Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow war die aufsehenerregendste und symbolträchtigste Straftat der vergangenen Jahre in Russland.
Obwohl bald tschetschenische Tatverdächtige ausfindig gemacht wurden, blieb ein gewaltiger Kreis von Fragen offen: War der Mord eine Rache für die politische Tätigkeit Nemzows? Spielten persönliche oder gar religiöse Motive eine Rolle (Nemzow hatte mehrfach den tschetschenischen Republikchef Kadyrow verbal angegriffen und den islamistischen Terrorangriff auf Charlie Hebdo öffentlich verurteilt)? Wieso wurde ein Hauptverdächtiger von den Ermittlungsbehörden überhaupt nicht befragt?1 Wie war es überhaupt möglich, dass praktisch vor den Kremlmauern eine wichtige Person des öffentlichen Lebens regelrecht hingerichtet wurde?
Noch nie ist dieser Fall so detailliert rekonstruiert worden, wie in diesem Material der Novaya Gazeta, das zum ersten Jahrestag des Nemzow-Mordes (am 27. Februar) erscheint. Das Investigativ-Ressort der Zeitung, in dem auch die ebenfalls von tschetschenischen Auftragsmördern umgebrachte Anna Politkowskaja gearbeitet hatte, trägt alle bekannten Fakten zusammen, ergänzt sie durch eigene Recherchen und Wissen aus Insiderquellen und bietet so ein umfassendes Bild des Tathergangs und möglicher Motive.
Ein Schlüsselartikel zur politischen Gewalt in Russland, der in kürzester Zeit Hunderttausende von Lesern im russischen Internet fand.
Wer es war, der am 27. Februar 2015 an der Großen Moskwa Brücke, dreihundert Schritte vom Kreml entfernt, Boris Nemzow ermordet hat – darüber wurde der Russische Präsident bereits am 2. März informiert.
Im Bericht des FSB-Chefs Bortnikow heißt es: Die Attentäter waren eine Gruppe tschetschenischer Silowiki aus dem Bataillon Sewer (Nord) der Inneren Truppen des Innenministeriums der Russischen Föderation (WW MWD RF), vermutlich unter der Leitung des stellvertretenden Bataillonsführers Ruslan Geremejew.
Hotel Ukraina am Tag vor dem Mord: zwei mutmaßlich an der Tat Beteiligte, in der Mitte Ruslan Geremejew, im Vordergrund Tamerlan Eskerchanow - Novaya Gazeta
Am 5. März wurden festgenommen: Saur Dadajew, die Brüder Ansor und Schadid Gubaschew, Tamerlan Eskerchanow, Chamsat Bachajew. Beslan Schawanow kam bei seiner Festnahme ums Leben.
Drei von ihnen sind Mitarbeiter der tschetschenischen Sicherheitsorgane. Dadajew und Schawanow gehören zum Bataillon Sewer, Eskerchanow ist ein entlassener Mitarbeiter der örtlichen Polizeidienststelle im Schelkowski Rajon (ROWD) [in Grosny – dek.], das von Wacha Geremejew geleitet wird – einem Verwandten von Ruslan Geremejew und von dem Staatsdumaabgeordneten Adam Delimchanow. Dazu kommen Bachajew und der jüngere Gubaschew-Bruder, die beide keiner offiziellen Arbeit nachgehen.
Dass die Tat so schnell aufgeklärt wurde, liegt an zwei Dingen: Am „Wer hat es gewagt?“ des Präsidenten und am endlich mal funktionierenden Spionagenetz in der Führung der Tschetschenischen Republik. Die Moskauer Silowiki haben nämlich deren Vorgehen – das nur allzu oft tödlich endet – katastrophal satt.
Allem Anschein nach hat der Mord an Boris Nemzow das Fass auf allen Seiten zum Überlaufen gebracht – noch nie hat es das gegeben: Innenministerium (MWD), FSB, das Russische Ermittlungskomitee (SKR), der Föderale Dienst für Rauschgiftkontrolle (FSKN) und die Generalstaatsanwaltschaft – sonst permanent verfeindet – ziehen hier anfallsartig an einem Strang.
