglück des Dichters und der Sängerin entpuppt sich Edem sowohl stimmlich als auch textlich als ein absolutes Feuerwerk.

8. Therapie des Jahres

Kira Lao
Trewoshny opyt (dt. Beunruhigende Erfahrung)

In den vier Jahren, die zwischen Trewoshny opyt und dem vorangehenden Album Woda (dt. Wasser) von Kira Lao liegen, hat sich für Kira Wainstein vieles verändert: darunter zum Beispiel der Wechsel vom Status einer Band-Sängerin zu einer Solokünstlerin. Trewoshny opyt ist zugleich ein Tagebuch dieser schwierigen Zeit und der Versuch, das Blatt zu wenden und alle Schwere von Innen nach Außen zu kehren. Das Kunststück der Erfahrung liegt darin, dass Kira für Unruhe und Chaos, für Zweifel und Ängste nicht nur Worte, sondern auch eine musikalische Sprache findet. Das Ergebnis ist  eine Session in experimenteller Klangtherapie, in der sich, denke ich, jeder erwachsene Hörer wiederfindet. Das Experiment funktioniert also nicht nur für die Künstlerin selbst, sondern für uns alle.

9. Retro des Jahres

Inturist (dt. Ausländischer Tourist)
Ekonomika (dt. Ökonomie)

Das zweite Album der Art-Jazz-Post-Punk-Formation von Jewgeni Gorbunow zeugt von unbeirrter und sinnvoller Arbeit an sich selbst. Ekonomika poliert den absurden Retrosound des ersten Albums Komandirowka (dt. Geschäftsreise) wunderbar auf und verbannt gleichzeitig kompromisslos die ihm innewohnenden Längen und Unschärfen. Im endlosen Netz der lärmenden Instrumentalimprovisationen muss der Inturist sich nicht mehr zurechtfinden – auf dem Album Ekonomika weiß die Band genau, was sie zu tun hat, und fliegt als leuchtender Pfeil in die richtige Richtung.

10. Hilferuf des Jahres

Foresteppe
Karaul

Noch eine Chronik einer beunruhigenden Erfahrung: Jegor Klotschichin hat Wehrdienst bei den Raketentruppen geleistet und unter dem Eindruck dieser Phase seines Lebens ein Album aufgenommen. Es verwundert nicht, dass Klotschichins selbstgemachter pastoraler Ambient-Sound auf dieser Platte düsterer und angespannter, unruhiger und scharfkantiger daherkommt. Es ist anzunehmen, dass sich in diesem Jahr viele Menschen ungefähr so gefühlt haben, deren persönliche Utopie durch die Ereignisse in den Fenstern ihrer Browser als auch beim Blick aus dem echten Fenster neue, beunruhigende Schattierungen annahm.

11. Dancefloor des Jahres

Samoe Bolshoe Prostoe Chislo (dt. Die größte Primzahl)
Nawernoje, totschno (dt. Wahrscheinlich, genau)

In den letzten gut zehn Jahren hat sich die Band von Kirill Iwanow bis zur Unkenntlichkeit verändert und ihre Musik immer wieder neu erfunden. Das Album Nawernoje, totschno gehört in die letzte Etappe dieser endlosen Transformation: Ein Gründungsmitglied, Ilja Baramija, hat die Band endgültig verlassen, um sich auf das Duo AIGEL zu konzentrieren. Dafür ist die Sängerin Jewgenija Borsych der Band beigetreten und hat die zweite, manchmal auch die Lead-Stimme übernommen. Der Idee nach macht SBPC das Gleiche wie auf den beiden vorherigen Alben: Lieder für junge tanzwütige Beine, die den besten Beispielen grooviger Musik folgen – von Old-School-Hip-Hop bis Afrobeat – aber auch für erwachsene Köpfe und Herzen: Die Texte von Kirill Iwanow sind es wie immer wert, in Aphorismen zerlegt zu werden, die unsere Wirklichkeit im Hier und Jetzt beschreiben.

