Im September 1924 tauchten in den größten sowjetischen Zeitungen vermeintliche Agenturmeldungen auf: „Anta … Odeli … Uta“, so war zu lesen, laute das Kryptogramm seltsamer Radiobotschaften aus dem Weltall. Funkstationen auf dem gesamten Globus hätten diese empfangen.
Diese Meldungen hatten insofern eine gewisse Glaubwürdigkeit, als es schon zuvor Spekulationen gegeben hatte, dass es vielleicht außerirdisches, intelligentes Leben auf dem roten Planeten oder anderswo geben könnte. Seit der Entdeckung der sogenannten Marskanäle durch den Astronomen Giovanni Virginio Schiaparelli im Jahr 1877 waren solche Mutmaßungen in der populärwissenschaftlichen Presse immer wieder aufgetaucht. Diese und auch Meldungen über Weltraum-Enthusiasten, die von baldigen interplanetaren Reisen zu anderen Himmelskörpern und Zivilisationen träumten, waren auch dem sowjetischen Zeitungsleser bekannt.
Was der Leser zunächst nicht wusste: Bei dieser „Agenturmeldung“ handelte es sich um eine Anzeigenkampagne, die Neugierde auf den Stummfilm Aelita1 schüren sollte. Der Film eröffnet dementsprechend mit Aufnahmen von Funkstationen aus allen Erdteilen und dem Zwischentitel: „Am 4. Dezember 1921 um 18 Uhr und 27 Minuten mitteleuropäischer Zeit haben alle Radiostationen der Erde ein seltsames Radiogramm empfangen.“ Es lautet: “Anta… Odeli… Uta“.
Ende September 1924 kam Aelita in die Moskauer Kinotheater. Die Premiere war nicht nur wegen der einzigartigen Werbekampagne mit großer Spannung erwartet worden. Es war auch die erste Filmproduktion der neu gegründeten deutsch-sowjetischen Filmgesellschaft Meshrabpom-Rus. Als staatlich-private Aktiengesellschaft sollte sie ausländisches Kapital für das sowjetische Kino akquirieren und gleichzeitig die Revolution auch im Ausland propagieren.2
Zudem war mit Jakow Protasanow (1881–1945) einer der prominentesten Filmregisseure der Vorkriegszeit aus dem Exil zurückgekehrt – und Aelita war sein erster Film seit seiner Rückkehr 1923.
Schließlich heizte sowohl in der Parteiführung als auch beim breiten Publikum ein aktueller Beschluss des 13. Parteitags die Erwartungen an: Das Kino sollte, entsprechend stark gefördert, zum bedeutendsten Propagandainstrument werden. So wurde Protasanows Film als der „erste russische Streifen“ angepriesen, „der nicht hinter den besten ausländischen Inszenierungen“3 zurückbleibe.
Der „erste Blockbuster in Russland“
Aelita erzählt die Geschichte des frisch verheirateten Ingenieurs und Hobbyraketenbauers Los (gespielt von Nikola Zeretelli). Er wird schon bald von Eifersucht auf seine Ehefrau Natascha (Walentina Kuindshi) geplagt und beginnt davon zu träumen, geheime Botschaften von einer „Herrscherin des Mars“ mit Namen Aelita zu erhalten. Anstatt sich auf die Wirklichkeit einzulassen, verzweifelt Los über seine Ehe und träumt von einem Flug auf den Mars, wo er sich der Liebe zur Marskönigin hingeben kann, während der Bürgerkriegsveteran Gusew (Nikolaj Balatow) die Marsianer zur Revolution antreibt. Doch dann verwandelt sich die von der Sehnsucht nach Liebe verzehrte Herrscherin Aelita (Julia Solnzewa) selbst in eine Diktatorin: Den von dem irdischen Revoluzzer angezettelten Aufstand lässt sie blutig niederschießen. So erweisen sich die Marsträume als illusorische Trugbilder, während Los sich am Filmende mit seiner Ehefrau versöhnt. Gemeinsam sitzen sie vorm häuslichen Kamin und verbrennen Los’ Raketenpläne mit den Worten: „Genug geträumt – auf uns alle wartet eine andere, wirkliche Arbeit.“
Operntheater ganz alter Schule
Der nach dem antiken Kriegsgott benannte rote Planet – der Mars – hatte seit Alexander Bogdanows sozialistischer Zukunftsutopie Der rote Stern (1908) in Parteikreisen eine gewisse symbolische Bedeutung: Er stand für das bolschewistische Versprechen einer neuen Menschheit. Auch beim breiten Publikum erfreuten sich die Abenteuerfilme und Groschenhefte über außergewöhnliche Reisen in abgelegene Weltgegenden, mit spannenden Intrigen und viel Action und Exotik ungebrochener Beliebtheit.4 Der Roman von Alexej Tolstoi Aelita. Der Untergang des Mars, der ein Jahr zuvor erschienen war und zur Vorlage für den Film Aelita wurde, wurde von der Kritik jedoch nur verhalten aufgenommen.5 Auch die Verfilmung von Protasanow konnte die großen Erwartungen, die man vor der Premiere des „ersten Blockbusters in Russland“6 geschürt hatte, nicht erfüllen. Weder was die Handlung noch was die filmische Umsetzung betraf.
