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Kino #4: Stalker

Das Tor öffnet sich für einen Moment und der Jeep schiebt sich flugs hindurch. Das Eindringen ins Sperrgebiet – die Zone – gleicht einem Gefängnisausbruch unter Waffenbeschuss. Vor 35 Jahren assoziierten manche auch eine Republikflucht. Dann geht es für die Männer durch sumpfige Ebene und Ruinen. Auf Umwegen führt sie der Stalker (dt. Kundschafter) mit Bedacht durch diese bizarre Endzeitlandschaft, bis seine Gefährten den Verdacht hegen, es bestehe gar keine Gefahr und er spiele sich nur auf. Ihr Ziel ist ein Zimmer, das die geheimsten Wünsche erfüllen soll. Und so folgen sie ihm …

Der russische Regisseur Andrej Tarkowski lehnte eine eindeutige Interpretation dieser von ihm inszenierten Zone immer ab – dieses mystisch-entrückten Ortes, der für viele Cineasten damals wie heute die Konturen eines brüchig gewordenen Fortschrittsglaubens trägt. Dabei lässt sich Tarkowskis Meisterwerk Stalker vor allem als eine traumwandlerische Reise ins menschliche Selbst lesen.

Quelle dekoder

 


Die Kamera bleibt statisch und zeigt eine trostlose Kneipe, die gerade geöffnet wird. Der erste Kunde ist ein Mann mit Strickmütze, und er trinkt einen Kaffee, nur von einer undefinierbaren Musik unterlegt. Es folgt ein eingeblendeter Text und die Sequenz, in der das Erwachen des Stalkers gezeigt wird und wie er sich vorsichtig aus dem Familienbett entfernt. Erst nach neun Minuten fällt das erste Wort. Diese endlos lang scheinenden Einstellungen waren schon für diejenigen, deren Sehgewohnheiten seinerzeit noch nicht von den schnellen Schnitten der Videoclips geprägt waren, eine Zumutung. So beginnt Andrej Tarkowskis Stalker aus dem Jahr 1979. Der Anfang ist schwarzweiß, erst in der geheimnisumwitterten Zone wird der Film farbig.

Stalker ist Tarkowskis fünfter abendfüllender Film. Zu den Festspielen in Cannes 1980 wurde er gefeiert, blieb in der Sowjetunion jedoch zunächst unter Verschluss. Ein solcher Film muss(te) den interpretatorischen Scharfsinn der Kritiker und Wissenschaftler herausfordern.1 Im Hintergrund steht dabei die Frage, wie Tarkowski es gemacht hat, einen Film zu drehen, der über Jahrzehnte seine Faszination behalten kann, und der eine so merkwürdige Geschichte erzählt. 

Fotos © Mosfilm

Da macht sich ein Mann, der „Stalker“ genannt wird, mit zwei anderen Männern, die einander nicht mit Namen kennen, sondern die sich mit „Professor“ und „Schriftsteller“ ansprechen sollen, auf den Weg in eine streng bewachte Zone. Dem Stalker und seinen Umwegen folgend, kommen sie schließlich ans Ziel, jenes verheißungsvolle und unwirkliche Zimmer, in dem es regnet. Dort möchten sie dann doch nicht so genau wissen, was sie sich tief in ihrer Seele wünschen. Niemand geht hinein. – Schnitt, und auf einmal sind sie wieder in der Kneipe, dem Ausgangspunkt ihrer Expedition. 

Die Zone als Raum des Imaginären?

Durch lange Takes und handlungsarme Szenen erzieht sich Tarkowski seinen Zuschauer, der genau hinschauen, betrachten lernt. Er muss sich das wackelige Beistelltischchen im Schlafzimmer des Stalkers ansehen, die Watte, die Tabletten, das Glas mit Wasser, das auf dem Tischchen verrutscht. Dazu hört er das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges. Er weiß nicht, wogegen die Tabletten helfen sollen, wer sie nimmt. Und er erfährt es auch später nicht. Er muss zweieinhalb Stunden warten, bis die verrutschenden Gläser in einem ganz anderen Kontext wieder auftauchen. Tarkowskis Filme tragen in der Regel keine Antworten zu den Fragen vor, die sie stellen. Und wenn sie Lösungen suggerieren, stehen wiederum andere Fragen dahinter. 

