Propagandistische Finte Moskaus oder ein ganz normaler Impfstoff: Sputnik V sorgt besonders im Westen immer wieder für neue Diskussionen. Nachdem bekannt wurde, dass auch Deutschland einen bilateralen Vertrag für den Ankauf des russischen Impfstoffs aushandeln will, gewinnt das Thema an zusätzlicher Brisanz.
Rund 50 Staaten verimpfen Sputnik V bereits. In der EU befindet sich das Vakzin seit Anfang März in einem beschleunigten Prüfungsverfahren der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Laut dem Fachmagazin The Lancet verfügt der Impfstoff über eine hohe Wirksamkeit, allerdings bestehen weiterhin Zweifel und Unklarheiten bezüglich möglicher Nebenwirkungen. EMA-Mitarbeiter beklagen dabei mangelnde Transparenz und Kooperation des Herstellers.
Auch wenn die Zulassung schnell über die Bühne gehen sollte, werde Sputnik V in der EU kaum eine Rolle spielen können. Das hatte zuletzt EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton bekräftigt: Bis entsprechende Produktionskapazitäten aufgebaut sind, dürften die bisherigen vertraglichen Hersteller schon genug Vakzin geliefert haben.
In der politisierten Impfstoffdebatte kann Russland gegenüber dem Westen derzeit punkten, argumentiert Alexander Baunow. Russland, so der Chefredakteur von Carnegie.ru, sei durchaus erfolgreich dabei, „die selbsterklärten Werte des Westens in ihrer Widersprüchlichkeit kollidieren zu lassen“. Im Runet wurde sein zuspitzendes Meinungsstück kontrovers diskutiert: Kritiker bemängeln unter anderem ein zu rosiges Bild der Corona-Situation in Russland, wo die Übersterblichkeit aktuell so hoch ist wie in kaum einem anderen Land auf der Welt. Andere halten Baunow zugute, dass er dem Westen durchaus den Spiegel vorhalte.
Die neuen Wellen der Pandemie unterscheiden sich stark von der ersten. Die Menschen horten keine Lebensmittel, Seife oder Toilettenpapier mehr. Niemand beschwert sich darüber, dass Masken oder Desinfektionsmittel fehlen. Der anfängliche Mangel ist längst behoben: Weder gewöhnliche Bürger noch Ärzte müssen, wie wir es in Reportagen sahen, improvisierte Masken nähen oder waschen, um sie wiederzuverwenden.
Nur Moskauer mit besonders selektiver Wahrnehmung behaupten noch, die Regierung und die Stadtverwaltung drangsaliere die Bürger mit Polizeikontrollen und mit Verboten für Reisen ins Ausland. Wie ein exotisches Märchen klingen anderswo auf der Welt die Berichte über das Land, in dem man zu Konzerten und ins Theater gehen, auf die Datscha, in die Berge oder ins Ausland fahren kann. Genau wie die Erzählungen über die Großstadt, in der sich Impfwillige unabhängig von Geschlecht, Alter und ihrer Staatsangehörigkeit in Einkaufszentren impfen lassen können.
Genau diese Gerüchte aus Moskau werden zu einem politischen Problem – in einer Zeit, in der man nicht nur Gebiete und Armeen, sondern auch Fernsehsender, Twitter-Accounts und Impfstoffe in Kategorien von Freund und Feind unterteilt.
In den ersten Monaten der Pandemie waren strenge Maßnahmen und außerordentliche finanzielle Hilfen ein Symbol für verantwortungsvolles Handeln und Fürsorge einer Regierung für ihre Bürger. In dieser Phase gewannen die disziplinierten und wohlhabenden westlichen Gesellschaften, die über ein hohes Maß an Vertrauen zueinander und zu ihrer Regierung verfügen.
Neues Symbol der Fürsorge ab der zweiten Welle: der Impfstoff
Doch in und nach der zweiten Welle wurde die Impfung und eine ausreichende Versorgung mit Impfstoff, also die Fähigkeit, mit den minimal notwendigen Beschränkungen auf die Pandemie zu reagieren, zu einem solchen Symbol von Fürsorge.
Auch wenn Russland nicht beweisen konnte, dass es mit der Pandemie besser fertig wurde, konnten Europa und die USA auch nicht das Gegenteil beweisen. Das aber wäre ausgesprochen wichtig gewesen, weil die Demokratie auf dem Prinzip der Überlegenheit gründet, wegen der man ihr nacheifern soll. Der russische Autoritarismus hingegen will als ebenbürtig gelten, und das erfordert nicht unbedingt Nachahmung.
