Seit dem Beginn der Großinvasion Russlands in die Ukraine sind laut Schätzungen mehr als eine Million russische Soldaten getötet oder verletzt worden. In Materialschlachten verliert der Aggressor ungleich mehr Technik, Militärexperten stellen zunehmende Nachschubprobleme fest. Den Mangel an Ausrüstung gleicht Russland durch Personal aus, das in der Strategie des Zermürbungskriegs als Kanonenfutter verheizt wird.
Trotz hoher Verluste scheinen Russland die Sterbewilligen nicht auszugehen: Erklären lässt sich das einerseits mit verlockend hohen Geldsummen für die Soldaten und ihre Angehörigen, andererseits mit Zwang oder Perspektivlosigkeit. Manche Beobachter sehen zudem spezifische Weltbilder hinter der Motivation und argumentieren etwa, dass der Amoralismus systemisch sei.
Das russische Onlinemedium Verstka hat sich dagegen die Rekrutierungsindustrie selbst angeschaut: von den Staatsbetrieben, die zur Rekrutenanwerbung verpflichtet werden, über die professionellen Anwerber bis hin zu Privatpersonen, die ihre Freunde und Verwandte überzeugen sollen, am besten gleich an die Front zu gehen.
„Ich müsste die Zustellungsbescheinigung unterzeichnet kriegen“
Im Herbst 2024 standen zwei Männer in einem Lebensmittelladen in Lipezk an der Kasse, um Wasser und Zigaretten zu kaufen. Der eine, Konstantin, zahlt. Er ist kräftig gebaut, hat graue Haare und ist ein hochrangiger Beamter in der Region. Der andere heißt Artur, ist schmutzig und riecht nach Alkohol.
Die beiden steigen in einen schwarzen Geländewagen.
„Du kannst dein Leben ändern“, meint Konstantin, der am Steuer sitzt. „Was hast du denn schon? Du bist allein, arbeitslos und bettelst.“
Die Männer betreten ein Backsteingebäude, wo man sie außer der Reihe als „gerngesehene Gäste“ empfängt.
„Ich hatte befürchtet, dass sie uns nicht reinlassen. Der Typ war in einem echt schlechten Zustand, vom Rand der Gesellschaft. Aber die Mitarbeiterin meinte: ‚Super‘, nach dem Motto: Herein mit ihm.“, erinnert sich Konstantin später. „Der Junge meinte dann aber: ‚Ich habe mich noch nicht entschieden‘, woraufhin sie sagte: ‚Wie – nicht entschieden? Wer soll uns denn dann verteidigen?‘ Dann hat sie ihn derart honigsüß bequatscht, da hätte jeder unterschrieben.“
Während man dem arbeitslosen jungen Mann etwas von Zahlungen und „heiliger Pflicht“ erzählte, ging der Beamte ins Büro der stellvertretenden Leiterin des Rekrutierungsamtes.
„Ich müsste die Zustellungsbescheinigung unterzeichnet kriegen“, bat er und bekam sofort das Papier. Für die „Beschaffung“ des Neurekruten steht Konstantin eine Belohnung von 50.000 Rubel [530 Euro – dek.] zu, wenn der neue Rekrut durch die Musterung kommt und tatsächlich an die Front geht.
„Der Kerl hätte sich sonst totgesoffen“
In den drei Kriegsjahren hat sich die Anwerbung russischer Soldaten für die Front zu einem lebhaften Markt entwickelt: Hinter einem unterschriebenen Vertrag stehen oft Auftraggeber, sprich eine staatliche Einrichtung, und Auftragnehmer, sprich ein Anwerber, der Rekruten herbeischafft. Tausende Männer, die an die Front ziehen, erfüllen mit ihrer Unterschrift die Planvorgaben regionaler und städtischer Behörden und sind sich dessen oft nicht bewusst.
Wenn jemand durch Telegram-Kanäle scrollt oder mit Nachbarn über die erhöhten Zahlungen für eine Teilnahme an der „militärischen Spezialoperation“ redet, weiß er womöglich nicht, dass derweil „Anwerber“ um ihn als „Kunden“ buhlen. Das sind unter Umständen ehemalige Personalmanager, die jetzt über Mittelsmänner mit den Rekrutierungsämtern zusammenarbeiten. Oder Mütter in Erziehungszeit, die wissen, wie man auffällige Anzeigen gestaltet und in den sozialen Medien platziert. Oder einfach Leute mit einem großen Bekanntenkreis und beträchtlichem Überredungstalent.
