Seit dem 9. August 2020 protestieren die Belarussen gegen Machthaber Alexander Lukaschenko. Sie fordern die Durchsetzung ihrer Grundrechte und Neuwahlen. Was war der Auslöser für die historischen Proteste? Warum hat die autokratische Staatsführung derart Vertrauen in der Gesellschaft eingebüßt? Wie gespalten ist das Land? Welche Rolle spielen Russland und die EU für die Haltung der Belarussen?
Félix Krawatzek ist diesen Fragen zusammen mit anderen Wissenschaftlern in einer Studie für das Zentrum für Osteuropa und internationale Studien (ZOiS) auf den Grund gegangen. Im Bystro liefert er Antworten auf sieben wichtige Fragen.
1. Man sagt, dass der Wahlbetrug bei der Präsidentschaftswahl ein wesentlicher Antreiber für die Proteste war. Bestärkt die Umfrage diesen Eindruck?
Der eklatante Wahlbetrug war der unmittelbar entscheidendste Faktor für die Massenproteste. Aber bereits im Vorfeld der Wahl fand eine breite gesellschaftliche Mobilisierung statt, die sich quer durch die Altersgruppen und Regionen des Landes zog. Diese Unterstützung – beispielsweise in Form von solidarischen „Menschenketten“ – galt insbesondere den unabhängigen potentiellen Präsidentschaftskandidaten: Viktor Babariko und Waleri Zepkalo. Beide galten als aussichtsreiche Kandidaten, wurden aber von der Wahlkommission Mitte Juli nicht zur Wahl zugelassen. Nach dieser massiv kritisierten Entscheidung wandelten sich die kleineren Märsche und Versammlungen zu Massenveranstaltungen für die einzige unabhängige Kandidatin, Swetlana Tichanowskaja, und ihre beiden Unterstützerinnen: Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa.
Die Umfrage verdeutlicht zudem die Wichtigkeit der exzessiven Polizeigewalt für die Teilnahme an den Protesten. Menschen gingen verstärkt auf die Straße, weil sie von der Gewalt schockiert waren. In unserer Umfrage geben annähernd 80 Prozent der Protestierenden dies als Grund an.2. Wie geschlossen stehen die Belarussen hinter den Protesten, und wie hoch ist der Anteil derjenigen, die nach wie vor die Machthaber unterstützen?
Die Einschätzung der Proteste ist vielfältig. Die Umfrage verdeutlicht jedoch, dass es die Protestbewegung nicht geschafft hat, die breite gesellschaftliche Frustration über das Regime hinter sich zu vereinen. 29 Prozent der von uns befragten Belarussen geben zwar an, dass sie vollständig mit den Protesten übereinstimmen. 20 Prozent sagen aber auch, dass sie dies überhaupt nicht tun. Weitere 19 Prozent sind unschlüssig und geben an, dass sie nicht wissen, wie sie auf diese Frage antworten sollen. Einigkeit gibt es hingegen darüber, dass die Proteste weiterhin gewaltfrei bleiben sollen.
Das Vertrauen in die Institutionen, nicht nur in den Präsidenten, war Ende 2020 ausgesprochen gering. Etwas mehr als 40 Prozent der von uns befragten Menschen haben gar kein Vertrauen, weitere 15 Prozent eher kein Vertrauen in den Präsidenten und 18 Prozent beantworten diese Frage nicht. Diese Zahlen sehen für andere staatliche Institutionen recht ähnlich aus. Man kann davon ausgehen, dass knapp 30 Prozent der Bevölkerung den Machthaber weiter unterstützen.3. Lukaschenko genoss bei einer Mehrheit der Bevölkerung über viele Jahre großes Vertrauen. Warum war das so?
Der Rückhalt für den Präsidenten lässt sich aufgrund der unklaren Datenlage eigentlich nicht verlässlich ermitteln. Die ritualisierten Wahlsiege mit 80 Prozent bilden die öffentliche Meinung nicht ab. Aber auch die tatsächliche Beliebtheit der Oppositionskandidaten der vergangenen Jahrzehnte ist unklar. Größere Proteste folgten bereits auf frühere Präsidentschaftswahlen (2001, 2006 und insbesondere 2010) und sind ein Indiz dafür, dass die Unterstützung für den Staatsapparat seit einiger Zeit auf tönernen Füßen stand.
Durch eine Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche versuchte man, den Rückhalt für den Präsidenten sicherzustellen. Und das Regime hat eine gewisse Weitsicht im Umgang mit potentiellen Herausforderungen unter Beweis gestellt – früher als in Russland schikanierte Belarus unabhängige NGOs oder versuchte, jugendlichem Missmut durch eine loyale Jugendorganisation den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Darüber hinaus gab es keine glaubhafte und öffentlich wahrnehmbare politische Opposition – es fehlt an unabhängigen Parteien und bis 2020 auch an charismatischen Gegenkandidaten, die die weitgefächerte Frustration mit dem Präsidenten hinter sich vereinen konnten. Stattdessen konnte Lukaschenko vermeintliche Erfolge im wirtschaftlichen und sozialen Bereich auf seinem Konto verbuchen und mit einer Rhetorik der Stabilität und Warnungen vor Chaos Teile des Landes hinter sich vereinen.4. Was hat dazu geführt, dass die Belarussen ihr Vertrauen in die Staatsführung verloren und sich letztlich von den staatlichen Institutionen entfremdet haben?
