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Angstfreiheit als Kunst

Die brennende Tür der Lubjanka – nichts als Provokation ... Der Journalist Oleg Kaschin widerspricht dem vehement. Nicht der Tabubruch macht Aktionisten wie Pjotr Pawlenski zu Künstlern, sondern ihr bewusstes Interagieren mit der Angst – derselben, die den Nicht-Künstler vor jeglichem Handeln zurückschrecken lässt. Die Furchtlosigkeit, sagt Kaschin, ist Pawlenskis Koautor.

Source slon

Das Russland der 10er Jahre – das sind Woina, Pussy Riot und Pawlenski. Einen vierten Namen gibt es nicht, aber auch drei sind schon viel. Drei Mal so viel wie einer und unendliche Male so viel wie null.

Die Erklärungsversuche der Kunsthistoriker, hey Leute, das ist Aktionskunst, eine Tradition, die zum Dadaismus und zu Jackson Pollock hinaufreicht – das alles lenkt nur vom Wesentlichen ab. Wie man in der Wikipedia oft lesen kann: „Dieser Artikel beschreibt ein aktuelles Ereignis.“ Wenn das Ereignis nicht mehr aktuell ist, wird jemand einen Fachbegriff erfinden, so etwas wie Russischer Aktionismus der 2010er Jahre, nur kürzer (vielleicht Woinismus?), jemand wird eine Doktorarbeit schreiben, der nächste ein Buch, der dritte wird die heute einmaligen Aktionen bis ins Abgeschmackte kopieren, und erst dann wird man sagen können, was das eigentlich genau war und worin der Wert liegt – vorerst gibt es hier einfach ein paar Anmerkungen eines Zeitgenossen.

Im spätputinistischen Russland mag vielleicht keine Hochkultur entstehen, aber zumindest bietet es als Raum und Zeit ideale Bedingungen für einen kulturellen Durchbruch. Wir erleben eine Übergangsphase zwischen Autoritarismus und Totalitarismus (der freilich nicht unbedingt kommen muss), in der sich offenbart, dass die normalen sozialen Verhältnisse bereits dabei sind, den vom Staat aufgezwungenen Platz zu machen, aber noch gibt es weder Massenverhaftungen noch totale Zensur. Minütlich verändert sich die Lage zum offensichtlich Schlechteren, das kollektive Bewusstsein und mit ihm die einstige Kunst kommen nicht mehr hinterher und werden somit minütlich altmodischer und archaischer, so wie jener Bürger, der dort drüben erbost in dem Kragen Nase und Kinn versteckt.* Die gesellschaftliche Unfreiheit hat noch nicht den Grad erreicht, dass sie jede nicht sanktionierte Aussage verunmöglichen würde. Im Russland des Jahres 1991 (das freiste unserer Generation bekannte Land) wäre ein Pawlenski gleichermaßen undenkbar wie im heutigen Turkmenistan oder Nordkorea (offenkundig die unfreisten Länder überhaupt).

Die spannende Periode der russischen Geschichte, die wir gerade miterleben, könnte vermutlich großes Kino, große Literatur oder Musik hervorbringen, doch die größten Chancen auf einen Durchbruch hatte von Anfang an das, was wir zeitgenössische Kunst nennen, denn eine niedrigere Erwartungshaltung bedeutet immer auch ein Mehr an Möglichkeiten: Einer, von dem man nichts erwartet, ist immer im Vorteil gegenüber den Favoriten. Das postsowjetische Russland fand von Anfang an einen Konsens in Bezug auf moderne Kunst – Schwindelei bis hin zum Betrug sah man darin, nach dem Motto: „Mal hängt eine Installation rum, mal gibts eine Performance.“ Jemand stellt was Seltsames in der Gelman-Galerie aus, ein geldschwerer Depp kommt vorbei, bekommt erklärt, das sei genial, und kauft es – das ist die ganze Kunst. Schock, Provokation und was man sonst für Begriffe im Zusammenhang mit zeitgenössischen Künstlern verwenden mag – jedenfalls ist schon im Voraus klar, was man von so jemandem zu erwarten hat. Was kann da schon Interessantes kommen? Lieber schnell vorbeilaufen.

