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Zukunftsnostalgie

Alexey Bratochkin, geboren 1974, gehört zu den bekanntesten Intellektuellen in Belarus. In seinen messerscharfen Analysen geht er den kulturhistorischen Verwerfungen und gesellschaftspolitischen Umbrüchen auf den Grund, die seine Heimat seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 durchlaufen hat. Dies tut er auch in diesem Essay, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Vorstellungen von Zukunft für Belarus in seiner Geschichte seit der Sowjetunion bestimmend waren und wie diese möglicherweise helfen können, eine Zukunft zu schaffen, die ohne den bis heute prägenden Autoritarismus auskommt.

Russisches Original auf Colta.ru

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„Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

Der Protestsommer 2020 brachte die Idee der Zukunft nach Belarus zurück. Menschenmassen in Minsk und anderen Städten demonstrierten die Absicht, ihre Zukunft selbst zu bestimmen – ein Recht, das das autoritäre Regime ihnen abgesprochen hatte.

Der französische Historiker François Hartog erforscht die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Gemeinschaften und der Kategorie Zeit. Er verwendet den Begriff „Geschichtlichkeitsmodus“ (régime d'historicité), um zu zeigen, wie in unterschiedlichen Gemeinschaften Vorstellungen zur eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft generiert werden: von dem Versuch, die Grundlagen fürs Leben im Goldenen Zeitalter zu finden, also in einer idealisierten Vergangenheit, über Bestrebungen, die Zukunft nahe heranzuholen und mit dieser „futuristischen“ Aufgabe zu leben, bis hin zu einer Dominanz der Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft bestimmt. 

Wenn man über die belarussische Wirklichkeit der letzten dreißig Jahre spricht, so kann man sie anhand wechselnder Zukunftskonzepte beschreiben, von denen es in meiner Generation schon mehrere gegeben hat.

Wir haben verschiedene Versionen einer kollektiven Zukunft erlebt, überlebt, aufgegeben und uns enttäuscht von ihnen losgesagt. Eine dieser Zukünfte prägte uns in der UdSSR, doch diese Zukunft Nr. 1 war 1991 zu Ende. Die Zukunft Nr. 2 stellte sich dann in den 1990er Jahren ein, sie war optimistisch und utopisch, wenn auch der sowjetischen diametral entgegengesetzt. Diese Zukunft wiederum fand einen autoritären Ersatz in der Zukunft Nr. 3, die jedoch 2020 endgültig in sich zusammenstürzte. Und so stehen wir vor einer neuen Version der Zukunft, der Zukunft Nr. 4. Was erwartet uns?

Zukunft Nr. 1

Bis heute ist die übliche Sichtweise, dass die UdSSR in einem besonderen, futuristischen Geschichtlichkeitsmodus beziehungsweise Zeitbezug existierte – eine Gesellschaft, deren Entwicklung von der Zukunft, vom Aufbau des Kommunismus, bestimmt war. Natürlich gab es auch hier Nuancen – doch eigentlich war das Bild der offiziellen Zukunft alternativlos.

Für mich, wie für viele andere meiner Generation – die formal der vom Kulturanthropologen Alexei Yurchak beschriebenen letzten sowjetischen Generation der Mitte der Siebziger Geborenen angehörte – war eine spezielle Wahrnehmung der Zukunft ein enorm wichtiger Aspekt des Erwachsenwerdens. 

Was hatten wir damals für eine Vorstellung von unserer, der persönlichen und der kollektiven, Zukunft? Technokratische Phantasien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mischten sich mit ideologischen Postulaten des sowjetischen Marxismus und (in unserem Fall) einer kindlichen, etwas infantilen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten. Gleichzeitig war diese Zukunft unmittelbar bedroht: Jeden Moment konnte ein Atomkrieg mit dem kapitalistischen Westen ausbrechen.

Der Glaube an regelmäßige Raumflüge in naher Zukunft existierte in meiner sowjetischen Kindheit in den frühen 1980er Jahren Seite an Seite mit der Propaganda für das ultimative soziale Bestreben der Sowjetbürger – den Aufbau des Kommunismus (und das war die richtige Zukunft).