Das wird besonders deutlich an der Haltung zu den Impfstoffen des jeweils anderen. Für Russland ist es wichtig, dass sein Impfstoff gleichrangig zu den westlichen zugelassen wird, damit der Westen und insbesondere Drittländer ihn ohne diplomatische Schwierigkeiten nutzen können. Für den Westen ist es notwendig, dass seine und im Idealfall auch Drittländer die westlichen Impfstoffe, nicht aber Sputnik V nutzen. Am Umgang mit dem Impfstoff offenbart sich: Im Konflikt des Westens mit Russland haben wir einen klaren Fall vom Kampf um Überlegenheit gegen den Kampf um Gleichheit.
Westen versus Russland – Kampf um Überlegenheit versus Kampf um Gleichheit
Während der Westen gewinnen muss, genügt Russland ein Gleichstand, um die Partie für sich zu entscheiden. Unter diesen Vorzeichen könnte die Zulassung von Sputnik V ein fragiles Gleichgewicht stören.
Es ist für den Westen schon ein ernsthaftes Problem, dass sich Sputnik V von einer „propagandistischen Finte Moskaus“ in einen gleichrangigen Impfstoff verwandelt hat. Denn ein Argument für die Überlegenheit von Demokratien besteht darin, dass sie – im Unterschied zu Autokratien – ihre Bürger nicht belügen und die Lügen der Diktatoren entlarven. Würde Sputnik V zugelassen, wäre es ein Eingeständnis, dass Putin die Wahrheit gesagt hat, seine Gegner ihn aber der Lüge bezichtigten. Und das wäre eine für viele nicht zulässige Normalisierung der Verhältnisse.
Hatte es Putin aus politischen Überlegungen sehr eilig zu erklären, Russland habe einen Impfstoff entwickelt, so hatten es die westlichen Sprecher genau so eilig, diese Aussage als Propaganda abzutun – damit manövrierten sie sich in eine schwierige Lage. Man kann Putin nach wie vor einen Fehlstart vorwerfen. Die Verkündung der Zulassung des weltweit ersten Impfstoffes, als noch nicht alle Studien abgeschlossen waren, war überstürzt. Aber ihm einen Fehl-Finish vorzuwerfen, ist ohne jeden Sinn und Zweck.
Insgesamt kein unfaires Rennen bei der Impfstoffentwicklung
Das erschüttert das stabile Konstrukt, jede unbequeme Information aus Russland könne als Lüge deklariert werden. Außerdem sät es Zweifel bei den Bürgern der Demokratien. Mit einer Zulassung von Sputnik V für den Westen würden die Staats- und Regierungschefs quasi für Putin und gegen sich selbst arbeiten. Wobei die Impfgeschwindigkeit in den westlichen Ländern jene in Russland sowohl in absoluten Zahlen als auch prozentual übersteigt. Sogar in der EU (die hinter den USA und Großbritannien liegt) waren Mitte März etwa zehn Prozent der Bevölkerung geimpft – in Russland knapp fünf Prozent. Doch in Europa wird nach Altersgruppen geimpft, während sich in Russland jeder sofort impfen lassen kann, der es möchte. Das erzeugt zusätzlich den Eindruck, Sputnik V wäre in ausreichender Menge vorhanden, während in Europa ein Mangel herrscht.
Der gemächliche Impfprozess in Russland findet vor dem Hintergrund sinkender Fallzahlen statt, während in vielen europäischen Ländern die Ansteckungen steigen. In Moskau wird sogar in Einkaufszentren und Theatern geimpft, wohingegen die europäischen Länder darüber klagen, dass nicht einmal für die Risikogruppen genügend Impfstoff zur Verfügung stehe.
In Russland herrscht Impfstoffüberfluss, in Europa Mangel und Rückstand
Die Möglichkeit der Impfung für alle erzeugt den Eindruck von Überfluss und Erfolg, gemessen am europäischen Mangel und Impfrückstand. Russland für eine Lüge zu kritisieren, ist schwieriger geworden. Nachdem sich die Kritik an Sputnik V als unberechtigt erwiesen hat, glauben westliche Bürger ihren Repräsentanten nicht mehr vorbehaltlos, wenn sie Russland der Lüge bezichtigen.