Und es ist auch klar, warum: Mehr als einmal waren kurz vor dem Schuldspruch stehende Strafverfahren gegen tschetschenische Silowiki, die wegen schwerer Verbrechen eingeleitet wurden, ins Leere gelaufen – und die Angeklagten belegt mit Meldeverpflichtungen bei sich zu Hause oder gar im Donbass aufgetaucht.
Warum haben die Mörder Spuren hinterlassen?
Im Grunde haben sich die Attentäter, die bald vor ein Geschworenengericht kommen, nicht besonders viel Mühe gemacht, unterzutauchen – offenbar in der Annahme, dass sie wegen eines „Auftrags des Vaterlands“ nicht verfolgt würden. Keiner von ihnen hat die Patronenhülsen am Tatort aufgesammelt. Keiner hat sich vor den Überwachungskameras versteckt. Selbst das Fahrzeug, ein Saporoshez, wurde vor dem Mord gewaschen und nicht danach. So konnte man genetisches Material, Spuren von Pulvergas sowie eine Dashcam sicherstellen, von der nichts gelöscht worden war. In der Wohnung, die die Verdächtigen angemietet hatten, fand man SIM-Karten, die offensichtlich keiner geplant hatte, wegzuwerfen.
Die verhafteten Personen waren offenbar so schockiert über ihre Verhaftung, dass sie quasi sofort vor laufender Kamera ein Geständnis ablegten. Dabei ist auf diesen Videos bei keinem von ihnen ein blaues Auge erkennbar oder eine leere Sektflasche, die im Hintern steckt (beides haben die Tatverdächtigen später behauptet, nachdem sie sich besonnen hatten).
Mehr noch, diese ursprünglichen Aussagen wurden im Zuge eines speziellen Ermittlungsvorgangs, bei einem Ortstermin, bestätigt: Vor laufender Kamera erzählen Dadajew & Co rege und detailliert, wo sie gestanden haben, wo sie langgelaufen sind, wie sie ihr Opfer beobachtet und ermordet haben. So liegen dem Ermittlungskomitee Geständnisse von Saur Dadajew, Ansor Gubaschew und Tamerlan Eskerchanow vor – die die Verhörten plötzlich widerriefen, als neue Anwälte eingeschaltet wurden. Nun, die Glaubwürdigkeit der ersten wie auch der späteren Aussagen werden die Geschworenen beurteilen, uns soll zunächst genügen, dass es sie gibt.
Was machen tschetschenische Offiziere im Hotel President?
Es stellt sich die Frage: Was machen Offiziere aus Truppen des Innenministeriums, die in einer vollkommen anderen Region Russlands dienen, in Moskau? Diese Frage hängt schon seit gut zehn Jahren in der Luft. Tschetschenien ist das einzige Subjekt der Föderation, dessen Führung in der Hauptstadt eine Gruppe eigener Silowiki unterhalten darf; offiziell sollen sie die Sicherheit hochrangiger Beamter gewährleisten, die aus verschiedenen Gründen nach Moskau reisen.
Bedenkt man, dass selbst das tschetschenische Oberhaupt Ramsan Kadyrow eher selten in Moskau anzutreffen ist, ist das alles noch befremdlicher: Was machen diese Leute hier, die mit Stetschkin-Knarren behangen und mit Dienstausweisen ausgestattet sind, die zudem noch die Durchsuchung ihrer Fahrzeuge verbieten? Hat man jemals von einem Sondereinsatzkommando aus, sagen wir, dem Gebiet Jaroslawl gehört, das den Gouverneur während seines Aufenthalts in der Hauptstadt beschützt?
