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Vorbild Feind

Ob im Kino, in der Wirtschaft, beim Urlaub oder in der Wissenschaft: Fast überall gelten westliche Standards wie selbstverständlich als das anzustrebende Vorbild. Andererseits scheint Russland vor Patriotismus und neugefundenem Selbstwertgefühl zu strotzen, und eben jener Westen ist für den Großteil der Menschen Gegner, ja Feind. Der Politologe Dimitri Trawin sieht in diesem Widerspruch eine Begleiterscheinung aufholender Modernisierung.

Quelle Vedomosti

Angenommen, wir würden beschließen, etwas Merkwürdiges zu tun: Wir lassen die russische Bevölkerung abstimmen, welchen Devisenkurs sie möchte. Mit ziemlicher Sicherheit gäbe es ein Votum für eine Stärkung des Rubels, wobei sich gebildete und erfolgreiche Bürger genauso verhalten würden wie die große Masse. Wir bekommen unsere Löhne ja alle in der nationalen Währung ausgezahlt. Doch sobald Gebildete und Erfolgreiche reales Geld in der Tasche spüren, kaufen viele von ihnen Dollar, da sie genau wissen, wie unsicher Rubel-Ersparnisse sind.

Haben wir es hier mit Doppelmoral zu tun? Keineswegs. Der Mensch verhält sich absolut aufrichtig, sowohl, wenn er sich für ein Wachstum des Rubels ausspricht, als auch dann, wenn er dessen Stabilität durch seinen Gang zur Wechselstube untergräbt.

Dieses nicht ganz ernste Beispiel hilft, die Logik der Russen zu verstehen, denen man heute oft eine uneuropäische Mentalität vorwirft, eine mangelnde Bereitschaft zu Reformen und die Neigung, parasitisch vom Petrodollar zu leben. Wenn man sich die großen Umfragen ansieht, zeigen sich überall Patriotismus, Identifikation mit den Machthabern und ein beinahe einmütiges Jasagen. In gewisser Hinsicht ähneln solche Ergebnisse in der Meinungsforschung aber jenen in unserer hypothetischen Umfrage zum Rubel: Sie sagt nichts über das wirkliche Leben der Gesellschaft, sondern eher über das Streben nach einem Ideal.

Die wahren Haltungen eines Menschen sind mit Umfragen schwer zu ermitteln. Wenn man dann gewisse Aspekte unseres Lebens genau unter die Lupe nimmt, entdeckt man plötzlich Dinge, die nicht in das übliche Bild passen.

Professoren beklagen sich oft, dass ihre Publikationen in russischen Fachzeitschriften bei der Bewertung ihrer Arbeit immer seltener Beachtung finden. Dafür bekommt der, der einen Artikel in einer amerikanischen Zeitschrift unterbringt, eine große Prämie. Ist das Kriecherei vor dem Westen, herkunftsvergessener Kosmopolitismus? Ganz bestimmt nicht. Es ist gewöhnlicher Pragmatismus, der Wunsch, Teil jener Wissenschaft zu sein, die heute als maßgeblich gilt. Wobei derselbe Rektor, der die Prämienanweisung unterschreibt, in öffentlichen Reden seine für die staatlichen Unterstützungsgelder so notwendige Liebe zur Krim, zu China, zur Importsubstitution und zur Partei Einiges Russland kundtut.

Und nun ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich – dem Immobilienmarkt. In St. Petersburg werden potenzielle Käufer überschüttet mit Reklame für schwedische Wohnungen, finnische Häuser, 2- und 3-Zimmer-Studioapartments nach europäischem Standard und sogar ganze, nach westlichen Hauptstädten benannte Häuserblöcke. In diesem pragmatisch durchkonzipierten Business weiß man genau, wo die wirklichen Prioritäten zahlungskräftiger Menschen liegen, welchen Lebensstil sie attraktiv finden. Niemand versucht, einem erfolgreichen Menschen, der über ein paar Millionen für den Kauf einer Immobilie verfügt, Wohnanlagen namens Shanghai, Dubai oder Mumbai schmackhaft zu machen.