12. Kooperation des Jahres

Sojus
II

Die Minsker Gruppe Sojus hat den Ruf eines Ensembles, das Musik für Musiker macht. In der Tat hört das geschulte Ohr in den makellos gespielten Stücken zahlreiche musikalische Referenzen – vom brasilianischen Samba bis zum äthiopischen Jazz; dazu geschickt, subtil, und auf einzigartige Art und Weise miteinander verwoben. Es ist sicher kein Zufall, dass Sojus auf seinem zweiten Album bei zwei Songs von den Moskauer Bands Pasosch und Inturist unterstützt wird, die einen völlig anderen kreativen Ansatz verfolgen. Man kann nur hoffen, dass es in Zukunft noch mehr solcher Kooperationen geben wird.

 


Original: Colta
Übersetzung: Henriette Reisner
Veröffentlicht am 07.01.2020

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Gnose

Russische Rockmusik

Das „Yeah, yeah, yeah“ ertönte als Ruf einer Generation, der auch auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs zu hören war. Als Gegenentwurf zur offiziellen sowjetischen Musikkultur eröffnete die russische Rockmusik eine emotionale Gegenwelt, die systemverändernd wirkte und den Soundtrack einer neuen Zeit bildete.

Gnosen
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Protestmusik

Zwei Vampire vor der Kulisse verschiedener Objekte der Staatsmacht in Moskau: Vor dem Weißen Haus übergießt sich die Protagonistin mit Kerosin, sie singt „Alles soll brennen!“. Auf eine Szene, in der die Vampire vor dem Lenin-Mausoleum rohes Fleisch verzehren, folgt ein Klatschspiel – auf Schultern von OMON-Mitarbeitern in voller Montur, vor der FSB-Zentrale Lubjanka mitten in Moskau. Szenen in der WDNCh wechseln mit Szenen, in denen die Protagonistin in einem Sarg vor der Basilius-Kathedrale liegt, schließlich trinken beide Vampire Blut aus Gläsern am Ufer der Moskwa. In der letzten Einstellung ertrinken beide im Fluss.  


Der Clip der Band IC3PEAK verstört und provoziert auf mehreren Ebenen und entwickelt eine enorm subversive Wirkung. Die Vampire lassen sich als das Staats- und Regierungsduo deuten. IC3PEAK-Sängerin Nastja Kreslina singt unter anderem über Verfolgungen aus politischen Gründen, über unkontrollierte Polizeigewalt, Korruption und Einmischung der Kirche in Staatsangelegenheiten. Das Lied Smerti bolsche net (dt. Es gibt keinen Tod mehr) wurde von zahlreichen Fans als „Hymne der Opposition“ und „wahre Äußerung über Russland“ bezeichnet – und ist dabei nur eines von vielen Beispielen für zunehmend kritische Töne in der zeitgenössischen russischen Musikszene. Eine Entwicklung, auf die die Machthaber oft widersprüchlich reagieren, und die auch Konzertverbote Ende 2018 nicht aufhalten konnten. 

 

 

Im November 2018 haben russische Behörden zahlreiche Konzerte von Kreml-kritischen Rapmusikern und anderen Bands verboten oder abgebrochen. Unabhängige Medien verglichen die Situation zunächst mit dem Kampf der sowjetischen Machthaber gegen „ideologisch untragbare“ Musik und fragten, ob der Kreml die Verbote angeordnet habe. Später verdichteten sich allerdings die Hinweise darauf, dass die Konzertabbrüche eher dem vorauseilenden Gehorsam lokaler Behörden geschuldet waren. 


Dennoch suchen die Machthaber nach der richtigen Strategie im Umgang mit der sichtbar zunehmenden Gegenkultur. So schlug der Chef des Auslandsnachrichtendienstes SWR Sergej Naryschkin vor, Rapper staatlich zu fördern. Und Wladimir Putin sagte im Dezember 2018: „Wie kann man sich an ihre Spitze stellen und sie mit passenden Mitteln in die richtige Richtung lenken – das ist das Wichtigste, weil die Methode – sie packen und nicht loslassen –, die ineffektivste und schlechteste ist, die man sich ausdenken kann. Es würde genau den gegenteiligen Effekt haben als erwartet, so viel steht fest.“1 


Auch der prominente Moderator Dimitri Kisseljow griff das Thema im Dezember 2018 in seiner Sendung im staatlichen Ersten Kanal auf und bot mit seinem Majakowski-Rap einen Gegenentwurf zur Gegenkultur. 


