„Kinderüberraschung“ – so bezeichneten viele Russen Sergej Kirijenko, nachdem dieser 1998, mit gerade einmal 35 Jahren, als jüngster Premierminister des Landes vereidigt wurde. Der Politiker blieb nur rund vier Monate im Amt: Wegen des Staatsbankrotts entließ ihn der damalige Präsident Boris Jelzin schon im August 1998.
Anstatt damit das Karriereende einzuläuten, begann Kirijenkos Aufstieg als Technokrat und Manager, dem vor allem Eines zugeschrieben wurde: Effektivität.
Sechs Jahre diente er als Bevollmächtigter des Präsidenten im Föderationskreis Wolga. Weitere zehn Jahre führte er als Generaldirektor zunächst die Förderale Agentur für Atomenergie und ab 2007 die staatliche Nuklearholding Rosatom. Seit Oktober 2016 ist Sergej Kirijenko stellvertretender Leiter der Präsidialadministration – und damit faktisch Herr über die russische Innenpolitik.
Es ist einfach, Sergej Kirijenko zu unterschätzen. 1962 in Nishni Nowgorod, dem damaligen Gorki, geboren, studierte er bis 1984 an der dortigen Universität für Wassertransport und arbeitete nach dem Militärdienst anschließend von 1986 bis 1991 im städtischen Komsomol.
Im März 1990 wurde er Abgeordneter im Kongress der Volksdeputierten des Gebiets Gorki. Während dieser Zeit lernte er auch Boris Nemzow kennen, der seinerseits als Gebietsvertreter dem Kongress der Volksdeputierten der RSFSR angehörte und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sechs Jahre lang das Amt des Gouverneurs der Oblast Nishni Nowgorod bekleidete. Kirijenko hingegen zog sich aus der unmittelbaren Politik zurück. Nach einem weiteren Studium im Bereich Bank- und Finanzwesen an der heutigen Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst (RANCHiGS) arbeitete er bis 1997 in verschiedenen Unternehmen und Funktionen, darunter als Generaldirektor einer Aktiengesellschaft, als Vorstandsvorsitzender der Bank Garantie und als Präsident des Ölkonzerns NORSI.
Freund von Boris Nemzow
Als Nemzow im März 1997 nach Moskau wechselte, um neben Anatoli Tschubais erster stellvertretender Premierminister und später Energieminister zu werden, verschaffte er auch seinem Freund eine Anstellung. Kirijenko wurde zunächst dessen Stellvertreter und im November 1997 selbst Minister.
Währenddessen spitzte sich die wirtschaftliche Lage im Land zu. Unter dem Eindruck der Krise entließ Präsident Jelzin im März 1998 die Regierung unter Premierminister Viktor Tschernomyrdin und ernannte überraschend den jungen Minister zu dessen Nachfolger. Ihm gefiel die klare und stringente Art des jungen Reformers. Die Staatsduma verweigerte jedoch gleich zweimal die Zustimmung zum Kandidaten des Präsidenten. Erst im dritten Wahlgang wurde Kirijenko am 24. April als Premierminister bestätigt.
Kirijenko = Staatsbankrott
Seine Amtszeit stand jedoch unter keinem guten Stern. Die Asienkrise 1997 hatte in Russland eine Kapitalflucht ausgelöst. Der russische Staat war gezwungen, die Zinsen für Staatsanleihen fortlaufend zu erhöhen, um die Löcher im Staatshaushalt durch ausländische Investitionen auszugleichen. Dadurch verschlechterten sich sowohl die Bedingungen für Umschuldung als auch die Stabilität des Wechselkurses.
Gleichzeitig verringerte ein Preiseinbruch auf den internationalen Rohstoffmärkten, insbesondere bei Öl und Gas, die Steuereinnahmen. Der russische Staat konnte seine Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen. Am 17. August 1998 zog Kirijenko schließlich die Reißleine: Der Rubel wurde um die Hälfte abgewertet, während Schuldung und Tilgung von Krediten für drei Monate ausgesetzt blieben. In der Folge verloren viele Sparer ihr Geld.
Eine Woche später entzog Präsident Jelzin dem jungen Premierminister das Vertrauen. Unter der Bevölkerung blieb der Staatsbankrott fortan mit Kirijenkos Namen verbunden.