Foto © Ilya Varlamov

Doch an Woina, Pussy Riot und jetzt auch Pawlenski kommt man nicht einfach so vorbei und das sicher nicht, weil hinter der brennenden Tür ein imaginierter FSB-Wachmann hätte versteckt sein können (auf den Klageruf dieses Wachmanns, er hätte verbrennen können, baute die Hauptargumentationslinie der Pawlenski-Kritiker in den sozialen Netzwerken – fast wörtlich wie in dem Märchen von der dummen Else, die bittere Tränen vergoss, als sie sich vorstellte, wie sie einmal heiraten würde, einen Sohn gebären, wie dieser dann heranwachsen, in den Keller steigen und sich dabei das Genick brechen würde). Der Erfolg dieser Künstler besteht in der richtigen Synthese aus einem gesellschaftlich emotionsgeladenen Thema und der Art seiner Darbietung, aber als entscheidenden Faktor (und falls das ein alter Hut ist, sollen die Kunsthistoriker hier intervenieren) betrachte ich eine dritte Komponente ihrer Aktionen. Herkömmliche Vertreter der zeitgenössischen Kunst brechen Tabus, sie brechen mit Moralvorstellungen und einigem mehr, aber unsere Aktionskünstler dringen in einen Bereich ein, der weder durch Moral noch durch kollektiv empfundene Grenzen des Akzeptablen geschützt ist, sondern durch Angst. Die Angst – sie ist die dritte Komponente, ohne die die neue russische Kunst schlicht nicht existieren würde.

Der herkömmliche Künstler weiß, dass er mit dem Raum, seiner Umgebung, den Passanten, mit was auch immer interagieren muss. Pawlenski aber (genau wie Woina und genau wie Pussy Riot) interagiert darüber hinaus mit der Angst der russischen Bevölkerung vor den Sicherheitsorganen, vor der Kirche, vor der Regierung, vor dem Bullen. Schon längst hat der Spießbürger gelernt, über das Schwarze Quadrat zu sagen, das sei ja keine Kunst, das würde er auch noch hinbekommen; aber das, was Pawlenski gemacht hat – kriegst du das hin? Nein, kriegst du nicht, weil du Angst hast. Angst vor dem Gaischnik auf der Lubjanka, Angst vor dem Gefängnis, Angst vor einem Prozess. Pawlenski hat keine Angst, die Furchtlosigkeit ist sein Koautor. Woher sonst kommen die ewigen, seit den Zeiten von Woina unablässigen Gerüchte und gegenseitigen Beschuldigungen innerhalb der Szene, man würde für die Sicherheitsorgane, die Polizei oder den Kreml arbeiten? Warum sonst sollte er keine Angst haben? Es fällt uns leichter, Furchtlosigkeit auf Verschwörungstheorien zu schieben. Der Gedanke an echte Furchtlosigkeit ist schier unerträglich.