Das in der Sowjetunion beliebte Genre der Science Fiction enthielt nicht nur utopische Beschreibungen einer positiven Zukunft – es war ein Ergebnis der Zensur. In der UdSSR durften keine Dystopien veröffentlicht werden (der Roman 1984 von George Orwell kursierte im Samisdat), sodass dieses Genre zum Teil durch Science Fiction ersetzt wurde. Auch in den offiziell veröffentlichten Büchern fand sich immer Platz für Anspielungen auf soziale Probleme, und eine Reihe sowjetischer Phantasten, etwa die Brüder Strugatzki, trieben diese besondere Sprache zur Perfektion. Die sowjetischen Dissidenten der 1960er Jahre sahen die Zukunft kritisch, und Andrej Amalrik schrieb einen fast prophetischen Text: „Überlebt die UdSSR bis 1984?“ 

1988 erschien im noch sowjetischen Belarus, in der Zeit von Gorbatschows Reformen, Andrej Mrys satirischer Roman Notizen von Samson Samossui aus dem Jahr 1929. Der Autor dieses Romans wurde in den 1930er Jahren politisch verfolgt und sah sich vor seinem Tod gezwungen, Briefe an Stalin mit der Bitte um Begnadigung zu schreiben. In seinem Roman beschrieb er einen „neuen Sowjetmenschen“, der auf groteske Weise alle Anweisungen der Staatsmacht erfüllte und darauf seine Karriere aufbaute. Diese Satire kann man auch als Beschreibung einer gescheiterten Utopie lesen – des Misserfolgs der Bolschewiki bei der Erschaffung einer sozialistischen Zukunft. In gewisser Hinsicht war das eine Dystopie, wenn auch als Satire verkleidet. Seitdem sind dystopische Motive in der belarussischen Literatur äußerst selten.  

Jelena Swetschnikowa, die dystopische Texte in der belarussischen Literatur erforscht, schreibt in ihrer Dissertation, dass das Genre der Dystopie in Belarus erst in den 1980er, 1990er Jahren zu finden ist. Sie konstatiert einen spezifischen Charakter der dystopischen Zukunftsvisionen in Belarus: „Kulturelle, politische und soziale Veränderungen werden in der belarussischen Dystopie negativ bewertet.“ Die Propaganda sprach vom Kommunismus, die Schriftsteller hingegen schrieben konservative, patriarchale Bücher, die Modernität und Urbanität kritisierten und zur Rückkehr in eine vorindustrielle Harmonie aufriefen.

Konservativismus kann man hier als Reaktion auf die radikalen sozialen Veränderungen und die rasend schnelle Modernisierung interpretieren, die in der Stalinzeit und in den 1960er bis 1970er Jahren ihren Höhepunkt erreichten. Die Transformation ging schnell vonstatten und hinterließ eine schwer beschädigte Vergangenheit, die in der sozialen Imagination der Intellektuellen keinesfalls zu einer wahrhaft optimistischen Zukunft werden konnte. 

Einer der erfolgreichsten Filme der spätsowjetischen Populärkultur war die fünfteilige Fernsehserie Gast aus der Zukunft aus dem Jahr 1985, in dem auch Michail Gorbatschows Perestroika begann. In diesem für Schüler gemachten Film kommt Moskau im Jahr 2084 vor: Die Menschen bewegen sich in individuellen Flugzeugen fort, zwischen Planeten verkehren regelmäßig Raumschiffe, es gibt einen Apparat zum Gedankenlesen et cetera.   

Die Handlung jedoch spielt fast ausschließlich in der Vergangenheit, im Moskau des Jahres 1984: Kolja Gerassimow, ein einfacher Pionier, seine Freunde und Alissa, ein mit Superkräften ausgestattetes Mädchen aus der Zukunft, versuchen, einen Gedankenleseapparat zurückzuholen, den Weltraumpiraten entführt haben. Das Leben 1984 ist leicht ironisch dargestellt – seltsame Erwachsene, das ewige Problem mit der Mangelware und ein ziemlich alltägliches Leben der Sowjetmenschen, das wenig von der Präsenz von Weltraumtechnik spüren lässt. Durch die Gegenüberstellung von Moskau 1984 und der strahlenden Zukunft 2084 konnte das Publikum sich fragen: Wie kann eine solche Zukunft das Ergebnis jener Gegenwart sein, die wir jetzt um uns haben?

