Media

„Dieses Haus ist eine Metapher“

Das Haus der Regierung entstand 1931 am Ufer der Moskwa. Yuri Slezkine, Geschichtsprofessor an der Universität Berkeley, erzählt in seinem gleichnamigen Buch die Geschichte des Sowjetkommunismus anhand des Gebäudes und seiner Bewohner. 2018 ist es auf dem deutschen, 2019 auch auf dem russischen Markt erschienen.

Jahrzehntelang hat Slezkine dafür in Archiven recherchiert, entsprechend unterteilt der US-amerikanische Historiker, der 1982 aus der Sowjetunion emigrierte, sein Buch in drei unterschiedliche Stränge: einen biografischen, einen historischen und einen analytischen.

Im Interview mit Maxim Trudoljubow für Colta.ru spricht Yuri Slezkine über das besondere Gebäude und seine Bewohner und darüber, weshalb er den Kommunismus als Sekte begreift.

Source Colta.ru

© Peter-Andreas HassiepenMaxim Trudoljubow: Die Baustelle ist eine gute Metapher. Die Bolschewiki machten sich an den Bau dessen, was sie Sozialismus nannten, ohne einen Bauplan zu haben. Aber für das Haus der Regierung gab es einen Bauplan – übrigens eines der wenigen Wohnhäuser, die damals überhaupt gebaut wurden.

Yuri Slezkine: Dieses Gebäude ist in der Tat eine Metapher. Das Haus der Regierung wurde gleichzeitig mit der Sowjetunion erbaut und, wenn man so will, gleichzeitig mit dem Stalinismus – in den Jahren des ersten Fünfjahresplans. Die Bewohner errichteten eine neue Wirtschaft, einen neuen Staat und gleichzeitig ein Haus, in dem sie mit ihren Familien leben wollten.

Die Bewohner errichteten einen neuen Staat und gleichzeitig ein Haus, in dem sie mit ihren Familien leben wollten

Man redete zwar ständig von Städten und Wohnraum, und es wurde viel darüber geschrieben, wie die Wohnkommunen aussehen sollten. Gebaut wurde allerdings wenig, der Staat hatte andere Sorgen – die Industrialisierung, die Kollektivierung. Baustellen gab es viele, vor allem aber industrielle und metaphorische. Das Haus der Regierung war eines der wenigen Wohnprojekte.

Als ich [Ihr Buch Das Haus der Regierungdek] zu lesen begann, dachte ich, es würde um das Haus und seine Bewohner gehen. Aber es stellte sich heraus, dass die Protagonisten noch etwas anderes als der Wohnort verbindet. Die zentrale Metapher des Buchs (oder ist es keine Metapher?) ist die Sekte. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Ich hatte nicht die Absicht, über eine Sekte zu schreiben. Als ich mit der Arbeit an dem Buch begann, hatte ich keine Ahnung von Sekten. Erst beim Lesen der Briefe, Manifeste, Tagebücher und anderer Dokumente kam mir dieser Gedanke. Ich war erstaunt, wie oft das Wort Glaube vorkam, wie diese Menschen dachten und worauf sie hofften. Mich verblüffte die Ähnlichkeit dessen, was sie sagten, mit dem, was ich aus ganz anderer Literatur kannte. Ich fing an, Bücher über Millenarismus, Apokalyptik und ähnliche Phänomene zu lesen. 

Als ich mit der Arbeit an dem Buch begann, hatte ich keine Ahnung von Sekten. Erst beim Lesen der Briefe, Manifeste, Tagebücher und anderer Dokumente kam mir dieser Gedanke

Eigentlich wollte ich das Haus der Regierung „bauen“, seine Bewohner dort „einziehen“ lassen, zuschauen, wie sie darin leben, um dann Zeuge ihrer Verhaftung und Hinrichtung zu werden. Aber am Ende hatte ich ein Buch, das viel größer war, in seinem Umfang und auch in jeder anderen Hinsicht.

Das bolschewistische Sektentum ist für mich keine Metapher. Ich ziehe keinen Vergleich zwischen den Bolschewiki und religiösen Sektenanhängern. Ich verwende das Wort Religion nicht, weil es das Bild nur verstellen würde. Ich behaupte, dass die Bolschewiki Sektenanhänger waren, ohne Anführungszeichen.