Unter Kritikern ist es mittlerweile ein Allgemeinplatz zu sagen, Pawlenski würde keinen solchen Erfolg haben, wenn der Staat sich anders verhielte. Sicher, aber man sollte auch bedenken, dass die Gerichts-Rituale, in denen seine Aktion ihre Fortsetzung finden, nur ein kleiner Teil jenes Verhaltens staatlicherseits sind, das Pawlenski zu Pawlenski macht. Die staatliche Sphäre, mit der er in seinen Aktionen interagiert, ist riesig und hat mit ihm selbst kaum Berührungspunkte, aber die von ihm in Brand gesteckte Tür brennt überall: In Kaliningrad, wo das Gerichtsverfahren gegen Aktivisten, die über einer Geheimdienst-Garage die deutsche Flagge gehisst hatten, mehr als anderthalb Jahre andauerte; in Wladiwostok, wo der Prozess gegen die Partisanen von Primorsk noch immer läuft; und im gesamten Gebiet zwischen Kaliningrad und Wladiwostok, wo es genau die gleichen Gerichte, genau die gleiche Polizei und überhaupt genau das gleiche von allem gibt. Die zweiflügelige massive Eingangstür zu 63.050 Rubel und 19 Kopeken [905,27 EUR], die lichtreflektierende Polizeiweste, der doppelköpfige Blechadler auf dem staubig-roten Samtstoff und davor eine Frau mit Robe, die etwas herunterleiert, das dein Schicksal für die nächsten Jahre bestimmt – so sieht Russland wohl heute aus. Und was den Künstler von uns, von den Bürgern unterscheidet ist Folgendes: Er macht aus diesem Russland mit seinen eigenen Händen etwas, das selbst die konsequentesten Regimekritiker in angstbeladene Hysterie versetzt, etwas, das zum Streiten zwingt, zum Nachdenken, zum Verrücktwerden. Es gibt die Meinung, dieses Russland tauge ohnehin zu nichts anderem – dann wäre Pawlenski überhaupt der Einzige, der es schafft, diesem Land etwas abzuringen.


*aus dem Gedicht Zwölf von Alexander Blok, Übers. Alfred Edgar Thoss: Der Bürger dort drüben versteckt erbost / in dem Kragen Nase und Kinn; bei Paul Celan: Drüben der Burschui, Nas’ im Mäntlein
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Woina

Die Gruppe Woina führte in Russland in den Jahren 2007 bis 2010 spektakuläre Aktionen durch, die auch auf Internetforen rege diskutiert wurden. Woina griff aktuelle Themen der russischen Gesellschaft auf (zunehmend autoritäre Regierung, Fremdenhass, Homophobie)  und inszenierte sie als politische Konzeptkunst.

Die Künstlergruppe Woina (dt. Krieg) formierte sich im Atelier des Künstlers Oleg Kulik, der während der neunziger Jahre in Performances als nackter bellender Hund Aufsehen erregt hatte.1 Später äußertе sich Kulik jedoch sehr skeptisch über die Gruppe Woina und beschuldigtе sie, durch ihre provozierenden Aktionen dem repressiven Regime Putins in die Hände zu spielen.2 In der Tat wurden die Stunts von Woina von den meist regierungskritischen Internet-Usern als mutige Ersatzhandlungen für die eigene politische Passivität begrüßt, in der breiten Öffentlichkeit hingegen überwog Unverständnis und Ablehnung.

Neben Kulik  war der Moskauer Konzeptualist Dimitri Prigow eine weitere wichtige Inspirationsquelle für Woina. Nachdem er am 16. Juli 2007 gestorben war, fand zu seinen Ehren am 25. August 2007 die Aktion „Das Leichenmahl“ statt: In einem Metrowaggon, der auf der Moskauer Ringlinie verkehrte, wurden Tische und Speisen aufgestellt. Zu Ehren des Verstorbenen rezitierten die Aktionskünstler inmitten der regulären Passagiere Gedichte, aßen und tranken. Damit sollte die Wertschätzung für Prigows revolutionäre Kunst direkt in die Mitte der Gesellschaft getragen werden.

Bald übernahm Oleg Worotnikow die Führungsrolle in der Gruppe Woina. Als Hauptziel der Aktionen nannte er die „Desakralisierung des Regimes“: Die quasi-religiöse Selbstinszenierung der Staatsmacht sollte durch karnevalistische Aktionen der Lächerlichkeit preisgegeben werden.  Allerdings wurde Worotnikows Autorität von den übrigen Mitgliedern immer wieder in Frage gestellt, weil Woina ja gerade einen Gegenentwurf zur hierarchischen russischen Gesellschaft präsentieren wollte.