Die Geschichte, die Stalker erzählt, ist in sich plausibel, aber ohne klaren Sinn, bei geradezu hypnotisierenden Bildern, deren Suggestivkraft man sich nur schwer entziehen kann. Tarkowski selbst lehnte es strikt ab, die Zone als ein Sinnbild zu lesen.2 In einem eingeblendeten Text zu Beginn des Films heißt es nur so viel über sie: „ … was es war? Der Fall eines Meteoriten? Ein Besuch von Bewohnern des menschlichen Kosmos? Wie auch immer, in unserem kleinen Land entstand das Wunder aller Wunder – die ZONE. Wir schickten sofort Truppen hin. Sie kamen nicht zurück. Da umzingelten wir die ZONE mit Polizeikordons … und haben wahrscheinlich recht daran getan … im übrigen – ich weiß nicht, ich weiß nicht … Aus einem Interview des Nobelpreisträgers Professor Wallace mit einem Korrespondenten der RAI.“

Dass man nicht alles, was die drei Männer in dieser Zone erleben, nur als einen Traum, eine Einbildung abtun kann, zeigt sich daran, dass sie der Schäferhund, dem sie dort begegnet sind, hinausbegleitet. Auch zur Familie schließt sich der Kreis, mit der über die telekinetischen Fähigkeiten des Kindes noch das Unerklärliche in die Welt außerhalb der Zone integriert wird.

Der Rationalität entfliehen?

Tarkowski erschwert, ja verweigert ein Lesen seiner Bilder als Symbole. Aber wirken die Bilder ohne den Umweg über die Bedeutung nur auf die Emotionen? Es gibt den klugen Hinweis, Professor, Schriftsteller und Stalker hegelianisch zu lesen.3 Sie stehen dann für Wissenschaft, Kunst und Religion, die nach Hegel die Modi sind, in denen das Wissen zu seiner Vollendung kommt. Religion (Anschauung) und Kunst (Vorstellung) sind in der Philosophie (Selbsterkenntnis) dialektisch aufgehoben. Im Film ist die dialektische Trias umgekehrt4: Wissenschaft und Kunst sind ungenügende Annäherungen an die Wirklichkeit, die der Vollendung durch den Glauben bedürfen. Wissenschaftler und Schriftsteller aber sind dazu nicht fähig. Tatsächlich mahnt der Stalker, in der Zone Ehrfurcht zu zeigen und zu glauben. Resigniert muss er aber feststellen: „Sie glauben an nichts, an gar nichts. Bei ihnen ist das Organ mit dem man glaubt, an Nahrungsmangel zugrunde gegangen.“

Tarkowskis Bilder gehören allerdings nicht zu einer konkreten Form des Glaubens, nicht zu einer bestimmten Religion. Es geht um die eher unspezifische Sehnsucht nach einem Absoluten, das die menschliche Rationalität übersteigt und zu dem man Kontakt haben möchte.

Zwischen Glauben und Leiden

Man kann zwar in den drei Stromleitungsmasten, die beim Eintritt in die Zone sichtbar werden, ein Zeichen für die Kreuze auf Golgotha sehen, aber dieses Zeichen steht nicht so sehr für das Christentum, sondern für die in ihm virulente Idee des Leidens, die in der russischen Tradition einen sehr hohen Stellenwert hat. Tarkowski knüpft nicht direkt an die Bibel an, sondern an Fjodor Dostojewski, der in einem seiner Romane das Leiden „eine gute Sache“ genannt hatte.5 Ganz ähnlich spricht die Frau des Stalkers, während sie direkt in die Kamera schaut: „Wenn es in unserem Leben keinen Kummer gäbe, besser wäre das nicht. Es wäre sogar schlechter, denn dann gäbe es kein Glück.“ Glück wird nicht mit Wohlbefinden verbunden, sondern mit Erlösung, die aber nur der erfahren kann, der um seine Erlösungsbedürftigkeit weiß.

Schon die literarische Vorlage des Films, die Erzählung Piknik na obotschine (dt. Picknick am Wegesrand) der Brüder Strugazki hatte die Sehnsucht in den Vordergrund gestellt: In ihr will der Stalker eine goldene Kugel aus der Zone holen, die seine ganz persönlichen Wünsche erfüllen soll. Als er sie gefunden hat, wünscht er sich jedoch „Glück für alle“.
Der Stalker des Films dagegen glaubt nicht mehr an die Utopie, dass man das Glück für alle einfach erreichen kann. Seine Weggefährten müssen erst einmal ihr Gewissen erforschen, ob denn das, was sie wünschen, wirklich allgemeinverträglich ist, damit ihr Konzept vom Glück nicht zum Unglück der anderen wird.