Der für Kinder gedrehte Film erzählt recht blumig eher von Erwachsenen und der Unmöglichkeit einer Zukunft, von Zynismus, Zweifel und Kritik und von den Hoffnungen der älteren Generation, die im Leerlauf zwischen dem irgendwann verblichenen Optimismus und dem Realsozialismus der 1970er und 1980er Jahre aufgewacht sind. Die Zukunft bringt durch ironische Gegenüberstellung die Probleme der Gegenwart zur Geltung, deren Lösung jedoch utopisch, unmöglich bleibt.

Am Ende des Films erklingt das Lied Prekrasnoje daljoko (dt. Das Schöne ist weit weg), in dessen Text die Zukunft gebeten wird, „nicht grausam zu sein“ – und fast alle Heldinnen und Helden bleiben im Jahr 1984. Das Lied wurde unfassbar populär und ikonisch für mehrere Generationen; es transportiert eine besondere Stimmung – fast ein Gebet, dass unsere Kinder besser leben mögen als wir. Es trägt auch eine besondere Nostalgie in sich – eine Zukunftsnostalgie über etwas, das nie eingetroffen ist, aber so wahrscheinlich erschien, fast schon greifbar, fast real.   

Der Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 setzte den technokratischen Zukunftsphantasien ganz plötzlich ein Ende und rückte die Probleme der Gegenwart wieder in den Mittelpunkt. Der Zerfall der UdSSR 1991 war nicht nur das Ende des sowjetischen Projekts mit seinen utopischen Zukunftsvisionen, sondern bot für viele auch eine neue kollektive Idee – die Rückkehr zur Normalität in Form von Verwestlichung, Markt und Demokratie.  

Zukunft Nummer 2

Der belarussische Alltag veränderte sich nach 1991 schnell und radikal. Das Bild der kollektiven kommunistischen Zukunft war verschwunden: An seine Stelle trat ein Gefühl von Freiheit, Chancen, aber auch Besorgnis, sowie von individuellen Perspektiven (zumindest für jene, die Ressourcen für Veränderungen hatten oder wenigstens die Hauptressource – ihre Jugend). Das gemeinsame Wertesystem kollabierte, die gewohnten sozialen Strukturen begannen sich aufzulösen, und eines der wichtigsten Kriterien für sozialen Erfolg wurde Geld. 

Ganz plötzlich verlieh das Geld der Zukunft eine Materialität – sie war nun objektiviert, individualisiert und drückte sich darin aus, wie und was man konsumieren kann. Gleichzeitig war die Zukunft nicht mehr ganz Zukunft, also etwas, das man sich nur schwer bis ins Letzte vorstellen kann. Sie hat sich maximal der Gegenwart angenähert, in der man so leben muss, dass man jetzt Geld verdienen kann und am sozialen Erfolg beteiligt ist.  
Eines der Symbole dieser Gegenwarts-Zukunft sind die Kleider-, Haushalts- und Technikmärkte in den belarussischen Städten, die in den 1990er Jahren fast spontan entstanden – in Sportstadien, auf Plätzen, auf denen früher sozialistische Kundgebungen abgehalten wurden, und überall, wo auch nur die kleinste Möglichkeit dazu bestand. Auf diesen Märkten arbeiteten Menschen, die von ruinierten staatlichen Betrieben, wissenschaftlichen Instituten und Schulen entlassen worden waren.  

Die Märkte waren gerammelt voll mit neuen Waren aus dem Ausland. Die Nachfrage war stabil und mit Versuchen verbunden, durch Konsum neue soziale Zugehörigkeiten zu markieren. Dieser übersteigerte Konsum war bestimmt auch eine unbeabsichtigte Folge des sowjetischen Traums vom Aufbau des Kommunismus – die Zukunft muss man endlich nicht mehr aufschieben, endlich kann man leben.

Und während auf Alltagsebene die Zukunftsträume sehr pragmatische Formen annahmen, entwickelten sich auf Ebene des intellektuellen und politischen Lebens eigene Vorstellungen davon, wie man schneller zu einem Belarus der Zukunft kommt, zu einem demokratischen, europäischen Land, das sich einfügt ins politische Weltsystem, das seine Bipolarität und Zweigeteiltheit während des Kalten Krieges endlich abgelegt hat. Auch der gefeierte Besuch von US-Präsident Bill Clinton 1994 in Belarus war eine symbolträchtige Episode im Verschwinden des gewohnten Feindbilds, das in der Sowjetzeit geprägt wurde und als dessen Finale eine „nukleare Apokalypse“ im Fall eines Krieges mit dem Westen erwartet wurde. 