Welche Art von Sektenanhängern?

Der apokalyptische Millenarismus ist der Glaube daran, dass die Welt, die voller Ungerechtigkeit und Unterdrückung ist, noch zu Lebzeiten der jetzigen (oder spätestens nachfolgenden) Generation in einem katastrophalen Gewaltausbruch ihr Ende finden wird. 
Manche bezeichnen solche Bewegungen als religiös, andere nicht – das hängt ganz davon ab, welche Religionsdefinition man ansetzt. Für mich spielt das keine Rolle. Als mir beim Lesen der Dokumente bewusst wurde, dass die Bolschewiki – ganz egal, welche Definition man benutzt – apokalyptische Millenaristen waren, begann ich sie im Vergleich zu anderen, ähnlichen Bewegungen zu betrachten. Cargo-Kulte, das frühe Christentum, der frühe Islam, die Münsteraner Wiedertäufer, die Roten Khmer, der Taiping-Aufstand – all das sind millenaristische Bewegungen. Die Anhänger- oder Opferzahlen miteinander zu vergleichen ist uninteressant. Wichtiger ist der Kern der Sache.

Lenin nannte sie eine ,Partei neuen Typs’, aber er hätte sie auch ,Sekte gewöhnlichen Typs’ nennen können

Für die Bolschewiki selbst war ihre Partei keine Partei, wie Politiker und Soziologen sie definieren. Es war keine Vereinigung, deren Tätigkeit auf die Machtergreifung im Rahmen eines bestehenden politischen Systems abzielte. Es war vielmehr eine Organisation, die auf den Sturz des bestehenden politischen Systems im Kontext der Zerstörung der gesamten Alten Welt hinarbeitete – einer Welt der Ungerechtigkeit und unauflösbaren Widersprüche. Lenin nannte sie eine „Partei neuen Typs“, aber er hätte sie auch „Sekte gewöhnlichen Typs“ nennen können.

Ihre Protagonisten machen keinen Halt vor Grausamkeit, aber sie leiden auch und weinen immerzu. Lenins Tod lässt Tränenströme losbrechen, die Ermordung Kirows löst eine Schockstarre aus. Warum? Waren sie so unglaublich emotional?

Ich denke, das hat mit ihren Vorstellungen zu tun, mit der Prophetie, an die sie glaubten, mit der Intensität der Erwartungen, der Opferbereitschaft, die ursprünglich zum Bolschewismus gehörte. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass es am Anfang des Buches um sehr junge Menschen geht. Um emotionale, ehrfürchtige junge Männer und Frauen, die von fieberhaften apokalyptischen Stimmungen beseelt sind. 
Sie lebten in konspirativen Wohnungen, in Gefängnissen, in der Verbannung. In ihrem Weltgefühl waren Sehnsucht, Verzweiflung und die inbrünstige Hoffnung auf das Kommen des „rechten Tages“ vereint. Und dann geschah etwas, das in der Geschichte solcher Bewegungen unglaublich selten ist: Ihre Apokalypse trat ein. Der rechte Tag kam. Zumindest erlebten sie seinen Anbruch. Genau, wie es einmal ein anderer Millenarist prophezeit hatte: „Es wird aber ein Bruder den andern zum Tod überantworten und der Vater das Kind, und die Kinder werden sich empören gegen ihre Eltern und werden sie zu Tode bringen“ (Matthäus 10,21).

Ihre Apokalypse trat ein. Der rechte Tag kam. Zumindest erlebten sie seinen Anbruch

Die Briefe aus den Tagen des Bürgerkrieges zeugen von einem beeindruckend intensiven Erleben. Extreme Erfahrungen bringen extreme Emotionen. Alle Millenaristen ereilt früher oder später das, was die amerikanische Geschichte als die „große Enttäuschung“ kennt: Die Zeit vergeht, aber die Prophezeiung tritt nicht ein. 
Für die Bolschewiki war diese Erfahrung besonders schmerzhaft, weil sie die „Schlacht von Armageddon“ bereits gewonnen hatten. Aber kaum war sie gewonnen, da wurden die Positionen auf dem X. Parteitag auch schon aufgegeben, der charismatische Anführer starb, und in den Häusern der Sowjets wurde nur irgendwelches Zeug gemacht. Die Periode der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) war ihre große Enttäuschung. Das wird deutlich, wenn man die Parteiliteratur der 1920er Jahre liest oder sich ansieht, wie diese Menschen lebten, wie sie weinten, wie sie sich in Sanatorien behandeln ließen.