Schauen wir vom Immobilienmarkt hinüber zum Sport. Hier herrscht, so will man meinen, unverhohlener Patriotismus. Hier jubelt man den eigenen Leuten zu und hasst aufrichtig sämtliche Gegner. Nur dass der Begriff „eigene Leute“ in letzter Zeit äußerst vage geworden ist. Wir unterstützen aufrichtig eine Fußballmannschaft, die beinahe gänzlich aus Legionären besteht, während sich unter den Gegnern massenhaft Landsleute finden. Und der Klub braucht nur die Legionäre auszuwechseln – und schon sympathisieren die Fans mit Spielern, die sie eben noch auspfiffen, als sie in der gegnerischen Mannschaft spielten.

Das markanteste Beispiel für die Relativität unseres Patriotismus ist aber das Kino. Der Antiamerikanismus geht überraschenderweise mit einer großen Beliebtheit Hollywoods einher. In Umfragen verurteilen unsere Landsleute das amerikanische Militär voller Zorn, aber sobald sich der Befragte zum Zuschauer wandelt, bezahlt er Geld dafür, sich mit einem amerikanischen Marineinfanteristen oder Polizisten identifizieren zu dürfen. Aber auch hier geht es nicht um Doppelmoral. In einem professionell produzierten russischen Actionfilm steht derselbe Zuschauer ebenso gern auf der Seite des vaterländischen Fallschirmjägers oder Polizisten. Doch Hollywood ist stärker, reicher und in der Produktion solcher Spektakel erfahrener. Und ins Kino kommen wir wegen des Spektakels und nicht, um patriotische Gefühle an den Tag zu legen. Wir geben Geld aus für das, was wir brauchen, selbst wenn es das Produkt eines wahrscheinlichen Kriegsgegners ist.

Ähnlich sieht es im Fernsehen aus. Patriotische „informativ-analytische“ Propaganda wechselt sich ab mit Serien und Shows, die auf Originalen aus Übersee basieren. Millionen von Bürgern werden ständig amerikanisiert, selbst wenn sie sich nie im Kino Hollywoodfilme ansehen. Wie die Erfahrung mit dem Fernsehen zeigt, weinen und lachen wir ungefähr gleich wie die Menschen im Westen. Unsere psychologischen Reaktionen sind ihren sehr nahe. Man kann uns mit ähnlichen Plots fesseln. Wir reagieren auf dieselben Reizfaktoren und ereifern uns, und wir entspannen uns, wenn wir eine Melodie hören, die einem Bewohner Bostons oder Kopenhagens genauso gut gefällt.

Man könnte noch viele ähnliche Beispiele aufzählen. Ließe ein Soziologieprofessor ein paar aufgeweckte Doktoranden in den Details des wirklichen Lebens der Russen herumwühlen, würden wir wohl mehr Informationen erhalten, als uns die Massenumfragen liefern. Denn bei denen geben die Menschen nicht ihr Alltagsleben wider, sondern ihre mentalen Konstrukte, die sich aus ihren Ängsten, Wünschen und Phobien ergeben, beeinflusst durch das System der Gehirnwäsche.

Aber man darf die Fragebögen nicht einfach schlechtreden. Sie tun etwas Wichtiges, sie zeigen die Welt der Passionen, in der die Menschen leben. Man sollte bloß nicht glauben, dass es darin um das wirkliche Leben geht.

Der Mensch einer sich modernisierenden Gesellschaft wird gewöhnlich von Widersprüchen gequält. Im wirklichen Leben orientiert er sich am Lebensstil der erfolgreichen Länder – er will konsumieren wie die dort, Urlaub machen wie die dort, sich vergnügen wie die dort. Doch da dies für die große Masse der Bevölkerung eines rückständigen Landes nicht möglich ist, herrscht in einer sich modernisierenden Gesellschaft Frustration. Und um sich davor zu schützen, baut der Mensch sich einen eigenartigen mentalen Schutzschild: In Wirklichkeit sind wir gar nicht rückständig, in Wirklichkeit sind wir besser, ehrlicher, richtiger.