Der Mythos von Tschernobyl

In einer der letzten Szenen des Films geht der Stalker mit seiner Familie an einem verschmutzten Gewässer vorbei, den Hintergrund bildet ein Kraftwerk. Gefilmt wurden diese Bilder vor einem Gas-Kohlekraftwerk in der Nähe von Moskau6. Der Umstand aber, dass Andrej Tarkowski am 29. Dezember 1986 in Paris an einem Krebsleiden verstarb, nachdem im April desselben Jahres der Reaktor des Kernkraftwerks von Tschernobyl explodiert war, führte zu dem Gerücht, der Film sei in der Nähe von Tschernobyl  gedreht worden. Schon damals habe der Reaktor geleckt und Tarkowskis Erkrankung verschuldet. Die Zone wurde in der Retrospektive mitunter zur vorweggenommenen Landschaft der Reaktorkatastrophe. Das 2007 auf den Markt gekommene Computerspiel S.T.A.L.K.E.R., in dem Plünderer in der Zone um das zerstörte Kraftwerk Gegenstände und mutierte Lebewesen finden können, nährt diesen Mythos bis heute.

Dass es den Mythos überhaupt gibt, hat sicher mit der Faszination zu tun, die der Film als Kunstwerk ausübt, mit seiner unvergleichlichen Aura. Diese Faszination hat dem Regisseur die Bewunderung seiner Kollegen eingebracht („Tarkowski ist für mich der bedeutendste“ – Ingmar Bergman) – und ein immer wieder beeindrucktes, ihm manchmal geradezu verfallenes Publikum.

Text: Norbert P. Franz
Veröffentlicht am 05.04.2017


1.vgl. Franz, Norbert P. (2009): Nachwort, in: ders. (Hrsg.): Stalker: UdSSR, 1980: Regie: Andrej Tarkowski, Protokoll des Films in der Original- und der deutschen Synchronfassung, Potsdam, 2009, S. 104ff
2.„Häufig wurde ich gefragt, was denn die ‚Zone‘ nun eigentlich symbolisiere, woran sich dann auch gleich die unsinnigsten Vermutungen anschlossen. Derlei Fragen und Mutmaßungen versetzen mich regelrecht in Verzweiflung und Raserei. Die ‚Zone‘ ist einfach die ‚Zone‘. Sie ist das Leben, durch das der Mensch hindurch muß, wobei er entweder zugrunde geht oder durchhält. Und ob er dies nun durchhält, das hängt allein von seinem Selbstwertgefühl ab, von seiner Fähigkeit, das Wesentliche vom Nebensächlichen zu unterscheiden.“, in: Tarkowski, Andrej (1984): Die versiegelte Zeit, Frankfurt/Main/Berlin, S. 203
3.Böhme, Hartmut (1985): Ruinen-Landschaften, in: Konkursbuch Nr. 14, Tübingen, S. 117-157
4.Engell, Lorenz (2002): Filme und Sachen. Das Gesicht der Dinge und die Metaphysik des Dekors, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Seminar für Filmwissenschaft
5.in Dostojewski, Fjodor: Prestuplenie i nakazanie (dt. Verbrechen und Strafe). Vgl. dazu Franz (2009), S. 116
6.Andere Außenaufnahmen entstanden außerdem in Estland. Im Jahr 2006 haben sich drei Mitglieder der damaligen Crew gemeinsam an die Entstehungsgeschichte erinnert: Rerberg hat darauf aufmerksam gemacht, wie sehr Tarkowski darum besorgt gewesen sei, dass seinen Leuten bei den Dreharbeiten nichts passiert.  Deshalb habe er den Stalker nicht – wie ursprünglich vorgesehen – im Erdbebengebiet von Isfar und erst recht nicht in der verschmutzten Gegend des Stahlwerks von Zaporož’e („schlechte Ökologie“) gedreht, sondern im Baltikum bei Tallinn. Dort gibt es keinen Kernreaktor, und das Kohlekraftwerk hat nur einen großen Schornstein (Rerberg, Georgij/Čugunova, Marianna /Cymbal, Evgenij: Fokus na beskonečnost‘: Razgovor o ‚Stalkere‘, in:  Iskusstvo kino 2006, Nr. 4).

dekoder-Kino #4: Stalker wurde gefördert von der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S.

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Andrej Tarkowski

Andrej Tarkowski (4. April 1932 – 29. Dezember 1986) kommt aus der jungen 1960er/1970er-Generation sowjetischer Filmemacher und wurde mit seiner eigenen poetischen Bildsprache zu einem der bedeutendsten Autorenfilmer des 20. Jahrhunderts.