Wer beharrlich genug ist und einen neuen Rekruten an die Front bringt, erhält als Provision zwischen 5000 [53 Euro] und 350.000 Rubel [3800 Euro].
Auch Artur war auf diese Weise in den Wagen des Lipezker Beamten gelangt, der ihn direkt zum Rekrutierungsbüro brachte. Zuvor hatten die lokalen Behörden Planvorgaben für die Anwerbung von Soldaten erhalten. Und Konstantin, der ebenfalls seine Sollzahlen auf dem Schreibtisch hatte (vier Rekrutierte pro Monat), wandte sich an einen Anwerber: Ein Kleingangster aus der Nachbarschaft übernahm die Suche.
„Er fand für mich einen passenden Jungen, eben Artur“, erinnert sich Konstantin. „Das läuft alles ganz korrekt. Der Kerl hätte sich sonst totgesoffen oder wär an einer Überdosis krepiert. Ich habe ihm erklärt: Hör zu, du kriegst Geld. Und bist ein Ehrenmann, wenn du zurückkommst.“
Der junge Mann erschien dann nicht zur medizinischen Musterung, war abgesprungen. Später, so der Beamte, habe ein weiterer Anwerber mit ihm gesprochen, aber auch der schaffte es nicht, ihn an die Front zu bringen. Es stellte sich nämlich heraus, dass Artur beim psychiatrischen Dienst registriert und nicht diensttauglich ist.
Kaffee mit Brötchen
Mitarbeiter der Rekrutierungsämter berichten, dass sie täglich Anwerber sehen und sie am Typ erkennen können.
„Meist sind es Frauen“, meint Jaroslaw, ein Mitarbeiter des Moskauer Bürgermeisteramtes, der in Moskaus zentraler Musterungsstelle arbeitet. „Sie stehen da, spähen jemanden aus, nehmen ihn an die Hand. Wenn sie Crocs und Leggings, einen dicken Bauch und Kekse dabeihaben, dann gehören sie zu uns, zu den Mitarbeiterinnen des Rekrutierungsamtes. Wenn sie einen engen Minirock anhaben und grell geschminkt sind, dann weiß der Henker, wo sie herkommen. Die Netze werden an unterschiedlichen Stellen ausgeworfen.“
„Das sind zwielichtige Gestalten berichtet Dmitri, ein Militärangehöriger, der in einer der fernöstlichen Regionen Russlands die Neurekrutierten auf ihren Dienst vorbereitet. „Die kontaktieren alle – aus der Mittelschicht, welche von ganz unten, Junkies, Leute, mit denen sie selbst früher gesessen haben …“
„Die begleiten dich durch alle Musterungskommissionen, Hauptsache, du hilfst bei der Erfüllung der Planvorgaben konkreter Organisationen, zum Beispiel der Wasserwerke, oder etwa eines Kindergartens“, meint Dmitri. Ihm ist aufgefallen, dass die Kandidaten oft Männer sind, die Schulden oder Kredite laufen haben; außerdem interessiert es sie nicht, dass die Anwerber damit Profit machen.
„Während sie in der Schlange warten, bringen die Anwerber ihnen Kaffee und Brötchen. Die Neurekruten haben noch nie im Leben ein nettes Wort zu hören bekommen. Das ist schlimm mit anzusehen.
Die Vermittler schlagen vor, dass die Kandidaten sich in verschiedenen Regionen melden, in denen sowohl die Zahlungen als auch die Zusatzbedingungen variieren. Einen aktuellen Überblick über den Sold und die Vergünstigungen, die in den russischen Regionen gelten, bieten die Telegram-Kanäle, in denen stündlich neue Reklamebanner mit Telefonnummern der Betreuer auftauchen.
Sie vermitteln den Eindruck, dass sich selbst die Risiken im Krieg noch reduzieren lassen, wenn man die Hilfe zuverlässiger Leute in Anspruch nimmt. Olga beispielsweise verspricht Kurse für Drohnen-Piloten in Jaroslawl. Andrej stellt eine Stationierung als Fahrer im Hinterland in Aussicht. Georgi garantiert alle sechs Monate einen Urlaub.