Die Ideen der ersten Jahre der Unabhängigkeit von 1991 bis 1994 transformierten sich zu einer Idee der „Nationsbildung“, zu Versuchen, endlich ein Land und eine Gesellschaft zu entwickeln, die alle Kriterien eines Nationalstaats erfüllen, der die Idee des Imperiums besiegt und überlebt hat. Identität wurde zur Politik (wie immer), die Geschichte wurde nun „aus einer nationalen Perspektive“ diskutiert, und es entstanden neue staatliche Strukturen und Institutionen. 

Wenn wir uns jetzt an diese Zeit erinnern, sprechen wir von der Naivität dieser Gesellschaft, die überzeugt war, man könne alle Institutionen reformieren und die alten Probleme innerhalb kurzer Zeit loswerden. Aus dieser Naivität entstand jedoch allmählich die Erfahrung des zivilgesellschaftlichen und politischen Lebens. 

Die Jahre 1991 bis 1994 waren turbulent; es gab keinen Zweifel, dass die Dynamik unumkehrbar war – es schien kein Zurück mehr zu geben. Und auch hier drängt sich wieder der Gedanke der Naivität auf – viele dachten damals, die Freiheit würde sich von selbst einstellen, man müsse sich darum nicht sonderlich kümmern. Die Gesellschaft dachte nicht mehr so intensiv an die Zukunft wie früher, die Zukunft war da, und das genügte. Weniger Utopien, mehr Pragmatik, und die Überzeugung, alles laufe bestens. Wir waren endlich unabhängig, das war das Wichtigste. Doch paradoxerweise wandelte sich die Zukunft, als wir aufhörten aktiv darüber nachzudenken, in eine Diktatur. 

Zukunft Nr. 3

Lukaschenkos Regime, das 1994 begann, erschien vielen wie eine Diktatur aus der Vergangenheit, alle sahen darin das Sowjetische. Was auch Lukaschenko selbst unterstützte: Solange nostalgische Bilder aus der Sowjetzeit dafür eingesetzt werden konnten, wurde das auch doppelt und dreifach getan, mindestens bis Anfang – Mitte der 2000er Jahre.

Später nutzte die Staatsführung die sowjetische Vergangenheit nur noch selektiv. Als wichtige symbolische Ressource wurde nur noch die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg maximal genutzt, angepasst an die Bedürfnisse der neuen (alten) politischen Klasse. 

Und was wurde aus der Idee der Zukunft? Im Unterschied zur sowjetischen Idee einer kommunistischen Zukunft mit ihrem Utopismus und ihrem Globalismus sowie im Unterschied zur Atmosphäre des Übergangs und der Erlangung der Unabhängigkeit in der ersten Hälfte der 1990er Jahre beschränkte sich die Idee der Zukunft unter der Herrschaft Lukaschenkos auf eine einfache propagandistische Formel: Ohne Lukaschenko hat das Land keine Zukunft.

Die 2000er Jahre begannen mit der Gründung des Museums der modernen belarussischen Staatlichkeit, das so gut wie nichts vom Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre erzählte, nichts über die Zeit vor Lukaschenkos Amtsantritt. Seitdem dominiert die Auslöschung der Vergangenheit, das Schweigen über die politischen Querelen in den 1990er Jahren und darüber, dass es damals eine Alternative zu Lukaschenko hätte geben können. Zu Lukaschenko gab und gibt es nun keine Alternative mehr, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. So, wie es auch die Zukunft selbst nicht gibt. Die Vergangenheit wurde zensiert, die Zukunft auf die Frage reduziert, wie lange Lukaschenko leben wird, und übrig blieb eine Gegenwart, in der politischer Populismus die Hauptrolle spielte. 

Zur wichtigsten Losung in Belarus wurde das Wort „Stabilität“. Stabilität bedeutete die Unveränderlichkeit des politischen Regimes und jener zwiespältigen Atmosphäre, die sich im Land entwickelte, als viele ihrer Bürger zwar verstanden, was Autoritarismus bedeutet, ihn aber trotzdem nicht als Katastrophe empfanden und bereit waren sich anzupassen. Alle verzettelten sich im autoritären Alltag, im Konsum und auf der Suche nach Nischen zum Überleben. 2013 berichteten die Medien, dass Werbeflächen im Zentrum von Minsk von jemandem mit Plakaten „Diese Stabilität ist wie der Tod!“ überklebt wurden. Diese Kunstaktion brachte das Geschehen auf den Punkt. 