Als Künstler vor allem auf seine Autonomie bedacht, litt er unter dem sowjetischen Ansatz der Kunst als Staatspädagogik, bangte oft um den nächsten Auftrag. Tarkowski war trotzdem kein Dissident. In gewisser Weise wurde er zum Weltenwandler zwischen Ost und West, geborgen nur im Nirgendwo seiner Filme. Die erfreuen sich bis heute einer treuen Zuschauerschaft. 

Seine Bilder operieren zwischen Schein und Sein – Regisseur Andrej Tarkowski (1932–1986) / Foto © Festival de Cine Africano/flickr.com

Zwar erreichten Filme aus dem kapitalistischen Ausland nur in kleiner Zahl die sowjetischen Kinos, die Studenten an der führenden staatlichen Filmhochschule VGIK aber konnten sich zur Tauwetterperiode mit künstlerischen Strömungen und Moden aus dem Westen vertraut machen. So sieht man in Tarkowskis studentischen Arbeiten aus den 1950er Jahren auch deutliche Einflüsse des amerikanischen film noir (Ubizy, dt. Die Mörder, 1956) sowie des französischen Kinos (Sewodnja uwolnenija ne budet, dt. Heute gibt es keinen Feierabend, 19571). Vor allem aber zeigte sich seine Lust am Experiment. Etwas, wozu ihn sein Dozent – der bekannte Dokumentarfilm-Regisseur Michail Romm – ausdrücklich ermutigte.

Die Abschlussarbeit, Katok i skripka (dt. Die Straßenwalze und die Geige, 1961) stach künstlerisch schon hervor, auch wenn die Themenstellung noch sehr dem Zeitgeist verhaftet war, nämlich dem Verhältnis von (körperlicher) Arbeit zur Kunst – was in einem Land, das sich als das Vaterland aller Werktätigen verstand, ideologisch besetzt war. Die Kritik jedoch hatte ihn schon als „echten“ Tarkowski gewertet.2

Tarkowski als auteur des poetischen Films

Seine Bilder, eine geradezu surreale Ästhetik, die zwischen Sein und Schein operiert und Reminiszenzen erweckt – sie sind es, die Tarkowskis Filme in ihrer Gesamtheit für viele Cineasten schließlich einzigartig machen werden. Sei es bei Stalker (1979) in einer postapokalyptisch anmutenden Zone, bei Solaris (1972) auf einer Raumstation oder bei Nostalghia (1983) in einer Landschaft greifbar werdender Heimatlosigkeit. Es sind Bildkompositionen, wie sie seinerzeit nur die Natur des Zelluloids hervorbringen konnte.

Oft wird von ihrer „Wirkmächtigkeit“ gesprochen. Tarkowski selbst erklärte seine Filme zu Versuchen, seine eigene Wahrnehmung zu Bildern werden zu lassen. Sein assoziatives Spiel mit ihnen nannte er „Poesie“4 und stellte sie – in der Tradition der Romantiker – der Wissenschaft gegenüber. Dieses „Leben als Traum“, wie es der schwedische Regisseur Ingmar Bergman umschwärmte, ist charakteristisch für Tarkowskis Schaffen. Gleichzeitig suchte er immer das freie Spiel mit Bedeutungen und Lesarten. 

Spätestens mit dem Meisterwerk Andrej Rubljow (1966) hatte Tarkowski als auteur eine Handschrift entwickelt, und er war dabei, seine eigene Gattung zu schaffen: den poetischen Film.

Andrej Rubljow und der Eklat in Cannes

Gemeinsam mit Filmemacher und Freund Andrej Kontschalowski hatte er die Handlung entworfen und das Drehbuch geschrieben. Die beiden Andrejs stellen einen dritten Andrej in den Mittelpunkt, Andrej Rubljow, einen Mönch aus dem späten 14., frühen 15. Jahrhundert, über den es nur wenige historisch gesicherte Nachrichten gibt, der aber als Ikonenmaler stilbildend geworden ist und sich hoher Verehrung erfreut, auch als Heiliger.

Gezeigt wird Rubljow als ein Künstler, der den Menschen nicht mit Gott drohen will, der politischen Macht skeptisch gegenübersteht und in eine Krise gerät, aus der er erst herausfindet, als er sieht, mit welchem Mut sich ein junger Bursche ohne jede Vorerfahrung daran macht, eine Glocke zu gießen.