Sie alle sind bereit, ein Flug- oder Bahnticket und eine Unterkunft mit Vollpension während der Musterung zu bezahlen. Kaum jemand von ihnen bekommt seine zu rekrutierenden Schützlinge lebendig zu Gesicht.
Das gilt vor allem für eine weitere Kategorie von Anwerbern: „Home-Office-Headhunter“, die online für den Krieg rekrutieren.
„Individuelle Betreuung und Sicherheit“
„Ich weiß nicht, was mit ihnen danach geschieht. Meine Aufgabe ist es, dass sie erscheinen und den Vertrag unterschreiben. Weiter gibt es keinen Kontakt, keine Verbindung mehr.“
Verstka steht in schriftlichem Austausch mit einer Anwerberin Namens Viktoria. Ihrem Profilbild zufolge ist sie eine Blondine mit verlängerten Wimpern und tiefem Dekolleté. Auf Telegram-Kanälen verspricht sie eine „angemessene Auswahl von Patrioten“ und illustriert ihre Posts mit dem Bild eines Soldaten in Helm und Matrosenshirt.
Viktoria verspricht, dass sie mit ihrer Hilfe an die Front kommen würden, ohne Musterung und auch mit Hepatitis oder HIV, Vorstrafen oder einem Eintrag im Drogenregister.
Die älteren Kinder eines Neurekrutierten könnten auf Staatskosten eine Hochschule besuchen, die jüngeren würden kostenlos ins Ferienlager fahren. Der Familie würden Schulden von bis zu 10 Millionen Rubel [106.000 Euro] erlassen und sie könne ein Landstück von 1000 Quadratmetern erhalten. Falls ein Gerichtsverfahren anhängig ist, würde das ausgesetzt. Das ist nur ein kleiner Teil der versprochenen Vorteile.
Dutzende Männer wählen Viktorias Nummer oder schreiben ihr.
Verstka hat Viktoria zu den Details ihrer Arbeit befragt. Sie zählte die Vorteile auf: Einnahmen von 300.000 Rubel [3200 Euro] pro Monat, flexible Arbeitszeit, Teilzeit möglich.
Viktoria war vorher einige Jahre als Personalerin tätig. Sie meint, wenn sie jetzt Soldaten für den Krieg anwirbt, sei es das gleiche Berufsfeld; das Verfahren „stellt keinerlei Schwierigkeit dar“.
Sie habe sich an die „schwierige Klientel“ und die „völlig kaputten Männer“ gewöhnt, meint Viktoria. Trotzdem ist sie mit allem zufrieden und bedauert lediglich, dass sie so viel Zeit verschwendet hat:
„Wenn ich schon eher von dieser Geschichte gewusst hätte, hätte ich längst viel mehr verdient. Zehn Mal mehr als bei meinem Hauptberuf.
„Provisionssummen für den Anwerber pro Neurekrut“
Die Rekrutierungsmanager legen gewöhnlich die Namen der Firmen oder Auftraggeber, für die sie arbeiten, nicht offen. Sie nennen auch nicht die Summen, die sie verdienen, und verweisen lediglich auf eine breite Spanne der Honorare.
Auf einem Internetportal für staatliche Aufträge entdeckte Verstka vier Anzeigen von Firmen, die Freiwillige für den Krieg liefern sollen und hierfür Hilfe suchen. Drei waren von der Städtischen Stromnetzgesellschaft in Chanty-Mansisk.
Für die „Suche und Auswahl von Kandidaten zur Anwerbung für eine Vertragsunterzeichnung“ ist die Gesellschaft bereit, eine Summe von insgesamt 15,5 Millionen Rubel [166.200 Euro] auszugeben. In den Unterlagen werden zwei genauere „Provisionssummen für den Anwerber pro Neurekrut“ genannt: 150.000 Rubel [1600 Euro] und 190.000 Rubel [2040 Euro]. Das Budget der Stromanbieter ist groß genug, um dem Rekrutierungsamt 90 Männer zuzuführen.
Eine weitere Anzeige zur „Gewinnung von Neurekruten“ kam vom Städtischen Markt Alexandrowsk in der Oblast Wladimir. Am 28. Mai wurde ein Vertrag mit dem militärisch-patriotischen Trainingszentrum Wojewoda abgeschlossen. Er hat eine Laufzeit von einem Monat und sieht eine Provision von 300.000 Rubel [3200 Euro] vor.