Kommt das Gefühl der „belagerten Festung“ erst in den 1920er, 1930er Jahren auf? Oder war das ein allgemeiner Wesenszug?

Es war ein Wesenszug. Es ist nicht so, dass ich – nur weil ich einmal beschlossen habe, dass die Bolschewiki eine Sekte sind – ihnen alles zuschreibe, was ich über Sekten weiß. Es zeigte sich einfach, dass vieles von dem, was ich über sie herausfand, mit dem übereinstimmt, was wir über Sekten wissen. 

Die Absonderung von der Außenwelt ist eines der Merkmale des frühen Bolschewismus. Und eine Sekte ist, in welcher Definition auch immer, eine Gruppe von Gleichgesinnten, die sich von der feindlichen, sündigen, dem Untergang geweihten Welt lossagt. Die Bolschewiki haben viel darüber geschrieben, was es für sie bedeutete, ein Teil dieser heiligen Bruderschaft zu sein und welch ein Abgrund sie von dem kleinbürgerlichen „Sumpf“ trennt. Das Haus der Regierung war ihre belagerte Festung.

Das heißt, sie fühlten sich auch innerhalb des Landes umzingelt?

Das Haus an der Uferstraße war eine riesige Festung. Bei seiner Eröffnung war im Land gerade die Kollektivierung im Gange. Die Bewohner wussten und wussten gleichzeitig nicht, wie sie genau abläuft. Sie erließen Dekrete und stellten Pläne auf, aber sie diskutierten nicht, welchen Preis sie dafür zahlten. Sie sprachen nicht mit ihren Haushälterinnen darüber, was mit deren Familien passiert war. 
Es war in dem Sinne eine belagerte Festung, als sie von sowjetischen Menschen umgeben waren, die gar keine waren. Die Sowjetunion war eine belagerte Festung innerhalb einer bourgeoisen Welt, das Haus der Regierung war eine belagerte Festung innerhalb der Sowjetunion, und jede einzelne Wohnung eine innerhalb des Hauses. Jeder Bolschewik war in seinen eigenen vier Wänden belagert. 

Jeder Bolschewik war in seinen eigenen vier Wänden belagert

Wir sehen, wie sehr sie darunter litten, dass das Leben von allen Seiten an sie herandrängte. Die Kinder wuchsen heran, auf den Tischen breiteten sich Tischdeckchen aus, an den Fenstern Vorhänge; Eltern, Verwandte kamen zu Besuch. Kleine Familien gab es da kaum, die allermeisten hatten eine Großfamilie. Der Schwiegervater – ein ehemaliger Rabbi – kam, die Schwiegermutter betete flüsternd, die Haushälterin vom Land taufte heimlich die Kinder. 
Der rechtgläubige Bolschewik wurde überwuchert von Sachen und armen Verwandten. Denen, die Zeit zum Nachdenken hatten, war bewusst, dass sie Tag für Tag und Stunde für Stunde ihren Glauben verrieten. Und wenn man sie holen kam, wussten sie deshalb auch, dass sie in gewisser Weise schuldig waren.

Stalin bleibt in Ihrem Buch fast außen vor. War er für [die Bolschewiki] der „Großinquisitor“, eine Dostojewski-Figur, die verstanden hat, dass man nicht auf die „Wiederkunft“ warten darf, sondern ein System errichten muss?

Über Stalin habe ich nichts Neues zu sagen. Und er lebte ja auch nicht im Haus an der Uferstraße. Das ist gut, weil man in historischen Romanen den König normalerweise nicht zur Hauptfigur macht. Im Unterschied zu jemandem, der einen historischen Roman schreibt, konnte ich nichts erfinden, es kam mir also sehr gelegen, dass Stalin auf der anderen Seite des Flusses wohnte. Und es ist auch nicht so wichtig, was er dachte. Ich glaube, dass er ein wahrer Bolschewik war, ein gläubiger Mann. Aber gleichzeitig ein pragmatisches Staatsoberhaupt. Sie waren alle zugleich Gläubige und Staatsbeamte.