Sowohl der Konsum nach westlichen Standards als auch die mentale Ablehnung des Westens sind gleichermaßen ein Ergebnis der aufholenden Modernisierung. Ungefähr genau so, unter Widersprüchen leidend, versuchten seinerzeit die Deutschen, den Westen einzuholen. Und holten ihn schließlich ein, auch wenn die Modernisierung ihnen in der Mitte des 20. Jahrhunderts übel mitspielte.

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Modernisazija

Der Gedanke der Modernisierung hat in Russland eine lange Tradition. Viele Zaren, Generalsekretäre und zuletzt Präsidenten versuchten sich an der aufholenden Entwicklung zu einer stets im Westen liegenden Moderne. Als erfolgreichste unter ihnen würden die meisten Russen heute wohl Peter den Großen und Josef Stalin benennen. In der post-sowjetischen Geschichte Russlands ist das Schlagwort der Modernisierung vor allem mit der Präsidentschaft Medwedews verknüpft. Als Putin 2012 in den Kreml zurückkehrte, geriet Medwedews Vision eines modernen Russlands jedoch schnell in Vergessenheit.

Im September 2009 wurde ein Artikel des damaligen Präsidenten Dimitri Medwedew veröffentlicht, der unter der Überschrift „Rossija vperjod“ (Russland, vorwärts) eine grundlegende Modernisierung Russlands forderte.1 Er prangerte die Rückständigkeit der russischen Wirtschaft, aber auch der russischen Politik und Gesellschaft an und stellte tiefgreifende Reformen in Aussicht. Durch technologischen Fortschritt sollte Russlands Wirtschaft hochproduktiv und vom Ölexport unabhängig, aber auch gerechter und weniger korrupt werden. Mehr politische Freiheit fand sich ebenfalls unter den von Medwedew verkündeten Zielen.2

Für einige Jahre wurde die Modernisierung vor allem in der liberalen Elite Russlands intensiv diskutiert. Medwedew versuchte, seine Ideen in Vorzeigeprojekten zu manifestieren. In Skolkowo nahe Moskau sollte gemeinsam mit ausländischen Unternehmen ein Hightech-Industriepark ins Leben gerufen werden, um den Brain Drain der russischen Spitzenkräfte ins Ausland aufzuhalten.3 Auch im Ausland fanden die Pläne des dritten russischen Präsidenten Beachtung. Bereits im Jahr 2008, wenige Tage nach dem Amtsantritt Medwedews, sprach sich der deutsche Außenminister Steinmeier für eine „Modernisierungspartnerschaft“ zwischen Russland und Deutschland aus.4 Als Ziel dieser Modernisierungspartnerschaft nennt das Auswärtige Amt noch heute, die „demokratischen und marktwirtschaftlichen Institutionen mit der Unterstützung der Zivilgesellschaft zu stärken“5.

Mit der Rückkehr Putins in den Kreml endete der Modernisierungsdiskurs in Russland 2012 abrupt.6 „Modernisazija“ fand in den Reden des Präsidenten keine Erwähnung mehr und verschwand aus den Nachrichten (siehe Abb. 1). Über Skolkowo wurde nur noch in Zusammenhang mit Korruptionsskandalen berichtet. Die Modernisierungspartnerschaft zwischen Deutschland und Russland verwaiste zu einer leeren Worthülse. Zwar stiegen die deutsch-russischen Handelsumsätze, allerdings war die Folge nicht institutioneller Wandel sondern vielfach die Reproduktion des Status quo.7 Heute scheint Russland von Medwedews Modernisierungsambitionen weiter entfernt denn je.

