Man schreibt das Jahr 2027. Volksfeinde, sofern sie noch nicht außer Landes sind, werden öffentlich in Kesseln gekocht. Zeitungsschreiber „mit Entenfedern im Arsch“ vom Turm gestürzt. Nach Westen ist das Land durch eine „große Mauer“ abgeschottet. Der Herrscher hat „den russischen Bären“ wieder zum Brüllen gebracht, „so dass die ganze Welt ihn hören kann“. Die mit Sonderprivilegien ausgestattete Schutzstaffel der Opritschniki säubert das Land von aufsässigem Gesindel.
Diese fiktive Realität, die Vladimir Sorokin in seinem Roman Den Opritschnika (dt. Der Tag des Opritschniks) kreiert hat, sollte ein kritisch auf die Gegenwart zielendes Lehrstück sein. Verschlüsselt durch bildhafte Verfremdungen erschien der Roman im Jahr 2006 und avancierte sehr schnell zum umstrittenen Kultbuch. Sorokins Welt in diesem wie auch in anderen Texten kennzeichnen Gewaltszenen, obszöne Sprache und dystopische Visionen. Für die einen ist das nichts als postmodernes Geschreibsel voller Zoten und Flucherei, für die anderen sind Sorokins Texte dagegen prophetische Meisterwerke.
Geboren 1955 im Moskauer Vorort Bykowo wuchs Vladimir Sorokin in der Sowjetunion des Tauwetters auf. Beeinflusst durch den Moskauer Konzeptualismus schrieb er seinen ersten, ganz in Dialogform gehaltenen Text Otschered (dt. Die Schlange). Dieser erschien 1985 in der Pariser Emigrantenzeitschrift Syntaxis und brachte dem Leser das „Erlebnis“ Schlangestehen in der Sowjetunion als elementares Lebensgefühl nahe. Da seine Werke zunächst nur in Westeuropa veröffentlicht wurden, wurde Sorokin in seiner Heimat erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekannt. Heute gehört er zu den anerkanntesten und meist diskutierten Schriftstellern in Russland. Neben Viktor Jerofejew, Viktor Pelewin und Tatjana Tolstaja gilt er als einer der Hauptvertreter der russischen Postmoderne. Fast noch bekannter ist der Autor allerdings außerhalb seines Heimatlandes: Nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gab Sorokin bekannt, nicht nach Russland zurückzukehren, solange Putin an der Macht sei. Er lebt in Berlin, seine Werke sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Ins Deutsche wurden die meisten seiner Texte, unter anderem Der Tag des Opritschniks, von Andreas Tretner übertragen.
Politischer Visionär
In vielen seiner literarischen Werke verstößt Sorokin gezielt gegen politische und moralische Tabus und gilt deshalb als enfant terrible der russischen Literatur. Zum Beispiel wurde er aufgrund seines Romans Goluboje Salo (dt. Der himmelblaue Speck) angegriffen, wo er etwa in einer grotesken Kopulationsszene zwischen einem Stalin-Klon und dem fiktiven Chruschtschow das Fortwirken stalinistischer Tendenzen anprangert. Seit dem Erscheinen dieses Romans im Jahr 1999 gilt sein Autor als politischer Visionär. Immer wieder wird Sorokin seitdem auf seine neue, engagiert staatsbürgerliche Haltung hin angesprochen und deswegen auch kritisiert.
2002 warfen Vertreter der kremlnahen Jugendorganisation Iduschtschije wmeste Exemplare seiner Bücher in eine Toilettenattrappe. Sorokin landete wegen Pornographie vor Gericht, wurde aber 2003 freigesprochen. Während er in Goluboje Salo aus dem Jahr 2068 in die Hitler-Stalin-Zeit und wieder zurück springt, malt er in Den Opritschnika ein düsteres Bild der Gegenwart im Gewand der Zukunft des Jahres 2027.