Der in schwarzweiß gedrehte Film endet mit einem farbigen Kaleidoskop von Ikonenpartien, die, mit einer an geistliche Gesänge erinnernden Musik unterlegt, den Zuschauer zur Meditation einlädt.

Als der gut dreieinhalb Stunden dauernde Film 1966 fertig war, hatte die Zensur einiges auszusetzen. Vor allem manche als brutal angesehene Szenen mussten herausgeschnitten werden, wodurch das Zeitbild nicht ganz so negativ erschien. Kritiker warfen Tarkowski vor, die Geschichte nicht richtig dargestellt zu haben. Das Publikum konnte dies aber nicht nachprüfen, da der Film zunächst unter Verschluss gehalten wurde.

Über Umwege wurde er 1968 in Cannes zu den Filmfestspielen nominiert, dann aber wegen angeblicher „künstlerischer Mängel“5 zurückgezogen. Erst 1969 konnte er dort – außer Konkurrenz – gezeigt werden und erhielt gleich den Kritiker-Preis, die erste von insgesamt neun Auszeichnungen. Bei den Offiziellen im Filmbetrieb der Sowjetunion rief diese nie ganz geklärte Geschichte mit der Nominierung6 in Cannes einige Verstimmung hervor, Cineasten in Ost und West aber waren begeistert.

Eigensinn und Rätselhaftigkeit

Auf Stanley Kubricks Welterfolg 2001 – A space Odyssey (2001- Odyssee im Weltraum, 1968) erwartete man in der Sowjetunion eine angemessene Antwort von Tarkowski und bedachte ihn mit dem Auftrag. Tarkowski verfilmte dazu die Erzählung Solaris von Stanisław Lem, und es wurde eine ganz eigene Interpretation. Der 1972 fertiggestellte Film hatte mit der Vorlage fast nur noch den Titel gemeinsam. Tarkowski verzichtete auf alle spektakulären technischen Details und schuf ein Drama um Schuld, individuelle Erinnerung und kollektives Gedächtnis. 

War schon in Andrej Rubljow der Zuschauer gefordert zu mutmaßen, wie die Episoden der Handlung zusammenhängen, so nimmt in Solaris die für den reifen Tarkowski typische Rätselhaftigkeit noch deutlich zu. Einzelne Objekte, die sich einer symbolischen Eindeutigkeit entziehen, tauchen in vielen Filmen auf, als gehörten sie zu einer eigenen hermetischen Tarkowski-Welt: Holzhäuser, Tiere oder die Elemente, wie Wasser in Form von Regen, Seen und Flüssen, Erde, Luft, Feuer ... Tarkowski arbeitete zudem gern mit den gleichen Schauspielern und tauschte die Kameraleute nicht ständig aus. Eduard Artemjew schrieb ihm für drei Filme die zum Teil experimentelle Musik – für Tarkowski eine „privilegierte Klangsprache“ für eine „Symbiose mit den Bildern“.7

Tarkowski zwischen Ost und West

In seinem Schaffensdrang hatte er sich jedoch Zeit seines Lebens der sowjetischen Bürokratie zu erwehren, wurde bei Auftragsvergaben immer wieder ignoriert.8 Geldsorgen zwangen ihn, kommerzielle Drehbucharbeiten und Vorträge in der Provinz anzunehmen.9 Auch sorgte der sowjetische Filmverleih dafür, dass Sowjetbürger seine Filme in den Kinos nur schwer zu sehen bekamen. 

Bei all den Querelen: Es ist keineswegs so, dass Tarkowski etwas Dissidentisches in dem sah, was er tat und wie er seine Sujets verfilmte. Lust am Widerspruch auf der einen und eine eher diffuse Religiosität mit Hang zu Esoterik auf der anderen Seite machten ihn ebenso aus wie der tiefe Wunsch, seiner eigenen Kunstvorstellung zu folgen und trotzdem in der Heimat bleiben zu können. Was ihm nicht gelang. 

Um dem Korsett des sowjetischen Filmbetriebs zu entweichen, nahm er 1981 schließlich einen Auftrag in Italien an, obwohl ihm klar war, dass er seine Familie in der Sowjetunion zurücklassen musste. Der sehr persönliche Film Serkalo (dt. Der Spiegel, 1975) und die Sinnsuche von Stalker hatten ihn zuvor erneut dem Vorwurf ausgesetzt, unverständliche Filme zu drehen. Dabei traf etwa Serkalo durchaus den Nerv der Zuschauer in der Sowjetunion: Erzählt wird eine Kindheit in den Jahren der Stalinschen Herrschaft, jedoch so, dass sich viele in Situationen und Konstellationen erkannten. Der Spiegel wird hier Symbol und Metapher des Selbsterkennens in der Erinnerung. 