Fraglos enthielten die Reformimpulse von Medwedew auch eine große Portion politischer PR. Allerdings zeigten sie auch, woran eine echte Modernisierung im heutigen Russland scheitert. Unter Stalin konnte die Produktivität durch erzwungene Industrialisierung noch mit Gewalt erhöht werden, ohne die Macht der Staatsführung zu gefährden. Heute wäre die ökonomische Modernisierung Russlands und der dafür notwendige Strukturwandel nur durch dezentrale unternehmerische Initiative zu erreichen.8 Dabei würde das ökonomische und politische Establishment unter Druck gesetzt. Für jede Form der politischen Reformen gilt dies umso mehr. Eine echte Modernisierung wäre für den Kreml mit einem Maß an Kontrollverlust verbunden, zu dem dieser zu keiner Zeit bereit war.


1.Kremlin.ru: Rossija wpered! 
2.Schröder, Hans-Henning (2009): Modernisierung “von oben”, in: Russland-Analysen 2009 (192), S. 2-6
3.Br.de: Russlands Modernisierung
4.Auswaertiges-amt.de: Rede des Außenministers Frank-Walter Steinmeier am Institut für internationale Beziehungen der Ural-Universität in Jekaterinburg
5.Auswaertiges-amt.de: Partner in Europa
6.Bpb.de: Analyse: Vorwärts Russland! Die Botschaft des Präsidenten an die Föderalversammlung
7.Burkhardt, Fabian (2013): Neopatrimonialisierung statt Modernisierung - Deutsche Russlandpolitik plus russischer Otkat, in: Osteuropa 2013 (8), Berlin, S. 95-106
8.Yakovlev, Andrej (2011): Modernisazija: Wsgljad snisu
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Dimitri Medwedew

Dimitri Medwedew ist seit Januar 2020 stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates. Er war von 2012 bis 2020 Premierminister und bekleidete von 2008 bis 2012 das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation. Medwedew gehört zu den engsten Vertrauten von Präsident Putin und nimmt, nicht zuletzt als Vorsitzender der Regierungspartei Einiges Russland, eine wichtige Rolle im politischen Systems Russlands ein.

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Die Präsidialadministration (PA) ist ein Staatsorgan, das die Tätigkeit des Präsidenten sicherstellt und die Implementierung seiner Anweisungen kontrolliert. Sie ist mit beträchtlichen Ressourcen ausgestattet und macht ihren Steuerungs- und Kontrollanspruch in der politischen Praxis geltend.

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Der Begriff sastoi, zu Deutsch Stagnation, meint die Periode zwischen der Absetzung des Parteichefs Nikita Chruschtschow im Jahre 1964 bis zum Beginn der Reformpolitik unter Gorbatschow im Jahre 1985. Diese Phase zeichnete sich durch fehlende politische und wirtschaftliche Dynamik aus. In der engeren Deutung wird die Bezeichnung sastoi auf die Amtszeit von Leonid Breshnew (1964–1982) angewandt.

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Der Premierminister oder Ministerpräsident ist nach dem Präsidenten die zweite Amtsperson im russischen Staat. Er ist vor allem für Wirtschafts- und Finanzpolitik verantwortlich.

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Die Wirtschaftskrise in Russland könnte die russischen Steuereinnahmen schon bald sinken lassen und das Haushaltsdefizit weiter vergrößern. Der Fiskus sucht nach Wegen, dies zu verhindern, dazu gehört auch das Steuerpressing.

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Alexander Bastrykin zählt zu den zentralen Figuren in Putins Machtapparat und ist als Leiter des mächtigen Ermittlungskomitees eine der einflussreichsten Personen in Russland.

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Am 25. Januar 1755 wurde sie auf Initiative des Universalgelehrten Michail Lomonossow gegründet: Die Staatliche Universität Moskau ist nicht nur die älteste, sondern auch die wichtigste und renommierteste Hochschule Russlands. Das Gründungsdatum am Tatjanin Den (dt. Tatjana-Tag) wird bis heute in Russland als Feiertag der Studierenden begangen.

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