Rückkehr in die Politik
Nach seiner Entlassung gründete Kirijenko die politische Bewegung Neue Kraft, die sich zunächst im Dezember 1998 mit anderen liberalen und zentristischen Gruppierungen zum Wahlblock Rechte Sache zusammenschloss. Im Mai 1999 ging diese schließlich in der zusammen mit Boris Nemzow und Irina Chakamada gegründeten Vereinigung Union der rechten Kräfte (SPS) auf. In den Wahlen zur Staatsduma 1999 erreichte die SPS fast neun Prozent der Stimmen und zog erfolgreich ins Parlament ein. Kirijenko wurde Fraktionsvorsitzender. Bei den gleichzeitig stattfindenden Bürgermeisterwahlen in Moskau unterlag er jedoch mit 11,3 Prozent deutlich dem Amtsinhaber Juri Lushkow.
Nach der Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten, wurde Kirijenko allerdings im Mai 2000 zum Bevollmächtigten des Präsidenten im neu gegründeten Föderationskreis Wolga berufen. Damit kehrte er nach drei Jahren in Moskau wieder an seine alte Wirkungsstätte und in seine Heimat, Nishni Nowgorod, zurück. Hier konnte er auf ein dichtes Netz an Bekanntschaften zurückgreifen, die ihm eine effektive Steuerung der Regionalpolitik im Sinne des Kreml ermöglichten. Gleichzeitig machte er durch effizientes Personalmanagement, öffentliche Ausschreibungen und echten Wettbewerb auf sich aufmerksam.
Außerdem förderte er die Zusammenarbeit zwischen Behörden, Unternehmen und der Zivilgesellschaft.
Effektiver Manager
Im November 2005 wurde er schließlich von Präsident Putin zum Leiter der mächtigen Föderalen Agentur für Atomenergie ernannt und blieb in dieser Funktion auch nach der Umwandlung der Agentur zur Staatsholding Rosatom im Dezember 2007.
Kirijenko reformierte den gesamten Wirtschaftsbereich der Holding und legte ihr eine neue zentralisierte Struktur zugrunde. Dazu kaufte Rosatom einige bis dahin private Unternehmen auf, führte alte Staatsunternehmen zusammen oder gründete neue, um diese in das eigene Portfolio zu integrieren.
Darüber hinaus gründete Rosatom die National Research Nuclear University, um dort eigenen Nachwuchs auszubilden. Gleichzeitig begleiteten Rosatom während Kirijenkos Amtszeit auch Fälle von Korruption und die Veruntreuung von Geldern. Da er aber stets volle Auftragsbücher vorweisen konnte, wurde er in Fachkreisen immer öfter als ein effektiver Manager wahrgenommen.
Systemliberaler
Diese Effektivität mag ein Grund für Präsident Putin gewesen sein, Kirijenko im Oktober 2016 als Nachfolger von Wjatscheslaw Wolodin in die Präsidialadministration zu holen. Im politischen System Russlands ist das Amt des ersten stellvertretenden Leiters traditionell mit Kontrolle und Koordination von Staatsduma, Parteien und Zivilgesellschaft betraut. Besondere Bekanntheit erlangte dabei ein Vorgänger Wolodins: Wladislaw Surkow. Dieser prägte den Begriff der „Souveränen Demokratie“.
Für die Ernennung Kirijenkos dürfte dessen Nähe zu den Brüdern Michail und Juri Kowaltschuk nicht unwesentlich gewesen sein. Michail Kowaltschuk ist Leiter des bedeutenden Kurtschatow-Instituts für Kern- und Nanotechnologie, Juri Kowaltschuk größter Aktionär der Privatbank Rossija. Die Geschwister werden zum engsten Kreis des Präsidenten gezählt.
Die Personalentscheidung entbehrte dabei jedoch nicht einer gewissen Ironie: Kirijenko war es gewesen, der im Juli 1998 den damals weithin unbekannten Wladimir Putin als neuen Direktor des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) der Öffentlichkeit präsentiert hatte.
In der russischen Presse wurde die Ernennung Kirijenkos, der als ein sogenannter Systemliberaler gilt, weithin positiv aufgenommen und mit Erwartungen an einen offeneren Umgang mit der Zivilgesellschaft verbunden. Bisher haben sich diese Hoffnungen jedoch nur bedingt erfüllt.
Kirijenkos Hauptaufgabe wird es indes vielmehr sein, den reibungslosen Ablauf der Präsidentschaftswahlen im März 2018 zu gewährleisten. Vielleicht ist der effektive Manager noch für eine Überraschung gut.