Nicht zufällig erwähnen wir Jaroslawl: Schon anderthalb Tage nach dem Mord an Boris Nemzow wurde das Oberhaupt dieser Region, in der das Mordopfer die Wahl ins Regionalparlament gewonnen hatte, zügig verhört – er kam von sich aus, gleich nach der ersten Aufforderung, und das nicht zu irgendwelchen angereisten Moskauer Ermittlern, sondern zu seinen eigenen, einheimischen.
Kadyrow hingegen, trotz seines Wissens um die Ermordung und um die Verdächtigen, das er mehrfach auf seiner Instagram-Seite demonstrierte, ist bis heute nicht befragt worden. Und das trotz eines Antrags seitens der Anwälte der Geschädigten – der Familie Boris Nemzows.
Die „für die Sicherheit von hochrangigen Beamten der Republik Tschetschenien zuständigen Mitarbeiter der Sicherheitsorgane“ sind im Hotel President gleich gegenüber dem Innenministerium stationiert. Dort haben sie irgendwann sämtliche Hotelgäste verjagt, mit ihren ausgebeulten Trainingsanzügen, über denen man alle möglichen Waffenarten zu sehen bekommt – von Dolchen bis hin zu Maschinenpistolen.
Es sind allerdings nur die privilegierten Mitarbeiter der tschetschenischen Sicherheitskreise, die durch die Flure des VIP-Hotels an der Ecke zur Jakimanka Straße wandeln. Die taktisch-operativen Gruppen tschetschenischer Silowiki hingegen arbeiten in Moskau im Rotationsprinzip: einige Monate vor Ort, dann kommt eine Ablösung. Sie mieten in der Regel Wohnungen am Stadtrand und bleiben dort unter sich. Sie sind zuständig für die besonders delikaten Aufträge. Dazu gehören: Entführungen, Morde, Erpressungen. Bis zu ihrem nächsten derartigen Einsatz zur Wiederherstellung der verfassungsrechtlichen Ordnung machten es sich die obengenannten Personen im inzwischen geschlossenen Restaurant Prag gemütlich. Dorthin bestellten sie leichte Mädchen, die danach lange wegen unterschiedlicher physischer Leiden in Moskauer Kliniken behandelt werden mussten.
Delikate Aufträge bespricht man in der Regel in der Lobbybar des Hotels Radisson Slawjanskaja, im Restaurant Tatler oder dem Hotel Ukraina oder auch in diversen anderen überteuerten Lokalitäten, deren Besuch sich die Majore und Offiziere der russischen Innenministeriums-Truppen mit ihren Mercedes-Schlitten leisten können.
In eben diesen Lokalen wurden zwischen September 2014 und Februar 2015 auch mehrfach die jetzigen Tatverdächtigen gesichtet, in Gesellschaft von Ruslan Geremejew, dem stellvertretenden Anführer des Bataillons Sewer. Zu ihnen gesellten sich immer wieder Leute, die mit Taschen kamen und dann wieder gingen – mit denselben Taschen, nur dass diese sichtlich leichter geworden waren.
Unseren Recherchen zufolge haben die Kämpfer der taktisch-operativen Gruppe unter Geremejew einen dieser delikaten Aufträge (den Mord an Boris Nemzow nicht eingerechnet) mit Bravour ausgeführt: Aus einem Flugzeug, das auf der Landebahn des Business-Aviation-Flughafens Wnukowo-3 stand, wurde ein Topmanager von Gazprom entführt, der sich reichlicher bedient hatte, als ihm zustand. Innerhalb eines Tages gab er das Geld zurück.
Laut unseren Quellen in Tschetschenien soll übrigens der mutmaßliche Mörder Saur Dadajew eine Zeit lang den Personenschutz des Abgeordneten Delimchanow geleitet haben.