Dabei ist nicht klar, was die aktuelle musikalische Gegenkultur konkret ausmacht: Wie die meisten sozialen Bewegungen ist auch die musikalische Protestbewegung in Russland äußerst diffus und heterogen. Kaum einer der Künstler schreibt sich die Revolution auf die Fahne; als Gegenkultur oder ein kollektiver Akteur lassen sie sich lediglich anhand ihrer Gesellschaftskritik begreifen und wegen ihrer Kritik an der politischen Ordnung des Landes: Sie prangern etwa Verstöße gegen Grundrechte, politische Verfolgungen, fehlende Rechtsstaatlichkeit, Korruption und Konservatismus an.
Die Kritik daran bedient sich völlig unterschiedlicher Musikstile und Methoden. So erreichen die Musiker auch unterschiedliche Zielgruppen. Gemeinsam ist ihnen aber etwas anderes: Gemessen in YouTube-Klickzahlen hören Hunderttausende, zum Teil Millionen von Menschen ihre Musik. Und die Tendenz ist seit den Konzertverboten eindeutig steigend.
Gemeinsam ist den Musikern der Gegenkultur außerdem, dass sie die politische Ordnung deutlich subtiler kritisieren als beispielsweise offen oppositionelle Gruppen wie etwa die Feministinnen-Band Pussy Riot. Und doch gibt es Abstufungen: von der deutlichen Metaphorik IC3PEAKs hin zu den eher sanften, ironischen Tönen Monetotschkas.

Neue Sensibilität: Monetotschka

Monetotschka, mit bürgerlichem Namen Elisaweta Gyrdymowa, komponiert ihre Songs in einem meditativen Elektro und Indie-Pop Stil. Die 21-jährige steht gewissermaßen für eine Generation, die in russischen Großstädten unter Putin aufgewachsen ist. 

In ihren Liedern formuliert Monetotschka ein politisches und ästhetisches Programm, das man als neue Sensibilität bezeichnen kann. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich bei ernsthaften politischen Äußerungen einer strategisch naiven Form bedient. Die Texte oszillieren permanent zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie, verbinden Sentimentalität und kritische Reflexion, die an Zynismus grenzt. Die schwedische Forscherin Maria Engström merkte dazu an, dass die neue Ästhetik, die Monetotschka präsentiert, sich nicht nur durch die politische Neutralität oder Apathie kennzeichne, sondern auch durch bewusste Vermeidung einer engagierten politischen Aussage. Die Sängerin distanziere sich von der revolutionären Grenzüberschreitung des Erlaubten, die für die frühere Protestkultur typisch war.2 

Vor dem Hintergrund der Protestwelle im Sommer 2019 brachte Monetotschka Gori gori gori (dt. Brenne brenne brenne) heraus. Mit der Feuersymbolik knüpft die Sängerin an IC3PEAKs Smerti bolsche net an; zusammengenommen lassen sich die beiden Texte als eine Art Metatext lesen, der eine Anatomie der jüngsten Protestwelle darstellt.
Monetotschka kritisiert in dem Lied sowohl die totale Staatskontrolle als auch die aktuelle wirtschaftliche Situation im Land. Sie würdigt die oppositionelle Hip-Hop Szene, die sich aktiv bei den Protesten beteiligt und ironisiert die eilig organisierten Gegenveranstaltungen, mit denen der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin Menschen von den Protesten abhalten wollte.


Familienehre und autoritäre Liebe: Aigel

Wenn Monetotschka in diesem Lied darüber singt, dass „der Rap der Hauptstadt-Szene schwärzer“ werde, dann meint sie wahrscheinlich den Übergang der Musikrichtung von der Massen- in die Gegenkultur: „Schwärzer“ wird der russische Rap, weil er sich back to the roots bewegt, zu seinen Wurzeln im Underground der afroamerikanischen Ghettos der USA. 

