UPDATE (30. Mai, 16.45 Uhr): Arkadi Babtschenko ist am Leben. Gemeinsam mit dem ukrainischen Geheimdienst SBU gab er eine Pressekonferenz vor Journalisten in Kiew. Die Mordinszenierung hat im russischen Internet heftige Debatten ausgelöst, die wir in unserer Debattenschau abgebildet haben.
Juri Saprykin, Autor des unten stehenden Nachrufs auf Babtschenko, schreibt unterdessen auf Facebook:
Wisst ihr was? Er lebt, Gott sei Dank. Nicht eines der gestern Nacht geschriebenen Worte nehme ich zurück. Zugleich hat sich Valentina Iwanowna M. als Mensch gezeigt. Und diesen, hm hm, schwierigen Gefühlskomplex, den die neuesten Nachrichten hervorrufen, werden wir irgendwie überleben (genau wie es jetzt auf allen Seiten richtig wäre, für ein paar Wochen die Sozialen Netzwerke zu kappen und sich keinem Fernseher zu nähern).
Am 29. Mai wurde der russische Journalist und Schriftsteller Arkadi Babtschenko im Treppenhaus seines Wohnhauses in Kiew erschossen. Hinterrücks, was an die Ermordung anderer Regimekritiker erinnert, wie etwa an die des Oppositionspolitikers Boris Nemzow. Ein Schwall von Beschuldigungen erfüllt heute die Sozialen Netze. Tenor: Babtschenko sei für das System Putin genauso unbequem gewesen wie Nemzow, sein Tod sei seiner massiven Kritik am System geschuldet. Beweise bleiben aus, wahrscheinlich wird man nie den eigentlich Schuldigen finden und verurteilen, genauso wie im Fall Nemzow. Unmittelbar nach Babtschenkos Ermordung in Kiew begannen gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen ukrainischen und russischen offiziellen Stellen.
Babtschenko betrieb eine Art aktivistischen Journalismus. Putin sei ein Faschist, Russland sei Mordor – mit solchen Provokationen und Übertreibungen sprach der Journalist vielen aus der Seele, auf Facebook hatte er über 190.000 Follower. Sein Ton war oftmals wütend und schonungslos, seine Wortwahl Mat-durchsetzt. Er brach bewusst Regeln des klassischen Journalismus – was ihm Freunde, aber auch viele Feinde einbrachte – und verschaffte sich damit eine einzigartige Stellung in der russischen Medienlandschaft.
Neben seinen wütenden Kommentaren zum politischen Tagesgeschehen in Russland und im Donbass rief Babtschenko oft dazu auf, für karitative Zwecke zu spenden. Obwohl er in seinem Blog oftmals seine Mittellosigkeit ansprach, adoptierte seine Familie sechs Heimkinder.
Im Februar 2017 verließ der Moskauer Journalist Russland in Richtung Prag; laut Eigenaussage, weil er gewarnt wurde, dass sein Leben in Moskau nicht mehr sicher sei. Im August 2017 kündigte er an, „auf einem NATO-Panzer zurückzukehren“. Von Prag ging er zunächst nach Israel, später in die Ukraine.
Babtschenko sprach oft über den Tod. Er kämpfte in beiden Tschetschenienkriegen, als Kriegsreporter berichtete er auch über die Gräuel im Donbass. Seine Bücher über einzelne Kriegsgeschehnisse sind auch auf Deutsch erschienen, zuletzt der Band Ein Tag wie ein Leben (2014). Einige Male schrieb er darüber, wie er dem Tod entronnen sei. Letztes Jahr ist der Journalist gefragt worden, ob es ihm Angst mache, jetzt zu sterben. Es „macht immer Angst zu sterben“, sagte er, „vor zwanzig Jahren und auch jetzt. […] Ich will mehr leben, als sterben.“
Er war ein Mensch des Krieges. Er hat ihn gesehen, und er hat viel von ihm verstanden.