In den 2010er Jahren entstand ein neuer Mythos, der eine Illusion der Zukunft erzeugen sollte – der Mythos vom „IT-Land“. Die IT-Sphäre hatte sich abseits der staatlichen Planung entwickelt, doch die Regierung schaffte es trotzdem, sich diesen Trend auf die Fahnen zu schreiben, nicht zuletzt dank der Lobbyarbeit von Vertretern der Branche. Der neue High-Tech-Park in Minsk sollte als Argument dafür dienen, dass Autoritarismus fähig zur Modernisierung ist und Belarus einer digitalen Zukunft entgegensieht. Die Proteste im August 2020, die vor dem Hintergrund eines fast vollständigen Internet-Shutdowns passierten, zogen auch unter diese Geschichte von der digitalen Zukunft einen Schlussstrich.    

Zukunft Nr. 4

Die Proteste des Jahres 2020 machten die Legitimität des autoritären Regimes zunichte, das als Antwort Gewalt zum zentralen politischen Werkzeug und zur Grundlage des Systems machte. Die Atmosphäre in Belarus schwankt heute zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Das bestehende System kann sich noch halten, aber eine Zukunft hat es nicht (nur die Vergangenheit wird ausgenutzt und Gewalt angewendet).

Wie können wir uns heute in Belarus die Zukunft vorstellen? Welche Fragen stehen an? Einige von ihnen betreffen die politische Praxis: Welcher Weg führt aus dem Autoritarismus heraus, was wird mit unseren Institutionen und Vorgehensweisen, welchen Preis werden wir zahlen müssen? Wird es uns gelingen, das Erbe der Diktatur zu verdauen und ein System zu erschaffen, in dem Diktatur nicht mehr möglich sein wird? Wird dieses System auch demokratisch, sozial gerecht, inklusiv sein, werden wir in der Lage sein, horizontale Strukturen und Verbindungen aufzubauen? Wird es uns außerdem gelingen, über den politischen Pragmatismus hinauszugehen und allen unseren Bemühungen mehr Gewicht und mehr Sinn zu verleihen?

Diese Fragen stellen sich wohl viele im Land schon jahrelang mit unterschiedlicher Intensität. Und all diese Jahre hindurch sehen wir Versuche, auf die Bilder einzuwirken, wie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aussehen – mit unterschiedlichem Erfolg. Das Verschwinden der sowjetischen Utopie der kommunistischen Zukunft und des nationalen Projekts der Unabhängigkeit der späten 1980er und frühen 1990er Jahre schufen eigene Zukunftsnostalgien unterschiedlicher Zukünfte (und Vergangenheiten). 

Die Proteste von 2020, Repressionen, Gewalt und der 2021 fortgesetzte Widerstand haben die Diskussion über die Zukunft wieder aufgebracht und vermitteln das Gefühl ihrer Wiederkehr. Gelingt es uns, diese Chance zu nutzen, oder bleibt es bei einer weiteren Nostalgie, einem weiteren nicht realisierten Projekt kollektiver Zukunft?   

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Der belarussische Sonderweg

Auch nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit hält die Republik Belarus überwiegend an planwirtschaftlichen Methoden der Wirtschaftslenkung fest. Marktwirtschaftliche Elemente halten nur schrittweise Einzug, ein großer Teil der Arbeitnehmer ist in staatseigenen Betrieben angestellt und die autoritäre Regierung ist nach wie vor der größte Investor des Landes. Doch obwohl das System von Krediten abhängig ist und die Betriebe teilweise massiv veraltet und nicht konkurrenzfähig sind, ist die belarussische Wirtschaft eine zentrale Stütze von Präsident Alexander Lukaschenko – der ökonomische Sonderweg ermöglicht also den politischen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unternahmen die meisten osteuropäischen Staaten in den 1990er Jahren Wirtschaftsreformen, die sich mit der Abschaffung der staatlichen Preis- und Mengenplanung am marktwirtschaftlichen Modell orientierten.1 Die Folge waren zunächst starke Einbrüche in Produktion und Beschäftigung. Im Unterschied dazu wandte sich die in Belarus im Amt verbliebene sowjetische Partei- und Wirtschaftsnomenklatura gegen eine „Schocktherapie“ und wählte einen schrittweisen, graduellen Transformationsweg, wodurch Produktionskapazitäten, Lieferverbindungen und Arbeitsplätze möglichst bewahrt werden sollten. Diesen Sonderweg hatte seit 1990 Ministerpräsident Wjatschaslau Kebitsch eingeschlagen, der Gorbatschows Perestroika-Politik ablehnte. Seinen Kurs setzte Alexander Lukaschenko fort, dem es 1996 gelungen war, die auf demokratische und marktwirtschaftliche Reformen dringenden Kräfte endgültig auszuschalten.2