Vorbereitung auf den Mord
Im September 2014 wurden in der Wejernaja Straße in Moskau zwei Wohnungen angemietet. Mieter der einen war Artur Geremejew, ein Verwandter von Ruslan Geremejew. Die andere mietete Ruslan Muchutdinow, der Fahrer von Ruslan Geremejew und selbst ebenfalls Mitarbeiter des Bataillons Sewer. (In dieser Wohnung wurde übrigens noch ein weiterer Offizier des tschetschenischen Innenministeriums gesehen, mit dem Namen Chatajew, aber er taucht bislang nicht im Verfahren auf). In der von Muchutdinow angemieteten Wohnung richteten sich dann Dadajew und seine Truppe ein und begannen ihre Arbeit gemäß der bestehenden „Ausschreibung“.
Was ist in diesem Zusammenhang eine „Ausschreibung“? Wenn es ein unerwünschtes „Objekt“ gibt, dessen Existenz entscheidenden Leuten das Leben schwer macht, erhebt sich in den taktischen Kampftruppen, die sich in Moskau verborgen halten, ein Ruf: Der und der für so und so viel. Und wer es dann als erster schafft, die Sache zu erledigen, bekommt das Geld.
Im August 2014 wurden vier Namen ausgeschrieben: Boris Nemzow, Michail Chodorkowski, Alexej Wenediktow und Xenija Sobtschak. Die Liste erstaunt insofern, als dass diese Personen in keine finanziellen oder politischen Reibereien mit der Republik Tschetschenien verstrickt waren. Wie dem auch sei, was wir kennen, ist der Preis: 15 Millionen Rubel [etwa 220.000 Euro].
Nach dem Flop auf der Großen Moskwa Brücke (Nemzows Mörder wurde festgenommen) wurde die restliche Ausschreibung zurückgezogen, doch für wie lange, das ist eine offene Frage.
Boris Nemzow entpuppte sich als unbequemes „Objekt“ für die Killer. Zum einen führte er kein geregeltes Leben nach dem Schema: zum Arbeitsplatz und dann nach Hause. Er blieb manchmal tagelang in seiner Wohnung, oder er fuhr plötzlich ins Ausland oder nach Jaroslawl, wo er als Abgeordneter arbeitete, und nicht zuletzt fuhr er unglaublich gern mit der Metro. So kostete es viel Zeit, die Kenndaten des Objekts ausfindig zu machen – Zeit, die man viel lieber in den Bars von Moskau verbrachte.
Die Leute, die hinter der Ausschreibung standen, machten allmählich Druck – allem Anschein nach war das die Botschaft, mit der Ende Februar der Offizier des tschetschenischen Innenministeriums Schawanow auftauchte. Also wurde beschlossen, zur Tat zu schreiten, komme was wolle. Ein Detail: Für die Beschattung kamen vier Fahrzeuge zum Einsatz, darunter ein Mercedes mit dem Kennzeichen A007AR, der vermutlich von Ruslan Geremejew genutzt wurde.
Die Ausführung des Mordes
Am 27. Februar gegen 11.00 Uhr positionierten sich die Mörder auf der Malaja Ordynka Straße, wo Boris Nemzow wohnte, und begannen zu warten. Von Nemzow keine Spur. Sein Auto gondelte zum Supermarkt, doch der Besitzer des Wagens blieb daheim. Später dann fuhr Nemzow zum Rundfunk für die Acht-Uhr-Sendung von Echo Moskwy. Um 21.45 Uhr verließ das „Objekt“ gemeinsam mit einer Dame erneut sein Haus und fuhr in Richtung Roter Platz. Boris Nemzow und, wie später bekannt wurde, Anna Durizkaja aßen gemeinsam im Bosco Café zu Abend, einem Café im Kaufhaus GUM. Ansor Gubaschew und Beslan Schawanow schlichen derweil um das Gebäude herum (wie aus den Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras hervorgeht). Nemzow und seine Begleiterin gingen dann zu Fuß zur Malaja Ordynka Straße zurück, über die Große Moskwa Brücke. Dort geschah dann alles. Dadajew kam die Treppe hoch, schoss Nemzow fünf Mal in den Rücken (kein einziger Schuss ging daneben – die langen Trainingsjahre waren nicht umsonst), die Begleiterin des „Objekts“ ließ er unbeschadet, setzte sich in den von Ansor Gubaschew gesteuerten Saporoshez und fuhr davon.