Welches Erbe hinterließ die erste Generation von Bauherren der UdSSR? Ist es der nachfolgenden Generation gelungen, dem System Routine zu verleihen?

Der Bau war nicht besonders solide. Wir wissen, wie die Sowjetunion zu Ende ging. Sie ist nie wirklich zur Routine geworden. Das Christentum existiert als Zivilisation schon seit 2000 Jahren. Die Kommunisten sind ausgestorben. Die Entwicklungskader meiner Figuren sind gestorben, und mit ihnen auch der Staat, den sie aufgebaut haben. Das heißt, etwas ist ihnen schon gelungen, und das ist nicht wenig. Sie sind die einzige millenaristische Sekte, die es geschafft hat, die Herrschaft in Babylon an sich zu reißen. 

Das Christentum wurde erst vier Jahrhunderte nach dem Tod seines Propheten die offizielle Religion des Römischen Reiches, als kaum noch jemand den baldigen Weltuntergang herbeigesehnt hat. Die Bolschewiki blieben auch nach ihrer Machtergreifung inbrünstig gläubige Millenaristen. So etwas hat es noch nie gegeben. Aber es währte eben nicht lange.

Support dekoder

Related topics

Gnose

Entstalinisierung unter Chruschtschow

Als Nikita Chruschtschow am 25. Februar 1956 seine Rede beendet hatte, soll tosender Applaus aufgebrandet sein. So vermerkt es das Stenogramm des XX. Parteitags der KPdSU. Zeitgenossen hingegen berichteten von einer tödlichen Stille, die geherrscht haben soll. Jochen Krüger über Chruschtschows Geheimrede, die die Entstalinisierung einleiten sollte.

Gnose

Stalins Tod

Der Tod Stalins am 5. März 1953 löste im ganzen Land Bestürzung aus. Niemand wusste, was der Tod des Diktators bedeuten würde. Fabian Thunemann zeichnet die Ereignisse vom März 1953 nach.

Gnose

Lenin-Mausoleum

Es war für jeden Sowjetbürger geradezu eine Pflicht, einmal im Leben eine Pilgerfahrt nach Moskau zu unternehmen. Neben vielen anderen Sehenswürdigkeiten erwartete ihn dort das zentrale Heiligtum: Lenin in seinem gläsernen Sarg. Monica Rüthers über das Lenin-Mausoleum, das zum Mittelpunkt des Lenin-Kultes geworden ist.

Gnoses
en

Haus der Regierung

Das riesige Gebäude erhebt sich direkt am Ufer der Moskwa. Zu Sowjetzeiten wirkte es durch den dunkelgrauen Putz düster. Gebaut wurde es in der Stalinzeit von 1928 bis 1931 als Gated Community der Mächtigen mit Tennisplatz auf dem Dach und Schießstand im Keller. Seit sich die kulturhistorische Forschung in den 1990er Jahren der sowjetischen Zivilisation zugewendet hat, wurden viele Metaphern für das faszinierende Haus der Regierung geprägt. Die eingängigsten stammen vom Osteuropahistoriker Karl Schlögel, der es als „Titanic des Sowjetkommunismus“ und „Museum einer untergegangenen Lebensform“ bezeichnete.1 Um die Symbolik auf die Spitze zu treiben, drehte sich ab 2001 zehn Jahre lang ein Mercedes-Stern auf dem Gebäude gegenüber dem Kreml mit seinem Roten Stern und verkündete die Ankunft im Kapitalismus. 
Neben der Gemeinschaftswohnung, der Kommunalka, bietet sich dieser Wohnblock als Mikrokosmos für die Untersuchung der „Sowjetunion im Kleinen“ an. So erzählt Yuri Slezkine anhand der Geschichte dieses Hauses und seiner Menschen die Geschichte des Sowjetkommunismus.2

Die zwölfstöckige Trutzburg ist ein beliebtes Wohnhaus direkt am Ufer der Moskwa / Foto © Wikipedia/ Ludvig 14 unter CC BY-SA 4.0