Die großen Staatsbetriebe, die über 60 Prozent des jährlichen Gesamtumsatzes und fast 50 Prozent der Beschäftigten auf sich vereinen, werden in Belarus bis heute von staatlichen Behörden kontrolliert und gelenkt.3 Sie haben Entlassungen zu vermeiden und die Löhne regelmäßig zu erhöhen. Das ihnen vorgegebene Geschäftsmodell setzt auf große Produktionsmengen. Vorprodukte müssen sie von ihnen zugewiesenen Lieferanten beziehen, bei denen es sich vorwiegend ebenfalls um Staatsbetriebe handelt. Dies gilt auch für die rund 1500 landwirtschaftlichen Großunternehmen, in denen Getreide angebaut und Viehzucht betrieben wird.4

Quellen5

Die wegen ihres nicht mehr zeitgemäßen Produktsortiments und des hohen Personalbestands überwiegend unrentablen Staatsbetriebe – Ausnahmen sind die Lieferanten von Erdölprodukten und Kalidünger – erhalten verbilligte Kredite von staatlichen und privaten Banken, für deren Kapitalausstattung wiederum der Staat sorgt. Doch nicht nur Betriebe, die sich vollständig in Staatsbesitz befinden, sondern auch halbstaatliche und rein private Unternehmen mussten bis 2007 staatlichen Stellen Bericht erstatten. Sie alle hatten staatliche Entwicklungspläne hinsichtlich Produktionsvolumen, Exporten und Lohnsteigerungen zu erfüllen.

2007: Teilweise Deregulierung der Wirtschaft

Erst als sich die Wirtschaftslage zunehmend verschlechterte, entschloss sich die Staatsführung 2007 zu einer schrittweisen Deregulierung von Teilen der Wirtschaft.6 Staatlich festgesetzte Preise wurden jetzt nur noch für Produkte aufrechterhalten, die der Staat als sozial wichtig einstufte, etwa Lebensmittel oder Medikamente. Die Registrierung neuer Unternehmen wurde vereinfacht, die Berichtspflicht für private und halbstaatliche Unternehmen abgeschafft. Die staatseigenen Großbetriebe der verarbeitenden Industrie erhalten jedoch weiter formelle staatliche Anweisungen. Auch werden bis heute Privatbetriebe – ausgenommen ist die vom Regime umworbene IT-Branche – mit Hilfe von administrativem Druck, oktroyierten Vereinbarungen und informellen Absprachen gelenkt.

Zur angespannten Wirtschaftssituation des Jahres 2007 hatte auch der russisch-belarussische Energiestreit beigetragen. Hatte Russland Belarus bis dahin Erdgas weit unter Weltmarktpreisen verkauft und das Land somit stark subventioniert, drängte Gazprom nun auf eine Verdreifachung des Gaspreises. Auch sollte ein Zoll auf Öleinfuhren nach Belarus erhoben werden. In den folgenden Verhandlungen wurde jedoch der Zwiespalt deutlich, in dem sich der Kreml gegenüber der belarussischen Führung befand: Einerseits wollte Russland seine Wirtschaftsbeziehungen zum „Nahen Ausland“ marktwirtschaftlich gestalten und somit deren Subventionierung abschaffen, andererseits wollte es die Hinwendung dieser Länder zum Westen aus militärischen und politischen Gründen nicht tolerieren. Lukaschenko verstand es damals wie auch später, diese Zwangslage für seinen Machterhalt auszunutzen. Der Gaspreis wurde lediglich verdoppelt, wodurch die Subventionen zwar reduziert, aber nicht beendet wurden, und auch in Bezug auf den Ölzoll konnte ein Kompromiss mit Moskau erzielt werden.