Aus den Finanzberichten von Wojewoda geht hervor, dass dessen Einnahmen seit 2024 beträchtlich gestiegen sind. Seither hat das Zentrum „Angebote“ für Vertragssoldaten aus der Oblast Rostow, der Region Krasnodar, Tatarstan und Baschkortostan platziert. Das Minus von 604.000 Rubel [6500 Euro] Ende 2023 konnte Wojewoda in einen Gewinn von jetzt über 46 Millionen Rubel [493.000 Euro] verwandeln.
Um mit der Rekrutierung Geld zu verdienen, muss man sich meist als Einzelunternehmer registrieren, sich auf dem Werbemarkt auskennen und sich auf eigene Investitionen einstellen. Anzeigen auf großen Telegram-Kanälen können mehrere Hundert Euro kosten.
„Ich habe diesen Monat über 100.000 Rubel [1063 Euro] für Werbung ausgegeben, und es gab überhaupt kein Echo. Das ist die reinste Lotterie. Ich hoffe, das war nur eine Flaute wegen der Maifeiertage“, klagt Viktoria.
Während die Rekrutierer gegen ihre Konkurrenz ankämpfen, bieten die Regionen privaten Anwerbern Verdienstmöglichkeiten und die gleichen Honorare. Man kann zwischen 100.000 [1063 Euro] und 200.000 Rubel bekommen (ohne Kosten für Werbung und Registrierung als Einzelunternehmer), wenn man nicht Fremde zum Rekrutierungsbüro bringt, sondern Angehörige oder befreundete Personen.
„Dort sterben sie wenigstens mit Stolz“
„Sie müssen nicht unbedingt mit ihm herkommen. Er muss einfach nur sagen: ‚Meine Schwester hat mich hergebracht.‘ Oder jemand anderes, vielleicht seine Frau … Und er schreibt seine Aufnahmeerklärung.“
Ein Mitarbeiter des Musterungsamtes in Jaroslawl nimmt am Ende des Arbeitstages einen Anruf entgegen und nennt die Bedingungen des hiesigen Programms, das ironisch mit Kundenwerbeaktionen wie Bring deinen Freund mit verglichen wird. Jedem, der „einen Freiwilligen an das Rekrutierungsamt vermittelt“, versprach die Oblast zunächst 30.000 Rubel [320 Euro], dann sogar 100.000 [1063 Euro].
„Und man muss nicht mal unbedingt mit dem Anwärter mitkommen?“, fragt Verstka nach.
„Nun ja. Er nennt sie ja in seiner Erklärung, mit seiner Unterschrift. Das ist alles; nach einer Woche kommt das Geld.“
„Muss man irgendwie bestätigt bekommen, dass ich es war, die den Anwärter vermittelt hat?“
„Alles nicht nötig. Hauptsache, er wird von der Armee genommen.“
In einem anderen Rekrutierungsamt, in Uljanowsk, wo die Vermittlungshonorare Teil des Sozialprogramms Sabota [dt. Fürsorge] sind, gibt es strengere Auflagen. „Wenn man einen Rekruten vermittelt, ohne ihn persönlich zu begleiten, wird nichts daraus. Dafür sind die Zahlungen hier höher: 150.000 Rubel [1600 Euro].
„Und es ist egal, in welcher Beziehung ich zu ihm stehe?“
„Egal, völlig egal. Spätestens nach zwei Wochen ist das Geld da.“
Offizielle Werbeaktionen für Anwerbungen gab es nur in einigen Regionen, unter anderem in Tatarstan und Baschkortostan. Das Programm läuft „vielerorts“ unter der Hand, sagen Mitarbeiter der Rekrutierungsämter; und Russen erhalten „recht häufig“ Zahlungen für vermittelte Verwandte.
Einige bringen ihre Brüder und Männer aber nicht zum Rekrutierungsamt, sondern zu Anwerbern, die sie über Anzeigen finden – und erwarten dabei keine Entlohnung.
„Die schreiben ganz offen: ‚Schicken Sie ihn bitte dorthin; hier geht er nur am Alkohol zugrunde. Dort sterben sie wenigstens mit Stolz“, erzählt die Anwerberin Jelisaweta gegenüber Verstka.