Der Gebäudekomplex war eines der größten Bauvorhaben seiner Zeit. Eigentlich war es kein „Haus“, sondern eine riesige Wohnmaschine von 500.000 Kubikmetern umbautem Raum auf acht Hektar, mit 505 Wohnungen und gemeinsamen Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen für rund 2500 Menschen. Der luxuriös ausgebaute Wohnkomplex am Ufer der Moskwa beherbergte seit 1931 zahlreiche Regierungsmitglieder und führende Bolschewiki der Revolutionszeit mit ihren Familien, die zuvor im Kreml und in den umliegenden Hotels wie dem National oder dem Metropol gewohnt hatten. Sie sollten hier an einem Ort in unmittelbarer Nähe zum Kreml konzentriert werden. Die  Blickverbindung zum Kreml symbolisierte die Nähe zur Macht – aber auch die Kontrolle.

Es war die Zeit des heroischen Aufbaus des Kommunismus und des ersten Fünfjahrplans. Die Menschen waren aufgerufen, Verzicht in der Gegenwart zu üben, um eine bessere Zukunft zu errichten. Die Wohnungsnot in Moskau war legendär. Alle lebten zusammengedrängt in Gemeinschaftswohnungen, Baracken oder Wohnheimen. Die verfügbare Wohnfläche pro Einwohner sollte zwar dereinst neun Quadratmeter betragen, lag aber wegen des Zustroms von Menschen bis in die 1950er Jahre hinein zwischen vier und fünf Quadratmetern. Vor diesem Hintergrund waren die Wohnverhältnisse der privilegierten Führungsschicht im Haus der Regierung einfach märchenhaft. Eine Vierzimmerwohnung hatte hier gut 62 Quadratmeter. Auch wenn sie zeitweilig von mehreren Parteien geteilt wurde, war sie noch luxuriös.

Da war zunächst die zentrale Lage am Wasser. Das Wasser spielte eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des „Neuen Moskau“ zur Welthauptstadt des Kommunismus, die zeitgleich mit dem ersten Fünfjahrplan angegangen wurde. Die Befestigung der sumpfigen Flussufer erschloss Landreserven für den Bau repräsentativer Wohnbauten in zentralen Lagen der Stadt. Das erste Gebäude war das zwischen 1928 und 1931 errichtete, sogenannte Haus der Regierung gegenüber dem Kreml. Es nahm den Generalplan zur Rekonstruktion Moskaus von 1935 gewissermaßen vorweg. 

„Neue Lebensweise“

Die Architekten Boris und Dimitri Iofan gruppierten mehrere wuchtige, bis zu zwölf Stockwerke hohe Wohnblöcke auf dem acht Hektar großen Gelände um drei Innenhöfe. Die Abschlüsse bildeten zum Fluss hin das Theater der Estrade und rückwärtig das Kino Udarnik (dt. Stoßarbeiter). Der Stil markierte den Übergang vom Konstruktivismus der 1920er zum Neoklassizismus der 1930er Jahre. Der dunkelgraue Putz sollte den damals hochmodernen Baustoff Beton imitieren und das Gebäude vor dem Ruß der Heizanlagen in der Umgebung schützen. 
Die Architekten entwarfen im Sinne des Neuen Bauens ein schlichtes, rationales Gebäude für die viel gepriesene kommunistische „Neue Lebensweise“, das den Akzent auf Askese und Gemeinschaftseinrichtungen legte. Die großzügigen Appartements hatten eigene Bäder und Küchen, in denen sogar ein Klappbett für das Dienstmädchen Platz hatte. Garderoben, Betten, Tische, alles war identisch und nummeriert.3 
Die möblierten Dienstwohnungen folgten zwar der Idee der Gleichheit, aber auf hohem Niveau. So gestalteten die Architekten einheitliche, bequeme Möbel im behäbigen Stil der 1930er Jahre und statteten die Wohnungen mit Müllschluckern und Zentralheizung aus. 
Hier lebten die Mächtigen und die Mächtigsten, Minister und Mitglieder des Politbüros, Marschälle und Admiräle, angesehene Wissenschaftler und Künstler, Angehörige der alten revolutionären Garde um Lenin, Helden des Bürgerkriegs und Ausländer, Mitglieder des Komintern. Wer es hierher geschafft hatte, war im Kommunismus angekommen.4 