Auch Aigel (Aigel Gajsina) ist eine Protagonistin dieser Entwicklung. In ihrem 2017 erschienenen Clip Tatarin (dt. Tatare) wendet sich die 33-jährige tatarische Dichterin und Übersetzerin an ihren Freund, der aus dem Gefängnis entlassen wird. Scheinbar unterwürfig erzählt sie ihm, dass sie sich mit niemand anderem eingelassen habe. Dabei besingt sie ihn als einen bösen Kriminellen, als einen „Tataren, der in Sachen Liebe autoritär ist“. Aigel wendet sich damit ironisch gegen Patriarchat, Familienehre, Schande und Rache – Werte, die sie der tatarischen Gesellschaft zuschreibt. 


Das cineastisch ambitionierte Video brachte Aigel über 46 Millionen Aufrufe und gewann bei den Berlin Music Video Awards 2018 den Hauptpreis in der Kategorie Best Editor. Den Protagonisten im Video spielt Goscha Bergal, der öffentlichkeitswirksam den Gopnik-Stil pflegt und unter anderem als Model für Balenciaga arbeitet.


Das Putin-Epigramm: Noize MC

Gesellschafts- und Kreml-kritisch war der Rapper Noize MC schon immer. Auf dem Höhepunkt der Protestwelle im Sommer 2019 brachte er aber das Lied Ljocha heraus: Kein anderer Song spiegelt die Stimmung der Straße treffender als der vom 1985 geborenen Iwan Alexejew. 

Darin rappt er über die brutale Vorgehensweise der Polizei und Justiz gegen die Demonstranten, bedient sich bei Ossip Mandelstam und zieht damit zumindest stilistisch Parallelen zum Großen Terror. So beschreibt Noize seinen Protagonisten Ljocha (Kumpelform von Alexej) mit ungewöhnlich vielen adjektivischen Kurzformen, genauso wie Mandelstam 1933 in seinem Stalin-Epigramm Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr. 


Wie viele sowjetischen Kinder träumte auch der kleine Ljocha davon, Kosmonaut zu werden. Wie in Science-Fiction Filmen wollte er Aliens verprügeln. Als Polizist drischt der erwachsene Ljocha auf Demonstranten ein. In diesen sieht der Gehirngewaschene Aliens – wohl in Anlehnung an die Propaganda, die Protestierende als ausländische Agenten darstellt. 
So stellt Noize MC in Ljocha die Spaltung der russischen Gesellschaft dar und greift dabei sowohl auf kollektive Identitäts- als auch auf Feindbilder aus der sowjetischen Vergangenheit zurück.


Sein Lied Wsjo kak u ljudej (dt. Alles wie bei normalen Menschen) ist ein raues und polemisches Porträt der Epoche Putin und gleichzeitig eine Hommage an Jegor Letow, Ikone der sowjetischen Perestroika-Musik. Veröffentlicht im September 2019, knüpft Noize thematisch an Ljocha an und bringt zunächst einen Originalton von Putin von 1996: „Allen scheint so [...], dass es uns allen besser gehen würde, wenn man mit der starken Hand eine strenge Ordnung einführen würde. [...] In Wirklichkeit [...] wird uns diese starke Hand aber bald erwürgen.“ 

Während des Originaltons ist das Bild Apotheose des Kriegs vom russischen Maler Wassili Wereschtschagin zu sehen. Vor abwechselnden Nachdrucken berühmter russischer Kunstklassiker rappt Noize unter anderem über einen Lego-Baukasten: Еnthalten sind ein Awtosak und drei Figuren – Noize MC kommentiert: „Einer gegen zwei Bullen, alles wie bei normalen Menschen.“ 

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Eine der Schlüsselsequenzen rappt Noize vor dem berühmten Bild Bogatyri (Die drei Recken) von Wiktor Wasnezow. Das Gemälde zeigt russische Identifikationsfiguren, die als furchtlose Krieger, Helden und Beschützer glorifiziert werden. Dazu bringt Noize eine Neuinterpretation von Letows Lied My – ljod (dt. Wir sind Eis). Letow singt darin über einen KGB-Major, der 1985 seinen Fall leitete und den oppositionellen Musiker schließlich in die Zwangspsychiatrie brachte: „Wir sind Eis unter Majors Füßen / Major wird ausrutschen und fallen“. Die Version von Noize kann man auf Putin beziehen, denn auch dieser war einst KGB-Major: „Das Eis unter Majors Füßen bricht leichter als eine Falafel-Kruste / Major hat keine Angst, Major wird nicht untergehen – Major sitzt für den Fall der Fälle im Tauchboot.“ 