Ein politisches Problem für den Westen ist auch, dass Russland seinen Impfstoff Drittländern anbieten möchte, bevor die eigene Bevölkerung geimpft ist. Damit wird es zu einem ernsthaften Konkurrenten auf einem Feld, auf dem sich der Westen stillschweigend als Sieger wähnte: auf dem Feld der Werte – des menschlichen Lebens, des Humanismus und des Wohlwollens von Privilegierten gegenüber weniger Privilegierten.
Ein Beweis für die Überlegenheit der Demokratie ist die Tatsache, dass eine Demokratie das Leben ihrer Bürger nicht für politische Zwecke gefährdet. Brüssel, das zu Beginn der Pandemie zaghaft agiert und zugelassen hatte, dass Europa im Kampf gegen das Virus in nationale Fronten zerfällt, gewann in der Phase der Impfungen die Führung zurück. Die europäischen Länder haben sich darauf geeinigt, dass gemeinsame Organe in Brüssel für den Einkauf und die Verteilung des Impfstoffes zuständig sein sollen. Diese Entscheidung wurde getroffen, um Konkurrenz zu vermeiden, denn je größer der Absatzmarkt, desto bessere Preise können bei den Verhandlungen mit den Herstellerfirmen ausgehandelt werden. Die westlichen Regierungen haben alle Urheber- und Marktrechte bei den Entwicklerfirmen belassen. Das gilt als eine Art Gerechtigkeit: Wer in die rettenden Präparate investiert, soll profitieren. Das führt aber auch dazu, dass während einer Pandemie tausende geheime Verhandlungen geführt und hunderte undurchsichtige Verträge mit willkürlichen Preisen abgeschlossen werden.
Weder die Preise noch die weltweite Verteilung des Impfstoffes haben etwas mit den Ideen des Humanismus, der Gleichheit und der Unterstützung von historisch benachteiligten Ländern zu tun. Zwar hat die EU Maßnahmen ergriffen, um nicht intern zu konkurrieren, aber das gilt nicht für den Rest der Welt. Da konkurrieren die Reichsten mit den Armen, und erwartungsgemäß gewinnen die Reichen.
Erwartungsgemäß gewinnen die Reichen
Derzeit bestehen weltweit Verträge für etwa zehn Milliarden Dosen verschiedener Impfstoffe. Das würde genügen, um fast die gesamte Weltbevölkerung zu impfen, aber die Dosen sind ungleich verteilt. Führend sind bei der Zahl der Verträge und Einkäufe die USA; bei den Einkäufen pro Kopf liegt Kanada vorn, das Verträge für Impfdosen abgeschlossen hat, mit denen es seine Bevölkerung sechsmal impfen könnte. In Kanada hat die Epidemie relativ gefährliche Ausmaße erreicht, aber auch Australien, wo es nach der weltweiten Definition keine Epidemie gibt, hat seine Bürger zu 247 Prozent mit Impfdosen versorgt. Eine hohe vertraglich vereinbarte Versorgung sehen wir auch in der EU mit mehr als 200 Prozent und in Großbritannien mit mehr als 400 Prozent. Doch Europa gehört zu den am stärksten von der Pandemie Betroffenen.
Nicht mit Impfstoff versorgt sind erwartungsgemäß arme Länder Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und sogar des Balkans (beispielsweise der Kosovo und Bosnien).
Ein großes Chaos herrscht bei den Preisen. Die EU zahlt für eine Portion AstraZeneca 3,5 US-Dollar, Südafrika 5,25 US-Dollar und das für die Hersteller unattraktive Uganda 8 US-Dollar. Die Initiative COVAX, die von der WHO mitentwickelt wurde, um durch Sammelkäufe die armen Länder zu versorgen, kommt ins Stocken und greift nicht: Noch reicht es nicht mal für die Reichen.
Entscheidung für den Westen zahlt sich nicht aus
Besonders schwierig ist die Lage für die Nachbarstaaten der EU und Russlands, die sich für die westliche Variante entschieden haben: die Ukraine, Georgien, Moldawien. Sie schließen einen Kauf und die Produktion des russischen Impfstoffs aus Prinzip aus. Doch wegen der harten Konkurrenz innerhalb der EU-Länder bekommen sie auch keinen westlichen Impfstoff. Ihre Entscheidung für den Westen wurde also in dieser brisanten Frage nicht gewürdigt.