Zwei Schusswaffen waren im Spiel: eine hatten sie zur Absicherung dabei, falls sie verfolgt worden wären. Mit der anderen Waffe – umgebaut aus einer nicht-tödlichen Verteidigungspistole [non-lethal-weapon] – wurde die Tat ausgeführt. Die Patronenhülsen stammten aus verschiedenen Serien, und es ist auch klar, weshalb: trainiert wird auf „wilden“ Schießübungsplätzen (das Ermittlungskomitee hat sie in der Umgebung Moskaus ausfindig gemacht) und die Waffen dabei mit Patronen aus unterschiedlichen Chargen geladen.
Gubaschew und Schawanow haben dann am 28. Februar Moskau über den Flughafen Wnukowo verlassen, das zeigen die Videoüberwachungskameras. Dadajew und Geremejew sind, nachdem sie im Odinzowski-Bezirk im Moskauer Umland an einem sicheren Ort abgewartet hatten, am 1. März abgeflogen. Zum Flughafen fuhr sie Muchutdinow. Er hat dann auch, vermuten die Ermittler, die Waffen mit dem Auto wieder nach Tschetschenien gebracht.
Um einer Überreaktion ihrer Anwälte vorzubeugen, werden Bachajew, Eskerchanow und Schadid Gubaschew nicht der unmittelbaren, sondern nur der mittelbaren Beteiligung am Mord beschuldigt: Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten Beweisstücke unterschlagen, Personen ausgespäht, in ihren Fahrzeugen Mitglieder der Gruppe transportiert – und sie mit Bratkartoffeln verpflegt.
Die Verhaftung und danach
In den Führungsetagen der russischen Ordnungsbehörden [Justiz- und Innenministerium – dek.] war man außer sich über eine derart laxe Strafverfolgung, von noch weiter oben [Putin – dek.] machte die zornige Frage „Wer war es?“ den Beamten zusätzlich Beine. Also wurde eine Spezialoperation in Gang gebracht.
Man schickte eine Einsatztruppe der Sondereinheiten nach Tschetschenien und Inguschetien, mit dem Auftrag, die Verdächtigen festzunehmen.
Die stellten sich aber selbst ein Bein, indem sie nach Inguschetien fuhren, um Drogen zu besorgen. Ansor Gubaschew und Saur Dadajew wurden auf frischer Tat von Mitarbeitern der Föderalen Drogenbekämpfung Inguschetiens ergriffen und der örtlichen Polizeidienststelle des Bezirks überstellt. Anschließend wurden sie vom Sonderkommando übernommen und nach Moskau auf den Weg gebracht. Gleichzeitig wurden im Odinzowski Bezirk im Moskauer Umland, wo sich die Verdächtigen nach dem Mord versteckt hatten, weitere Mitglieder der Gruppe festgenommen. Übrigens: die Gubaschew-Brüder sind Verwandte von Dadajew. Es ist ein charakteristisches Merkmal von „Tschetschenenmorden“, Leute aus dem eigenen Umkreis zu rekrutieren, damit mehr für einen selbst abfällt (wie auch im Fall Anna Politkowskaja).
Eine Panne gab es nur bei der Festnahme von Schawanow, der sich in seiner Wohnung in Grosny versteckt gehalten hatte. Ein stellvertretender Innenminister Tschetscheniens (der Familienname ist der Redaktion bekannt) ging durch die von den föderalen Sicherheitskräften geschützte Absperrung, danach erfolgten zwei Explosionen und die Verlautbarung, Schawanow habe sich mit einer Handgranate in die Luft gejagt.