Der aus der Täterperspektive erzählte Tagesablauf des Opritschniks Komjaga beginnt mit dem Klingelton seines „Mobilos“: den Schmerzensschreien eines Gefolterten. Entsprechend gewalttätig gestaltet sich der ganze Arbeitstag. Der Opritschnik beginnt ihn mit der Hinrichtung eines staatsfeindlichen „Bojaren“ (der gleichnishaft für eigenmächtige Regionalgouverneure oder Oligarchen stehen könnte) und der Gruppenvergewaltigung von dessen Witwe. Und er endet nach dem Abendmahl, dem der „Gossudar“ (dt. Herrscher) virtuell zugeschaltet ist und bei dem auch kirchliche Würdenträger anwesend sind, mit einem perversen Gruppenritual der Opritschniki in der Banja.
Gegenwart Russlands liegt in seiner imperialen Vergangenheit
Sorokin ist der Auffassung, das gegenwärtige Russland sei nur noch mit den grotesken Mitteln der Satire abzubilden. Seine scheinbar paradoxe Prämisse lautet: Die von Machtvertikale und Geheimdienst bestimmte Gegenwart Russlands liegt in seiner imperialen Vergangenheit. So ist die Erzählung im Den Opritschnika zwar in der Zukunft angesiedelt, aber die Sprache und die Realien sind der Zeit Iwans des Schrecklichen (16. Jahrhundert) angenähert, von wo der Begriff Opritschniki auch stammt.
Markenzeichen des Opritschnik-Textes und weiterer retrofuturistischer Erzählbände und Romane Sorokins, wie Sacharni Kreml (dt. Zuckerkreml, 2008), Metel (dt. Schneesturm, 2012) und Telluria (2013), ist die Vermischung von Zukunft und Vergangenheit auf der Sprach- und Erzählebene, und andererseits eine Poetik, die auf der Ästhetik von Obszönität und Gewalt basiert. Freilich entziehen sich Sorokins verfremdende Dystopien, mit denen er die Schmerzpunkte der russischen Gesellschaft treffen möchte, einer wörtlichen Lesart. Sie fordern vielmehr eine parabelhafte Lektüre. Doch selbst so können seine explosiven Texte nicht entschärft werden, weil sie die schwarze Satire als einzige Alternative zum Bestehenden aufrufen.
Sorokins vielschichtige Parabeln stellen eine Dystopie im Sinne von Huxley und Orwell dar. Das Wesentliche an ihnen ist, dass sie der russischen Gegenwart beklemmend nahezukommen scheinen. Sorokin reagiert mit seinen fiktionalen Texten vor allem auf die herrschenden Post-Perestroika-Diskussionen, die von einem nationalpatriotischen beziehungsweise neoimperialistischen Ton1 dominiert werden. Diesem zeithistorisch-politischen Hauptdiskurs sind weitere untergeordnet, wie der kulturanalytische, der literarische, der folkloristische und der popkulturelle. So bestehen seine Texte wie Flickenteppiche aus verschiedenen Verweisen, Motiven und Allusionen, was das Lesen der meist unterhaltsam geschriebenen Werke in der Tat zu einem intellektuellen Akt macht.
Warnung versus Vorbild
Seine Texte, die als Lehrstücke auf die Gegenwart zielen und vor totalitärer Staatsgewalt warnen wollen, werden kontrovers und oft sehr unerwartet rezipiert. So wird etwa Den Opritschnika von vielen „Kremlnahen“ gelesen und geschätzt: Während sein Roman für die einen die Realität abbildet, die unbedingt verhindert werden muss, lobten ihn die anderen dafür, dass er zeige, was Russlands inneren Feinden droht.2
Bemerkenswert ist, dass die öffentliche Diskussion der von ihm aufgegriffenen Themen auch jenseits der Literaturwelt geführt wird – ganz im Geiste des Postmodernismus. Der Journalist Michail Leontjew – Mitherausgeber des Bandes Festung Russland und somit einer, gegen den Sorokin in seinen Büchern indirekt polemisiert – gründete 2008 in einem fensterlosen Moskauer Gewölbekeller ein Nobelrestaurant namens Opritschnik. Dort werden die Gäste nach alter Sitte des Zarenreichs bewirtet. Aktivisten der subversiven Künstlergruppe Woina schweißten den Eingang zu, um zu demonstrieren: Ein Revival der Zeit Iwans des Schrecklichen – wie es etwa Sorokin im Den Opritschnika andeutet – verheißt nicht imperiale Freuden, sondern einen neuen Eisernen Vorhang.3