Los ist in Protasanows Film eher ein tragikomischer Romantiker als ein draufgängerischer Abenteurer. Und eine vom bolschewistischen Zuschauer erwartete siegreiche interplanetare Revolution bietet der Film auch nicht. Entsprechend vernichtend fiel die Filmkritik seinerzeit aus. Die Partei erwog sogar ein Exportverbot. Als Aelita 1926 dann doch in die Kinos der Weimarer Republik kam, war die Enttäuschung ebenfalls groß: „Operntheater, oft nur Ausstattungsballett ganz alter Schule“ sei hier entstanden.7 Der Film verschwand für Jahrzehnte in den Kinoarchiven. Der „erste sowjetische Science-Fiction-Film“, so scheint es, war seiner Zeit voraus. Er sollte erst in der Zukunft neu entdeckt werden.
Realitäten und Sehnsüchte
Tatsächlich holte man Aelita in den 1960er Jahren, im Zuge der Kosmosbegeisterung der sowjetischen Tauwetterzeit wieder aus der Versenkung. Das staatliche Filmarchiv in Moskau brachte eine restaurierte Fassung dieses „ersten sowjetischen Science Fiction-Films“ auf die Leinwand, warnte aber in einem Vorspann vor dem „geringen künstlerischen Niveau“ dieses Frühwerks des sowjetischen Stummfilms.
Es dauerte noch bis in die 1990er Jahren, ehe Aelitas Wiederentdeckung als „Schlüsselfilm der frühen NÖP-Periode“ begann, der die „Realitäten und auch [...] Sehnsüchte“ dieser Zeit „in einer komplexen und originellen Form“ reflektiert.8
Die vielen Straßenszenen zeigen die schwierige Situation nach dem Ende des Bürgerkriegs in der Sowjetunion Anfang der 1920er Jahre: Einerseits herrschten Wohnungs- und Lebensmittelknappheit, andererseits vergnügten sich die alten Oberschichten wieder in Kaffeehäusern, Restaurants, bei Theateraufführungen und auf Bällen. Diese Szenen ließen nun ein „avantgardistisches Prinzip“ erkennen, das die „Präsenz vom Alten im Neuen, vom Westen im Osten, vom Dekadenten im Proletarischen, und vor allen Dingen vom Falschen im Wahren“ bloßlege.9
Imaginäre Revolutionshelden versus spießbürgerliche Romantik
Und auch wenn Protasanows Film (nicht nur) in seinem melodramatischen Filmschluss ein recht konservatives Ideal des häuslichen Ehelebens propagiert: Aus heutiger Sicht fällt gerade der kritische Kamerablick auf die patriarchalen Rollenbilder ins Auge.10 So entfaltet Aelita in Gestalt von Los und weiteren männlichen Protagonisten eine detaillierte psychologische Studie über Männer, die sich als geniale Erfinder, Revolutionshelden, Gentleman-Gauner oder Meisterdetektive sehen, aber unfähig sind, ihre „erotischen Eskapaden“ in ein postrevolutionäres Alltagsleben zu integrieren.
Vor allem aber sind es die Marsszenen, die den Film zum Klassiker machen. Sie stehen deutlich unter dem Eindruck des frühen expressionistischen Films aus Deutschland, umgekehrt wird ihnen aber auch ein Einfluss auf Fritz Langs Metropolis (1927) nachgesagt. Diese Fantasiewelt besticht durch die geometrischen Bühnenaufbauten und Innenräume von Viktor Simow und Isaak Rabinowitsch. Zwischen Kuben, Dreiecken und Zylindern bewegen sich die handelnden Figuren in konstruktivistischen Kostümen von Alexandra Exter mit expressionistischen Gesten. Allerdings zeigen diese kontrastreich ausgeleuchteten Bilder keine kubo-futuristische Utopie. Sondern sie sind der Schauplatz einer brachialen Militärdiktatur, die mit Hilfe einer Roboterarmee die Arbeiter in unterirdischen Katakomben versklavt und vernichtet.
Dieses Scheitern der futuristischen Marsträume erscheint angesichts der späteren Unterdrückung der künstlerischen Avantgarde im Stalinismus geradezu prophetisch. 1924 jedoch war dies keine Botschaft, die im Land der proletarischen Diktatur auf großen Zuspruch gestoßen wäre. „Verschimmelte, spießbürgerliche Romantik, gemischt mit einer äußerst ungezügelten Fantastik“ bescheinigte die damalige Kritik dem Werk. Ein Diktum, das den Zukunfts-Film aus der Vergangenheit heute nur noch interessanter macht.
Text: Matthias Schwartz
Veröffentlicht am 02.02.2017