„Ich will mich nicht als Heilige hinstellen“
Jelisaweta versucht, das Image einer Anwerberin aufzubauen, die einen menschlichen Ansatz verfolgt. Sie erzählt, dass sie den Kontakt mit den Neurekrutierten aufrechterhält, anders als ihre Kollegen. Sie rede mit den Familien, schicke den Soldaten Geld für Zigaretten und sei sogar bereit, ihnen Handys oder Tablets zu schicken, ohne eine Rückzahlung der Schulden zu verlangen. Und jenen, die den Krieg romantisieren, zeige sie Videos mit der Bergung von Soldaten, „mit Leichen, mit durchschossenen Köpfen“.
„Im Internet sagen sie: ‚Ach, Sie wollen als Fahrer dienen? Kommen Sie zu uns, da werden Sie Generäle und Oberste chauffieren.‘ Und hopp, stecken sie ihn in eine andere Uniform, nehmen ihm das Handy ab und schicken ihn in die erste Sturmreihe. Heute habe ich einem jungen Mann erfolgreich abgeraten. Der hatte gefragt: ‚Es stimmt doch, dass in Jaroslawl Drohnen-Piloten ausgebildet werden?‘ ‚Stimmt‘, sage ich ihm, ‚es gibt aber keiner hundertprozentige Garantie.‘ Ich will mich nicht als Heilige hinstellen, aber ich könnte sonst damit nicht leben, sonst wäre es schmutziges Geld“, sagt Jelisaweta. Sie ergänzt dann allerdings, dass durch ihre Vermittlung trotzdem ‚drei von fünf‘ an die Front gingen.
Parallel zu ihren Posts in den Telegram-Kanälen der Anwerber erscheinen Nachrichten von Jelisaweta auch in Emigranten-Chats in Istanbul: Sie suche eine Mietwohnung mit zwei Badezimmern, ein Frühstückscafé mit schöner Aussicht, Kontakt zu einem russischsprachigen Logopäden oder eine Spielgruppe für ein zweieinhalbjähriges Kind. Sie lebt schon seit einigen Jahren nicht mehr in Russland.
Auf die Frage von Verstka, ob sie aus dem Jahr ihrer Tätigkeit etwas bereue, antwortet Jelisaweta sofort: „Ja, bei mindestens drei Fällen.“
„Der erste war kein Russe. Der unterschrieb, fuhr zum Stützpunkt und bekam es dann doch mit der Angst. Er schrieb mir: ‚Jelisaweta, könnten Sie vielleicht irgendwie helfen, den Vertrag aufzulösen? Meine Mutter hatte einen Herzinfarkt, und ich muss nach Usbekistan fliegen.‘ Und mir ist klar, dass ich da jetzt nichts mehr machen kann. Der zweite war ein ganz junger Kerl. Ich schlug ihm statt der Armee eine Arbeit bei einem Wachdienst vor, konnte ihn aber nicht überreden. Nach drei Wochen schreibt er: ‚Ich habe schreckliche Angst.‘ Und jetzt hat er sich schon ein Jahr nicht mehr auf WhatsApp oder Telegram gemeldet.“
Der letzte Schützling, an den sich Jelisaweta erinnert, ist ein mehrfacher Vater, der in den Krieg zog, ohne seiner Familie etwas zu sagen. Er war morgens zur Arbeit gegangen und ging nun nicht mehr ans Telefon. Seine Frau merkte dann, dass im Bad ein Handtuch und seine Schlappen fehlten.
Ich versuchte ihn zu überreden, zu seiner Familie zurückzukehren, aber er sagte: ‚Blockieren Sie meine ganze Familie.‘ Nach einem Monat kam die Nachricht, dass er als vermisst gilt.“
Die Anwerberin meint, diese Fälle hätten sie zweifeln lassen und sie denke oft an den „Boomerang des Lebens“.
„Seit noch ein [Soldat] als vermisst erklärt wurde, mache ich keine Werbung mehr. Ich mache jetzt definitiv eine Pause“, sagt Jelisaweta gegenüber Verstka.
Eine Woche später tauchen ihre Kontaktdaten erneut auf, und zwar auf einem der größten Telegram-Kanäle für Vertragssoldaten.
„Vielen Dank, ihr seid unsere Helden!“, schreibt sie in dem Post und verspricht ein Einkommen von sechs Millionen Rubel [65.000 Euro] pro Jahr.