„Islamisten und Nazis“: Shortparis

Ähnlich wie Letow bemüht auch die Band Shortparis die Eis-Metapher: In ihrem Lied Straschno (dt. Angst) geht der Major bangend über Eis, das ihn womöglich nicht halten kann.
 
Das 2012 gegründete Quintett um den Kunsthistoriker Nikolaj Komjagin macht Art-Punk und experimentiert mit Pop und Avantgarde. Die Band aus Sankt Petersburg brachte den Clip zu Straschno am 12. Dezember 2018 heraus – am Tag der Verfassung der Russischen Föderation. Das Video erscheint geradezu wie Konzeptkunst: Zunächst mimen die Bandmitglieder Skinheads, die in eine Schule eindringen und zum Sportsaal laufen, in dem zentralasiatische Gastarbajtery untergebracht sind. Entgegen der Erwartung eines Pogroms veranstalten sie dort aber eine queere Party, gemischt mit Folklore-Elementen aus Zentralasien. Das Video endet mit einer Sequenz, die man als Beerdigung der russischen Verfassung deuten kann.


Shortparis hinterfragen in dem Clip landläufige xenophobe Stereotype: So wird mit arabischen Karaoke-Untertiteln wohl Islamismus assoziiert, auch wenn dort nur die arabischen Worte für „Frieden“ und „Freundschaft“ geschrieben sind. Gleichzeitig spielen Shortparis auf die terroristischen Anschläge in Beslan an – ein schmerzhaftes Kapitel in der neuesten Geschichte des Landes. Auch Kritik an der Integrationspolitik lässt sich aus dem Video deuten, genauso wie Kritik an Homophobie. 
Sowohl die ethische als auch die ästhetische Aussage der Band rief unterschiedliche, zum Teil ambivalente Reaktionen hervor: So beschimpfte man die Band laut Komjagin sowohl als Islamisten als auch als Nazis.3

„Ich werde meine Musik singen“

Trotz heftiger Kritik, lokalen Konzertverboten und einer Atmosphäre der Einschüchterung singen seit 2018 immer mehr Musiker gegen die politische Ordnung an: So wie bei dem mittlerweile legendären Solidaritätskonzert Ich werde meine Musik singen, das die Rapper Oxxymiron, Noize MC und Basta als Antwort auf die zahlreichen Konzertverbote Ende 2018 veranstaltet hatten.

Solche Reaktionen hatte Putin wohl im Sinn, als er die oben erwähnte Frage stellte, mit welchen Maßnahmen „man sich an ihre Spitze stellen kann“. Durchschlagende Maßnahmen hat der Kreml bislang aber nicht ergriffen. 
Vielleicht war Putin auch bewusst, dass der Inlandsgeheimdienst schon einmal daran gescheitert ist, oppositionelle Musik in kontrollierbare Bahnen zu lenken: Mitte der 1980er Jahre, als Putin KGB-Major wurde und die Protestmusik der sowjetischen Ordnung sogar noch mehr zusetzte als etwa Solschenizyns Archipel Gulag.4 


bbc.com: Putin pro rėperov: „vozglavit' i napravit'“ - chorošo, „chvatat' i ne puščat'“ - plocho.
2 ridl.io: Monetočka: manifest metamodernizma.
3 meduza.io: „Nas nazyvali islamistami i nacistami odnovremenno“. Gruppa Shortparis zachvatyvaet školu: prem'era klipa „Strašno“.
4 sobaka.ru: 30 let perestrojke: glavnye simvoly vremeni.
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Rock war in der Sowjetunion verfemt. Olga Caspers erzählt, wie die „ideologisch untragbare“ Musik den Lebensstil der Gegenkultur in die Massenkultur transportierte – und damit zu einem Motor der Perestroika wurde. 

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