Ergebnisse des wirtschaftlichen Sonderwegs

Obwohl die politische Führung insbesondere bei der Privatisierung der Staatsbetriebe und bis Mitte der 2000er Jahre auch bei der Preisliberalisierung eine andere Wirtschaftspolitik betrieb als Russland, folgte die Dynamik der Wirtschaftsentwicklung in Belarus in den vergangenen 30 Jahren weitgehend derjenigen seines östlichen Nachbarn. Zwischen 1991 und 1995 verzeichnete Belarus wie nahezu alle Staaten des postsowjetischen Raums einen starken Produktionseinbruch. Allerdings gelang in Belarus, früher als in Russland, zwischen 1996 und 2000 eine deutliche Erholung mit durchschnittlichen Zuwachsraten des Bruttoinlandsprodukts von sieben Prozent pro Jahr. Zwischen 2000 und 2008 erlebte Belarus dann – parallel zu Russland – ein stürmisches Wirtschaftswachstum und ab 2011 ebenfalls im Gleichschritt mit Russland nahezu eine Stagnation der gesamtwirtschaftlichen Produktion.

Als sich im Jahr 2007/2008 eine weltweite Finanzkrise abzuzeichnen begann, setzte die Regierung auf die Erhöhung der Investitionen in Maschinen und Gebäude. So wurde der Anteil der Investitionen zwischen 2007 und 2014 auf über 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert. Doch diese Maßnahmen konnten den Rückgang der Wachstumsraten nicht verhindern. Bezahlt wurde das Manöver durch niedrig verzinste Kredite inländischer Banken sowie durch Kreditaufnahme im Ausland, was zu einer erheblichen Steigerung der Außenverschuldung führte. Die Kredite kamen vor allem aus Russland, der Eurasischen Wirtschaftsunion und China. Auch niedrige Preise für Energielieferungen aus Russland sowie der Verkauf der Gastransitleitungen an Russland fingen die Finanznöte des Landes auf; allein der Preisnachlass auf Öl- und Gasimporte aus Russland summierte sich zwischen 2001 und 2016 auf etwa 100 Milliarden US-Dollar.

Doch der Staatskapitalismus führte das Land in eine institutionelle Falle, weil er die überkommene Wirtschaftsstruktur konservierte. Die Orientierung an der Erfüllung zentraler Anweisungen und die Stärkung der Kontroll- und Strafverfolgungsbefugnisse der staatlichen Verwaltung schränkten die wirtschaftliche Flexibilität ein. Die Folge war eine Vergrößerung des Rückstands gegenüber Ländern mit funktionierenden Marktmechanismen, die sich schneller an die Herausforderungen und Realitäten der globalen Wirtschaft anpassen konnten.7



*Polen: 2018
**Je höher der Index, desto geringer ist die wahrgenommene Korruption
Quellen8

Sonderweg: Das Herrschaftssystem

In Belarus existiert wie in Russland und in den zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken ein neopatrimoniales politisches System, was bedeutet, dass Herrschaft durch eine Kombination von persönlicher Macht und bürokratischer Regelung ausgeübt wird.Der oberste Patron – hier Lukaschenko – steht an der Spitze einer Pyramide von Netzwerken, die von untergeordneten Patronen kontrolliert werden.10 Die Machtelite schöpft ökonomische Renten vorzugsweise aus dem Rohstoff- und Energiegeschäft ab. Das patrimoniale Herrschaftsmodell in Belarus beruht aber anders als jenes in Russland nicht auf einem Arrangement des obersten Patrons mit Oligarchen, noch wie jenes in Zentralasien auf informellen Abkommen zwischen der Staatsführung und regionalen Clanstrukturen. Lukaschenko bedient sich vielmehr einer Schicht hoher Funktionäre, die er in Behörden und Betrieben eingesetzt hat und nach Belieben austauscht.