Einige Tage nach den Festnahmen gab es in Dshalka, dem Heimatort der Geremejew-Familie, ein Treffen von hochrangigen Personen. Neben Ramsan Kadyrow nahm daran vermutlich der Dumaabgeordnete Adam Delimchanow teil, außerdem der stellvertretende tschetschenische Innenminister Alaudinow, Senator Sulim Geremejew, Schaa Turldajew, gegen den ein Haftbefehl wegen der Ermordung eines tschetschenischen Oppositionellen in Wien vorliegt, weitere Personen und, selbstverständlich, Ruslan Geremejew.
Die Stadt Dshalka wurde für dieses Treffen von den Truppen des Bataillons Sewer abgesperrt, nur einzelne Angehörige der staatlichen Organe, vermutlich mit Beziehungen zu den Inneren Truppen und föderalen Sicherheitsdiensten, wurden hineingelassen. Alles deutet darauf hin, dass genau bei diesem Treffen auch eine allgemeine Vereinbarung über das weitere Vorgehen getroffen wurde.
Insgesamt beschränkte sich die Ausbeute der Moskauer Silowiki in Tschetschenien auf eine Befragung der Verwandten der Verdächtigen und eine Zusammenstellung allgemeiner Informationen: wann geboren, wann geheiratet.
Nach dem Mord
Ruslan Geremejew verließ Dagestan über die Stadt Kaspisk, offiziell als Betreuer von Kadyrows Rennpferden, und begab sich in die Arabischen Emirate. Und obwohl noch Anfang März 2015 eine Anordnung nach Tschetschenien geschickt wurde, dass er festzunehmen und einer gerichtlichen Befragung zu unterziehen sei, hatten die tschetschenischen Geheimdienstler und Mitarbeiter der Polizei bereits große Schwierigkeiten mit der Antwort auf die Frage, in welchem Haus der Verdächtige in Dshalka überhaupt lebe. Kurz darauf reiste auch Muchutdinow in die Vereinigten Arabischen Emirate aus.
Unmittelbar nach der Befragung des mutmaßlichen Mörders Saur Dadajew wurde das Video mit allen Aufzeichnungen durch jemanden aus dem Ermittlungkomitee Ramsan Kadyrow, dem Staatsoberhaupt Tschetscheniens, zur Verfügung gestellt. Kadyrow trat dann an die Öffentlichkeit mit Statements wie dem, dass Dadajew ein echter Patriot sei. Zwei Аnträge auf Anklageerhebung gegen Geremejew in Abwesenheit und die Ausschreibung seiner Fahndung scheiterten am Chef des russischen Ermittlungskomitees, Bastrykin, der sie nicht unterschrieb.
Am Ende tauchte eine Anklageschrift auf, in der als Organisator des Verbrechens der Fahrer von Geremejew, Ruslan Muchutdinow, genannt wird, bei dem sich irgendwie 15 Millionen angehäuft hatten und der deshalb zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Und alle Verdächtigen änderten ihre Aussagen: Nun hatte angeblich der tote Schawanow geschossen, und er hatte sich angeblich auch alles ausgedacht. Aus dieser Ecke ist also keine Antwort zu erwarten. So wie auch aus den Emiraten nicht, wo sich Muchutdinow versteckt hält. Es ist ja kein Zufall, dass Kasbek Dukusow, der mutmaßliche Mörder von Paul Chlebnikow, dem Chefredakteur der russischen Redaktion der Forbes, seine Strafe für Raub in den Vereinigten Emiraten abgesessen hat und dann ungehindert nach Tschetschenien zurückgekehrt ist, ungeachtet drohender Auslieferungsanträge durch das Justizministerium und die Generalstaatsanwaltschaft.
Was die Verdächtigen betrifft, denen die „richtigen“ Anwälte zur Verfügung gestellt wurden, so sind deren Versuche, sich ein Alibi zu verschaffen, nach hinten losgegangen: Ihre genauen Angaben zu Aufenthaltsorten in Moskau brachten mehr und mehr Verstrickungen der fraglichen Personen ans Licht und führten zwangsläufig zu der Annahme, es seien noch ganz andere, nicht wirklich legale Angelegenheiten in ihren Aufgabenbereich gefallen.