Vor rund drei Jahren hat Colta.ru auf einer Veranstaltung eine Reihe von Kurzfilmen gezeigt, in denen DNR- und ATO-Kämpfer von den Filmemachern begleitet wurden. Nach der Vorführung sagte Arkadi Babtschenko, der Film sei natürlich interessant, aber es käme zu keinem Finale, in gewissem Sinne könne es auch gar keines geben. „In den ersten ein zwei Monaten gibt es noch die Chance, [die Kämpfe – dek] zu stoppen, später aber, wenn alles durcheinander geht, dann ist der Krieg, sofern er nicht ausbrennt und erlischt, nicht mehr zu stoppen. Ich bin gar nicht so sehr verschreckt durch das, was wir gesehen haben, sondern eher davon, wie lange es noch dauern wird und wohin das alles führt, auch für uns.“
Babtschenko hat in beiden Tschtschenienkriegen gekämpft und war als Kriegskorrespondent in Südossetien. Über seine Kriege hat er in der Erzählung Alchan Jurt geschrieben, die 2002 in der Literaturzeitschrift Nowy Mir erschien, und in Kurzgeschichten, die in das Buch Woina (dt. „Krieg“) eingingen. Babtschenko selbst sagte dazu: „Das ist keine Literatur, das ist Rehabilitation.“
Wie viele, die Krieg miterlebt haben, schreibt er, dass es beinahe unmöglich ist, aus einem Krieg zurückzukehren, ihn aus sich herauszuätzen. Er selbst ähnelte, sogar äußerlich, einem Soldaten nach der Entlassung aus dem Kriegsdienst: gleichzeitig locker und konzentriert, als wäre er jeden Moment bereit, sich in den Kampf zu stürzen oder in Deckung zu gehen. Sogar sein Nickname im LiveJournal [Starschina Sapassa, dt. „Reserveältester“ – dek], sah nicht aus wie ein geheimnisvolles Bilderrätsel oder gekünstelt Pseudonym, sondern wie eine Zeile aus dem Truppenausweis.
Ein Soldat schaut anders auf die Welt als ein Zivilist, und das Pathos des Publizisten Babtschenko kann man in einer Frage auf den Punkt bringen: Warum seht ihr denn das Offensichtlichste nicht? Angefangen mit dem berühmten Posting im LiveJournal über ein Schneeräumfahrzeug (laut Babtschenko hätten die Teilnehmer der Proteste im Winter 2012 dieses Fahrzeug klauen und in Richtung Lubjanka lenken sollen, um die dortigen Sperrungen zu durchbrechen – dafür blühte ihm gleich ein Strafverfahren), spricht er beinahe wie mit unverständigen Kindern: Versteht ihr denn nicht – ein erlaubter Protest ist kein Protest, eine mit gewaltsamen Methoden angegliederte Krim ist nicht Russland, das, was im Donbass vor sich geht, das ist Krieg, das ist Schande; und an all dem Schuld ist kein abstraktes „Wir“, sondern seid ganz konkret ihr – die, die brav gewählt haben und die, die keinen Widerstand geleistet haben. Ihr, die Zivilbevölkerung, die ihr das Offensichtlichste einfach nicht seht.
Schon klar, wie aus Babtschenkos Position heraus seine Moskauer Gesinnungsgenossen wirkten: wie schwache, zu endlosen Kompromissen bereite Konformisten. „Sie standen mit weißen Luftballons im Pferch und gingen dann auseinander.“
Seine Haltung von unbedingter moralischer Richtigkeit schreckte viele ab. Sein Konzept von kollektiver Verantwortung – in dem die Schuld für das vergossene Blut der letzten Jahre nicht nur bei denen liegt, die Hand angelegt haben, sondern bei jedem, der nicht aktiv Widerstand geleistet hat, sprich: bei praktisch allen Bewohnern Russlands – war dermaßen ungemütlich, dass man es häufig auf die angeschlagenen Nerven oder die schwierigen Lebensumstände schieben wollte. Babtschenko war jedoch bereit, bis zur letzten logischen Grenze darauf zu beharren, und diese Grenze war immer wieder der Tod.