Korruption wird in Belarus weniger geduldet als in anderen neopatrimonialen Herrschaftssystemen des postsowjetischen Raums. Häufige Antikorruptionsprozesse dienen der Kontrolle der Eliten. Wenn hochrangige Funktionäre entlassen werden, kann Lukaschenko sich als Kämpfer für den Volkswillen und gegen die „habgierige Elite“ profilieren. Jedoch werden die in Ungnade gefallenen Akteure später oft auf andere gutbezahlte Posten versetzt.11

Lukaschenko muss keine Rücksicht auf Interessengruppen nehmen und kann politische und wirtschaftliche Entscheidungen unter dem alleinigen Gesichtspunkt des Machterhalts treffen.12 Dank dieser Methode ist der im internationalen Vergleich extrem große Sektor der Staatsbetriebe neben dem Sicherheitsapparat sein wichtigstes Herrschaftsinstrument. Gerade in der Provinz kann über Staatsbetriebe besonders effektiv politische Kontrolle ausgeübt werden, da sie dort mitunter die einzigen Arbeitgeber sind. Auch aus diesem Grund sind keine tiefgreifenden Reformen der belarussischen Wirtschaft zu erwarten, solange Lukaschenko an der Macht ist.


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 

Zum Weiterlesen
Osteuropa, Heft 10-11, 2020, insbesondere mit den Beiträgen von Astrid Sahm, Petra Stykow, Fabian Burkhardt/Maryia Rohava, Valerij Karbalevič und Roland Götz.

1.Dieser Text beruht in Teilen auf Götz, Roland (2020): Staatskapitalismus à la Belarus: Sonderweg, Umweg oder Sackgasse, in: Osteuropa, 10-11, 2020, S. 35–60 
2.Timmermann, Heinz (1997): Belarus: eine Diktatur im Herzen Europas?, in: Berichte des BIOst, 10/1997, Köln, S. 17–21 
3.International Monetary Fund: IMF Country report 17/384, Washington D.C. 2017, S. 33 ff.. Unter Staatsbetrieben werden hier Betriebe verstanden, die entweder vollständig oder mehrheitlich in Staatseigentum stehen. Die amtliche belarussische Statistik zählt dagegen Beschäftigte in Betrieben, an denen Privatpersonen oder private Firmen Anteile halten, als Beschäftigte im privaten Sektor, und nennt daher nur einen Anteil der staatlich Beschäftigten von 39 %, siehe das Statistische Jahrbuch zu Arbeit und Beschäftigung in Belarus, Minsk 2020, S. 61. Ebenso verfährt die amtliche Statistik beim Ausweis der industriellen Produktion. Sie rechnet nur 13 % der staatlichen Industrie zu, nicht jedoch die Produktion in Industriebetrieben, die auch private Anteilseigner haben. Addiert man beide Werte, so erhält man einen staatlichen Anteil von 66 % an der Industrieproduktion, siehe das Statistische Jahrbuch der Republik Belarus, Minsk 2020, S. 240 
4.Takun, Anatoli (2018): Agricultural sector in Belarus 
5.Quelle: Wikipedia; für Zahlen für 2019 vgl. Zautra.by 
6.Lindner, Rainer (2007): Blockaden der „Freundschaft“: Der Russland-Belarus-Konflikt als Zeitenwende im postsowjetischen Raum, in: SWP-Aktuell 3/2007, Berlin 
7.Havrylyshyn, Oleh (2007): Fifteen Years of Transformation in the Post-Communist World: Rapid Reformers Outperformed Gradualists, Washington D.C. 
8.The World Bank: Indicators; Belstat: Vybrosy parnikovych gazovUmweltbundesamt; Transparency International: Corruption perceptions index 
9.Der Regimetyp des Neopatrimonialismus wurde, ausgehend von Max Webers Unterscheidung von patrimonialer und bürokratischer Herrschaft, 1973 von Shmuel Eisenstadt eingeführt und zunächst zur Charakterisierung lateinamerikanischer und afrikanischer Regime verwendet. Neopatrimoniale Strukturen im postsowjetischen Raum erläutert Hale, Henry (2015): Patronal Politics: Eurasian regime dynamics in comparitive perspective, New York, S. 95 ff. 
10.Leukavets, Alla (2016): Machtgruppen in der belarussischen Politik, in: Belarus-Analysen 29, 20.12.2016, S. 2–5 
11.ebd. 
12.Frear, Matthew (2018): Belarus under Lukashenka: Adaptive Authoritarianism, London/New York, insbesondere S. 49–62 
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