Als Vertreter der Sowjetunion Tarkowski bedrängten, er solle doch endlich aus Italien zurückkommen, beantragte er Asyl. Nur kurz nach Fertigstellung seines letzten Films Offret (dt. Opfer, 1986) starb er am 29. Dezember 1986 an Krebs, seine Familie ließ man noch zu ihm reisen. Beigesetzt wurde er in Paris.

„Ja, sein Grab ist nicht bei uns (und er ist daran schuldlos).“10



1.Franz, Norbert P. (2016): Filmographie, in: ders. (Hrsg.): Andrej Tarkovskij – Klassiker, classic, классик, classico: Beiträge des Ersten Internationalen Tarkovskij-Symposiums in Potsdam, September 2014, 2 Bde., Potsdam, S. 21
2.Maja Turovskaja nennt ihre Monographie in Anlehnung an Fellinis Film Otto e mezzo (1963): 7 i ½ fil‘my Andreja Tarkovskogo, – (dt. Die siebeneinhalb Filme des Andrej Tarkovskij) Moskau, 1991 – Katok i skripka ist als Kurzfilm der „halbe“.
3.Franz, Norbert P. (2016): Tarkovskijs Weg zum Klassiker, in: ders. (Hrsg.): Andrej Tarkovskij – Klassiker, classic, классик, classico: Beiträge des Ersten Internationalen Tarkovskij-Symposiums in Potsdam, September 2014, 2 Bde., Potsdam, S. 34
4.„Der Film entspringt der unmittelbaren Lebensbeobachtung. Dies ist für mich der richtige Weg filmischer Poesie. Denn das filmische Bild ist seinem Wesen nach die Beobachtung eines in der Zeit angesiedelten Phänomens.“, aus: Tarkowski, Andrej (1984): Die versiegelte Zeit, Berlin, S. 70
5.von Keitz, Ursula (2012): Andrej Tarkowskij: Andrej Rubljow (1966), in: Kiening, Chr. (Hrsg.): Mittelalter im Film, S. 298
6.Die Sowjets hatten den Film offenbar bereits (aus Versehen) an einen französischen Verleih verkauft, der ihn in Cannes bereitstellen konnte, vgl. ebd. Und: „Although screened at 4 a. m. on the festival’s last day, it was nevertheless awarded the International Critics’ Prize. Soviet authorities were infuriated; Leonid Brezhnev reportedly demanded a private screening and walked out mid-film“, in: Hoberman, James Lewis (1999): Andrei Rublev
7. Franz, Norbert P. (2016): Vorwort, in: ders. (Hrsg.): Andrej Tarkovskij – Klassiker, classic, классик, classico. Beiträge des Ersten Internationalen Tarkovskij-Symposiums in Potsdam, September 2014, 2 Bde., Potsdam, S. 16
8.vgl. Franz, Norbert  P. (2016): Vom Werden und Selbstverständnis des Klassikers, in: ebd., S. 29
9.Schlegel, Hans-Joachim (2012): Zwischen Hier und Dort, in: Tarkovskij, Andrej A./Schlegel, Hans-Joachim/Schirmer, Lothar:  Andrej Tarkovskij: Leben und Werk: Schriften, Filme, Stills, Schirmer/Mosel, S. 8
10.Notizen von Alexander Sokurov zum Tod von Tarkovskij, in: ebd., S. 27

 

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Sergej Bondartschuk (1925–1994) war ein bedeutender sowjetischer und russischer Filmregisseur, Drehbuchautor und Schauspieler. Bereits mit 32 Jahren wurde er als jüngster Schauspieler überhaupt als Volkskünstler der UdSSR ausgezeichnet. Sein Regiedebüt Ein Menschenschicksal (1959) gilt heute als Klassiker des sowjetischen Kinos. Im Westen wurde er vor allem durch die Verfilmung des Romans Krieg und Frieden (1967) von Lew Tolstoi bekannt, in der er auch eine der Hauptrollen übernahm. Der Film gehört zu den erfolgreichsten sowjetischen Filmen und hatte auch international großen Erfolg. 1969 erhielt er den Golden Globe und den Oscar als bester fremdsprachiger Film. Weitere bedeutende Regiearbeiten Bondartschuks sind unter anderem Waterloo (1970), Boris Godunow (1986) und der Mehrteiler Der stille Don (1994).

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