Innerhalb des Hauses etablierten sich sogleich eigene Hierarchien. Am wichtigsten waren die Positionen der Männer in den Rängen von Partei und Regierung oder der berufliche Status. Diese bestimmten Lage und Größe des Appartements. Die Wohnungen mit Blick über den Fluss waren die prestigeträchtigsten.5 Wer es sich leisten konnte oder wollte, brachte seine eigenen Möbel mit oder bestellte sie, manchmal sogar in London.6 Diese Hierarchien spiegelten sich in den Banden der Kinder, die alle dieselbe Schule besuchten und ein feines Gespür für Rangordnungen hatten.

Der Wohnblock sollte seinen Bewohnern alles bieten, was sie im Alltag brauchten, es gab Sportanlagen, Klubräume, Bibliotheken und Geschäfte, medizinische Versorgung, eine Bankfiliale, eine Poststelle und einen Friseur. Die Kombination von Privatwohnungen und Gemeinschaftsräumen mit Dienstleistungen wie der Kantine, dem Kindergarten und der Wäscherei sollte ein Musterbeispiel für die neue, kollektive Lebensweise sein. Aber trotz der öffentlichen Einrichtungen wie dem Kino oder dem Theatersaal mit dem Klub handelte es sich nicht um ein Kommunehaus, denn es gab keine direkten Verbindungen zwischen den Wohnungen und den gemeinschaftlichen Bereichen.7 Das war kennzeichnend für die Zeit: Das 1930 erlassene „Dekret über Maßnahmen zur Transformation der Lebensweise“ beendete die jahrelangen urbanistischen Debatten um Kommunehäuser und die Abschaffung von Küchen in den Wohnungen mit dem Argument, man könne nicht in einem Sprung alle Hürden auf dem Weg zum Kommunismus überwinden. Erst die Industrialisierung des Landes würde die Grundlagen für die neue Lebensweise schaffen. Daher brauche man nun Häuser für den Übergang.8 Da war der Rohbau des Hauses der Regierung längst fertig. 

Schwarze Fensterlöcher

Die Wohnungen waren Inseln geordneten Wohlstandes im Meer des Chaos und des Mangels. Aber froh wurden die Menschen darin nicht, denn sie konnten sich ihres Erfolges keinen Moment lang sicher sein. Die Geschichten ihres Aufstiegs und Falls spiegeln sich in der hohen Fluktuation der Mieter.9 In den Wohnungen lebten im Verlauf der 1930er Jahre oft bis zu zehn Parteien in Folge. In der Wohnung, die seit 1989 als Museum zu besichtigen ist, herrscht eine seltsame Stimmung zwischen dem Luxus von Plüsch und Mahagoni, Fotoapparaten, Schreibmaschinen, Fahrrädern und dem bedrückenden Wissen um die todbringenden Abholkommandos des NKWD. Der Einzug in die Wohnung entpuppte sich oft genug als Höhepunkt einer für die Stalinzeit typischen Lebenskurve, die vom sozialen Aufstieg über eine Phase des Erfolgs jederzeit ins Lager oder in den Tod führen konnte.

Abends verwandelte sich der Block in ein Lichtermeer hell erleuchteter Fenster. Doch 1937 erschienen dunkle Flecken in diesem Meer. Die Welle der Verhaftungen setzte 1936 ein, steigerte sich 1937 und ging 1938 zurück, um schließlich 1939 zu verebben. Rund 800 Bewohner des Hauses fielen dem Terror zum Opfer, einige davon brachten sich aus Angst vor ihrer Verhaftung vorher selbst um. 345 der 505 Wohnungen waren betroffen. Die Angehörigen der Verhafteten mussten in ein Zimmer der für ihresgleichen geräumten Wohnungen umziehen.10 Am Ende der Verhaftungswellen waren nur einige erleuchtete Inseln übrig. Die Wohnungen einzelner Aufgänge waren fast gänzlich entvölkert. Die schwarzen Fensterlöcher machten im Stadtbild Terror, Gewalt und Tod sichtbar. Die Zeitgenossen lasen das Haus an der Moskwa als „Barometer der Säuberungen“, wie sich der Zeitzeuge Lew Rasgon erinnert.11 
Der Schriftsteller Juri Trifonow, der seine Kindheit in dem Haus verbrachte und dessen Vater 1938 verhaftet und erschossen wurde, setzte 1976 mit seiner berühmt gewordenen Erzählung Dom na Nabereshnoi (Das Haus an der Moskwa) nicht nur dem Haus und seinen Bewohnern ein Denkmal, sondern gab ihm auch einen neuen Namen: Haus an der Uferstraße, so die wörtliche Übersetzung des russischen Buchtitels, wurde es erst nach Erscheinen von Trifonows Erzählung genannt.12