In Postings weigerte er sich demonstrativ, Trauer zu zeigen für aus dem Leben geschiedene Landsleute – ob bei bekannten Schauspielern oder den Opfern der TU-154-Katastrophe – weil diese Russlands Handlungen auf der Krim und im Donbass aktiv unterstützt oder stillschweigend befürwortet hatten. Das verschaffte ihm einen lautstarken und bösen Ruhm. Für die „Trauer-Polizei“, die sich in den vergangenen Jahren auf Facebook und im Fernsehen gebildet hat und die sich auf alle stürzt, die auf ungehörige Weise über Verstorbene schreiben, war Babtschenko das Hauptziel.
Derartige Postings von Babtschenko konnte man tatsächlich nur schwer unterschreiben, und als er dann nach mehrfachen Drohungen Russland verließ, löste das kaum Protest oder Mitleidsbekundungen aus. Der persönliche Krieg Babtschenkos wurde zu einem Partisanen-Ritt in ferne Grenzgebiete der Moral und Ethik, wohin zu gehen nur wenige bereit waren. Manchmal schien es, als würde der Autor bereits automatisch die vom Publikum geliebte Todesnummer abspielen, um damit gleichzeitig eine Welle des Hasses und eine Lawine mitfühlender Likes auf sich zu ziehen. Aber irgendwo in den Tiefen stand hinter diesen Zeilen trotz allem lebendiger Groll und starker Schmerz. Das Gefühl eines Menschen, der sich in die Schlacht stürzt, ohne über die Folgen nachzudenken; Krieg bleibt Krieg.
Obwohl er sich mit den derbsten Äußerungen zu den sensibelsten Themen einen Namen gemacht hatte, war er doch ein überraschend sanfter Mensch. Ständig fuhr er mal nach Krymsk, mal in den Fernen Osten, half Flutopfern, sammelte Geld, verteilte Lebensmittel und schaufelte selbst im Dreck. In seiner Familie gibt es sechs adoptierte, sehr schwierige Kinder: Das Sorgerecht hat seine Mutter übernommen, gekümmert haben sich alle. Selbst in seinem ständig wiederkehrenden Mantra „Warum habt ihr denn nicht auf mich gehört?“ war kein Hochmut, sondern nur ein müdes Bedauern: Wenn ihr auf mich gehört hättet, 2011 oder ein wenig später, dann wären Tausende noch am Leben, die Menschen im Donbass, die Passagiere des MH17-Flugs, Nemzow, Scheremet und noch viele mehr. Seiner Logik zufolge – hätten wir auf ihn gehört – wäre auch er selbst jetzt noch am Leben. Es fällt schwer Argumente zu finden, um darüber zu streiten – ja, außerdem mit wem denn noch?
Seine Sturheit, Unversöhnlichkeit und seine Überzeugung von der Richtigkeit seiner eigenen Position waren wie aus einer anderen Zeit. Man hätte sie problemlos in einer Altgläubigen-Skite verorten können oder in irgendeinem Bauernkrieg aus der Reformationszeit, und das auf beliebiger Seite.
Es ist absehbar, wie sich die Ermittlungen zu seinem Mord nun abspielen werden: Die Konfliktparteien werden sich endlos gegenseitig die Schuld zuweisen und erklären, wer mehr davon profitiert, der kollektive Putin oder der weltweite Anti-Putin. So ist das postfaktische Zeitalter beschaffen, in dem es angeblich entweder keine Wahrheit mehr gibt oder man unmöglich zu ihr vordringen kann. Für Babtschenko hat es sie zweifellos gegeben und er war bereit, für sie bis zum Äußersten zu gehen. Er war ein Mensch des Krieges, der einst begonnen hat, gegen den Krieg zu kämpfen. Und der Krieg hat sich dafür an ihm gerächt.
Schlaf gut, Soldat.