Bedeutung und Einfluss von Geremejews Familie haben in diesem Zeitraum deutlich zugenommen. Sogar in der weiblichen Linie: Die Schwester von Ruslan, Cheda, hat die Leitung des Sozialamts im Bezirk übernommen. Das führte – absolut nachvollziehbar – zu einem Aufstand Unzufriedener, die versicherten, dass angeblich 70 Prozent der Gelder dort irgendwo versickerten. Und Wacha Geremejew wurde als Chef der örtlichen Polizeidienststelle zum mächtigsten Mann im Bezirk.
Zu den Mordmotiven
Die Version, die die Verteidigung öffentlich vertritt, hält einem kritischen Blick nicht stand. Etwa die Behauptung, die Tat sei religiös motiviert, weil Nemzow sich nach den Schüssen auf die Mitarbeiter von Charlie Hebdo negativ zum Propheten und zu Allah geäußert hatte – eine klare Lüge. Erstens hatten die Verdächtigen, laut ihren eigenen Aussagen, mit den Mordvorbereitungen schon lange vor den Schüssen auf die Mitarbeiter der französischen Zeitschrift im Januar begonnen. Außerdem haben die Verdächtigen bei der Erklärung ihrer Motive immer wieder auf Folgendes hingewiesen: Nemzow sei ein Oppositioneller gewesen, der dabei war, „irgendeinen Marsch“ vorzubereiten, zweitens habe er die Ukraine unterstützt, drittens habe er „auf der Gehaltsliste von Obama“ gestanden, viertens habe er den Führer Russlands vulgär beschimpft. Wie, wo und auf welche Weise er all das gemacht haben soll, konnten die Befragten nicht erklären – offensichtlich, weil sie wohl irgendwelcher Propaganda aufsaßen.
Solche wirren Erklärungen werfen jedoch neue Fragen auf: Wer hat diesen Personen solches Gedankengut eingepflanzt? Wer hat eine „Ausschreibung“ beauftragt mit Namen, die nicht auf der tschetschenischen Tagesordnung stehen?
Was weiß General Solotow, der frühere, stellvertretende Leiter des föderalen Sicherheitsdienstes FSO und derzeitige Befehlshaber der Inneren Truppen? Dessen Untergebene waren vermutlich beim Treffen in Dshalka dabei, aber gegenüber dem Ermittlungskomitee gab er lange Zeit keine Auskunft auf die Frage nach deren Status.
Warum hat der Sicherheitsdienst Russlands keine Aufzeichnungen der Videokameras vom Roten Platz und der Kremlmauer zur Verfügung gestellt, von denen es dort nur so wimmelt? Stattdessen müssen sich die Ermittler mit einem einzigen Video begnügen, das von einer Kamera des Senders TVZ aufgenommen wurde (die städtische Kamera auf der Brücke war offensichtlich gen Himmel gerichtet).
Und schließlich: Warum will sogar Bastrykin, der Chef des Ermittlungskomitees, nicht zulassen, dass Ruslan Geremejew vernommen wird? (Geremejew ist übrigens nicht nur nach Tschetschenien zurückgekehrt, sondern hat sich zum Mord an Boris Nemzow bereits dahingehend geäußert, dass Dadajew ihn nicht begangen haben kann: Denn der habe sich die ganze Zeit bei ihm, Geremejew, aufgehalten und sei mit der Bewachung sagenhafter, hochrangiger Mitarbeiter der tschetschenischen Regierung beschäftigt gewesen.) Soll Bastrykin das ruhig mal öffentlich sagen. Zumal Geremejew (nach Angaben der Presseagentur Rosbalt) sowieso nichts anderes sagt, als dass er sich frage, was Schawanow überhaupt in Moskau zu suchen hatte. Dann würde endlich die Leitversion der Verteidigung – der tote Schawanow hat geschossen, der unerreichbare Muchutdinow war der Auftraggeber – auch ganz offiziell anerkannt.