Einige der Bewohner verbrachten ihr ganzes Leben in dem Haus. Zahlreiche Wohnungen wurden in der poststalinistischen Ära als Gemeinschaftswohnungen genutzt. In den 1960er und 1970er Jahren zogen einige der alten Bewohner in die neuen Wohnviertel am Stadtrand. In den 1990er Jahren avancierte das Haus an der Moskwa dann zu einer der besten Adressen Moskaus – und damit zur begehrten Immobilie. Immer mehr Wohnungen wurden von vermögenden Russen gekauft und luxuriös renoviert. Wieder kam es zu Vertreibungen, nur unter anderem Vorzeichen. Und wieder leben hier die Privilegierten.


1.Schlögel, Karl (2003): Der Mercedes-Stern auf dem „Haus an der Moskva“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.1.2003, S. 41; wieder abgedruckt auch in: Schlögel, Karl (2017): Das sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt, München, S. 703-715, hier S. 713 
2.Slezkine, Yuri (2017): The House of Government: A Saga of the Russian Revolution, Princeton/Oxford 
3.Kozyrev, Sergei (2000): The House on the Embankment, in: Russian Studies in History 38 (2000) Nr. 4, S. 21–27, hier S. 22 
4.Schlögel, Karl (2017): Das sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt, München, S. 706-708 
5.Slezkine, S. 377 
6.Slezkine, S. 488 
7.Huber, Werner (2007): Moskau: Metropole im Wandel: Ein architektonischer Stadtführer, Köln/Wien/Weimar, S. 49 
8.Slezkine, S. 345-346 
9.Die Listen der Wohnungen mit Bewohnern sind eingestreut in den Band von Koršunov, Michail/Terechova,Viktoria (2002): Tajny i legendy Doma na Naberežnoj, Moskva, S. 44, 49, 54, 62, 72, 98, 104, 112-113, 127, 172, 189, 210-211, 218-219, mit Ergänzungen auf S. 234 
10.Schlögel, Sowjetisches Jahrhundert, S. 712 
11.Razgon, Lev (1993): 1937: l’année terrible, in: Gousseff, Catherine (Hrsg.): Moscou 1918–1941: De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire, Paris, S. 301–311, hier S. 308–309 
12.Dokumentiert haben die Geschichten seiner Bewohner auch die Gründer des Museums: Koršunov/Terechova: Tajny i legendy Doma na Naberežnoj 
Support dekoder
Related topics
Gnose

Poklonnaja-Hügel

Der Poklonnaja-Hügel ist eine der höchsten natürlichen Erhebungen in Moskau. Der Ort besitzt seit dem Mittelalter eine wichtige historische Bedeutung. Heute befindet sich hier mit dem Park des Sieges ein zentraler Gedenkort für die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges.

Gnose

Entstalinisierung unter Chruschtschow

Als Nikita Chruschtschow am 25. Februar 1956 seine Rede beendet hatte, soll tosender Applaus aufgebrandet sein. So vermerkt es das Stenogramm des XX. Parteitags der KPdSU. Zeitgenossen hingegen berichteten von einer tödlichen Stille, die geherrscht haben soll. Jochen Krüger über Chruschtschows Geheimrede, die die Entstalinisierung einleiten sollte.

Gnose

Tauwetter

Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erfuhren eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.

more gnoses
Motherland, © Tatsiana Tkachova (All rights reserved)