Ein ganz wichtiger Katalysator, ein externer Schock für das System, war die gravierende Auswirkung der Covid-19-Pandemie und der gesellschaftliche Missmut, wie mit dieser umgegangen wurde. Eine von uns im Juni 2020 durchgeführte Umfrage hat ergeben, dass knapp die Hälfte der jungen Menschen die offizielle Politik der Regierung, keinerlei Einschränkungen als Antwort auf die Pandemie einzuführen, ablehnten. Menschen verloren also bereits vor der Wahl massiv an Vertrauen in die Staatsmacht. Der Umgang mit Covid-19 verdeutlichte einem breiten Teil der Bevölkerung, dass sich der belarussische Gesellschaftsvertrag auflöste.
Darüber hinaus ist die Situation 2020 besonders, da die Menschen in den Selbstorganisationsprojekten im Zuge der Pandemie bereits die gemeinsame Erfahrung der Mobilisierung machten und so vor der Wahl ein Gefühl dafür hatten, wie weit verbreitet der Missmut über den Amtsinhaber war. Bei früheren Wahlen dagegen konnten die Menschen durch die annähernd perfekte Kontrolle der Medien kaum einschätzen, wie die tatsächliche Stimmungslage war. Auch mit der rapiden Verbreitung der sozialen Medien hatte man 2020 jedoch ein anderes Gefühl für die gesellschaftliche Stimmung. Das erste vom Staat verkündete Ergebnis am 9. August 2020 stand dann in einem massiven Missverhältnis zu den eigenen Erwartungen. In unserer Umfrage geben 65 Prozent an, dass die Wahl ihrer Meinung nach gefälscht war.5. Lässt sich etwas über eine Veränderung von gesellschaftlichen Werten im Zuge der Proteste sagen?
Im Augenblick lässt sich beispielsweise feststellen, dass es ein neues Selbstbewusstsein dafür gibt, dass man eine belarussische Nation ist: Es hat sich eine Art gesellschaftliches „wir“ entwickelt. Durch die Proteste wurde dieses Gefühl sicherlich bestärkt; was sich besonders in dem symbolischen Kampf um die weiß-rot-weiße Fahne zeigt. Protestierende begreifen die Farben als Ausdruck belarussischer Identität, wohingegen der Amtsinhaber sie aus der Öffentlichkeit verbannen möchte und als faschistisches Symbol der Kollaboration diffamiert.
Darüber hinaus sind Menschen, die an Protesten teilgenommen haben, eher pro-demokratisch eingestellt und haben eine Präferenz für marktwirtschaftliche Ideen, also wie beispielsweise Wettbewerb oder wirtschaftliche Chancengleichheit.
Von einem Wandel durch Proteste zu sprechen wäre jedoch verfrüht. Zudem bleibt es fraglich, wohin sich das gegenwärtige Momentum entwickelt. Die traumatisierende Erfahrung von Gewalt kann auch dazu führen, dass sich 2020 als Warnsignal in den Köpfen der Menschen verankert, was dann eher ein Hindernis für eine zukünftige Mobilisierung darstellt.6. Es heißt ja immer, der Protest sei nicht geopolitisch ausgerichtet. Welche Rolle aber spielen die EU und Russland in der Haltung der Belarussen?
Insbesondere junge Menschen wenden sich von Russland ab und Europa zu. Unsere Umfragen zeigen, dass in der Altersgruppe der 18–34-Jährigen mehr als die Hälfte der Meinung ist, dass engere Beziehungen mit der EU erstrebenswert sind, selbst wenn dadurch Beziehungen zu Russland leiden würden. In der allgemeinen Bevölkerung sind knapp 40 Prozent dieser Meinung. Protestteilnehmer sind besonders pro-europäisch eingestellt. Ein knappes Viertel der von uns Befragten hofft, dass die EU in Zukunft die Visavorschriften erleichtert.
Gleichzeitig ist klar, dass die engen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verbindungen zwischen Belarus und Russland fortbestehen bleiben sollen. Russisch ist die den öffentlichen und privaten Alltag dominierende Sprache, selbst wenn knapp 28 Prozent der Befragten angeben, dass sie gerne mehr Belarussisch sprechen würden. Darüber hinaus findet die Idee eines russisch-belarussischen Einheitsstaates kaum Unterstützung in der allgemeinen Bevölkerung – bei uns befürworten dies nur knapp sieben Prozent der Befragten.7. Mit welchen Herausforderungen hat man zu kämpfen, wenn man eine Umfrage in einem autoritären Land und dazu unter schwierigen politischen Bedingungen durchführt?
Bei einer solchen Umfrage gibt es praktische und inhaltliche Herausforderungen.
Rein praktische Schwierigkeiten wurden durch Covid-19 verstärkt, denn mit der Pandemie ist es unmöglich geworden, persönliche (face-to-face) Umfragen durchzuführen. In Belarus kommt noch hinzu, dass Telefonate systematisch abgehört werden. Mit Telefonumfragen würde man die Teilnehmer also gefährden. In Folge der zunehmenden Repressionen seit Dezember 2020 bleiben online-Umfragen die einzige Möglichkeit, um an Daten zu gelangen. Diese haben den Vorteil, dass sie die Anonymität der Befragten schützen und somit auch kritische Fragen ermöglichen.
Rein praktisch ist das größte Problem, dass man wenig Vergleichswerte und somit Orientierung für eigene Fragen hat. Darüber hinaus ist die Formulierung der Fragen in autoritären Kontexten kniffelig. Eigene Ideen können nicht direkt in eine Frage übertragen werden, da diese mitunter mit der Lebenswelt der Befragten nichts zu tun hat und man unmotivierte Antworten erhält. Schlussendlich gilt es in der Analyse, gerade in einem autoritären Kontext, ein besonderes Augenmerk auf die Option „möchte nicht antworten“ zu haben. Sie könnte ein Hinweis auf eine mögliche Selbstzensur sein.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Félix Krawatzek
Veröffentlicht am 13.04.2021