Breite Aufmerksamkeit erhielt die Künstlergruppe mit der Aktion „Fick für einen Nachfolger des Bärchens“, die am 28. Februar 2008 in einem Moskauer Biologie-Museum stattfand. Nackte Paare vollzogen den Geschlechtsakt, während der Titel der Aktion auf einem Poster präsentiert wurde. Die Aktion spielte auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen an, die mit Dimitri Medwedew einen willfährigen Putin-Vertrauten an die Macht brachte („Bärchen“ ist ein Spitzname für Medwedew). Die Aktion, die in der russischen Öffentlichkeit schnell als pornographisch gebrandmarkt wurde, parodierte einerseits das nationale Programm zur Anhebung der niedrigen Geburtenzahl und kritisierte andererseits die bereits absehbare Ablösung Medwedews durch Putin in den Präsidentschaftswahlen 2012. Mit der umfassenden Dokumentation der Aktion auf seinem Blog etablierte sich Alexej Pluzer-Sarno als PR-Manager der Gruppe Woina.

In aller Deutlichkeit zeigte sich der politische Anspruch von Woina in den Aktionen „Sturm auf das Weiße Haus“ (2008) und „Der FSB hat den Schwanz eingesperrt“ (2010).3 In der ersten Aktion wurde mit einem Beamer eine gigantische Piratenflagge auf das Weiße Haus, den Sitz der russischen Regierung in Moskau, projiziert. Die zweite Aktion fand in Sankt Petersburg statt. Auf eine der Zugbrücken wurde ein 65 Meter großer Penis gezeichnet, der erst beim Hochziehen der Brücke sichtbar wurde. Die Brücke befand sich direkt vor der Petersburger Zentrale des Geheimdienstes FSB. Mit dieser Aktion realisierte Woina eine derbe Metapher, die als Redewendung jedem Russen geläufig ist. In beiden Fällen schritt die Polizei schnell ein: Die Projektion auf dem Weißen Haus war für 22 Sekunden sichtbar, der Phallus immerhin für zwei Stunden.4 Mit beiden Aktionen führte Woina vor, wie man mit subversiven Zeichen das Monopol der Regierung auf die Inszenierung der eigenen Macht stören kann.

Sankt Petersburger fotografieren sich vor der Zugbrücke nach der Aktion „Der FSB hat den Schwanz eingesperrt“. Quelle - bigpicture

Die Konflikte mit der Justiz nahmen nach der Verhaftung der beiden Aktivisten Oleg Worotnikow und Leonid Nikolajew im November 2010 rasant zu. Nikolajew tauchte nach Verbüßung einer mehrmonatigen Haftstrafe unter und starb 2015 in Moskau nach einem Arbeitsunfall. Die beiden Woina-Mitglieder Nadeschda Tolokonnikowa und Jekaterina Samuzewitsch engagierten sich in der Gruppe Pussy Riot und wurden nach einer aufsehenerregenden Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale zu einer zweijährigen Lagerstrafe verurteilt. Sie kamen erst nach einer Amnestie im Vorfeld der Olympischen Winterspiele in Sotschi wieder frei. Oleg Worotnikow setzte sich mit seiner Familie nach Westeuropa ab. Heute existiert die Gruppe Woina nur noch im virtuellen Raum und betreibt einen eigenen Twitter-Account.

Die Aktionskünstler während der Aktion „Das Leichenmahl“ zu Ehren Dimitri Prigows in der Moskauer Metro. Quelle - bigpicture

1.Dieser Text beruht auf einem Kapitel meines Buchs: Schmid, Ulrich (2015): Technologien der Seele: Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur, Berlin, S. 258 ff.
2.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Die russische Kunst-Guerilla
3.bigpicture.ru: Lučšie akcii skandalʼnoj moskovskoj art-gruppy „Vojna“
4.Ėpštejn, Alek (2012): Total’naja vojna: Art-aktivizm ėpochi tandemokratii, Jerusalem/Moskau/Riga, S. 62-192
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