Diese fehlende Würdigung kann zu einer Politisierung der Impfstoffzulassungen und zu Problemen bei Einreisebestimmungen führen: Wird Sputnik V nämlich für die EU zugelassen, stehen die ehemaligen Sowjetstaaten, die sich für den Westen entschieden, aber keinen Impfstoff erhalten haben, vor der Situation, dass die mit Sputnik V geimpften Russen noch vor ihnen nach Europa reisen können.
Das gilt es zu vermeiden, deswegen sind die Nachrichten über die Zulassung des russischen Impfstoffes für Europa auch so widersprüchlich. Einerseits wird er diskutiert, andererseits, so verkünden hohe EU-Funktionäre, brauche die EU ihn nicht. Man könnte versuchen, die Zulassung von Sputnik V zu verzögern, bis ein wesentlicher Teil der Bevölkerung der verbündeten Länder mit westlichen Impfstoffen geimpft ist. So wäre eine Zulassung von Sputnik V durch Brüssel kein Eingeständnis der Schwäche und kein Verrat an den Verbündeten in der Eindämmungspolitik gegen Russland. Doch einige Länder der EU wehren sich gegen diese Verzögerung, weil sie nicht genügend westlichen Impfstoff erhalten und außerdem Einbußen durch das Ausbleiben der russischen Touristen haben.
Sputnik V könnte westlichen Regierungen in ihrer Abwehrpolitik schaden
Wegen bevorstehender Wahlkämpfe kann es sich kaum eine westliche Regierung erlauben, Impfstoff an ärmere Länder abzugeben, solange die eigene Wählerschaft nicht geimpft und der Lockdown nicht aufgehoben ist. Die russische (und auch die chinesische) Regierung dagegen bleiben verschont vor kompetitiven Wahlen und können den Impfstoff Drittländern anbieten, bevor die eigene Bevölkerung geimpft ist. Diese ist obendrein nicht zu Hause eingesperrt und hat es deswegen gar nicht eilig, sich impfen zu lassen. Der Westen kann das als einen unfairen Wettbewerbsvorteil betrachten.
In den Augen derjeniger, die den Westen und seine Verbündeten vor russischer Einmischung bewahren wollen, wäre schon die Zulassung des russischen Impfstoffs eine Schwächung der Abwehrbereitschaft. Die Dankbarkeit für die durch Sputnik V geretteten Leben und Unternehmen könnte sich schlecht auf die Abwehrbereitschaft auswirken. Alles zusammen erklärt, warum die westlichen Regierungen, die ihre Vorrangstellung hochhalten, und Russlands Nachbarn, die sich als Grenzland der westlichen Kultur begreifen, einen normalen Umgang mit dem russischen Impfstoff ablehnen.
Der Westen hat nicht nur den Anspruch, Reichtum und Effizienz zu demonstrieren, sondern auch einen Anspruch auf die globale Verantwortung. Die Ambitionen, faire Regeln für die Welt aufzustellen, werden dadurch untermauert, dass das menschliche Leben in westlichen Demokratien mehr wert ist als in allen anderen Gesellschaften.
Der Impfprozess und die Politisierung des feindlichen Impfstoffes zeigen, dass es in erster Linie um das Leben der Bürger der Demokratien selbst geht. Ja, westliche Wissenschaftler haben den Großteil des Impfstoffs entwickelt und westliche Unternehmen produzieren ihn. Der Verpflichtung, diesen Impfstoff mit Ärmeren zu teilen, kommen sie bislang eher symbolisch nach. Es gibt keinerlei Versuche, künstliche Gleichberechtigung zu konstruieren, Quoten oder eine positive Diskriminierung einzuführen: Setzen Sie erst sich eine Maske auf. Danach helfen Sie dem Kind.
Weltweiter Pathos von Gleichberechtigung wird aufgeweicht
Black Lives Matter ist de facto nur auf die privilegierten Gesellschaften wie die USA und Europa begrenzt – und das weicht das Pathos der weltweiten Kampagne für Gleichberechtigung etwas auf. Die erklärten und die tatsächlichen Ziele werden noch viel widersprüchlicher, wenn wir erfahren, dass das Gesundheitsministerium der USA es als Erfolg verbucht, Brasilien daran gehindert zu haben, den russischen Impfstoff einzukaufen – als Abwehr gegen den schädlichen Einfluss von Russland, Kuba und Venezuela. Es wirkt ganz so, als würden westliche Regierungen die linke Kritik an kapitalistischen Staaten bewusst bestätigen, derzufolge sie nur bestünden, um die Interessen von Großkonzernen zu vertreten.
Moskaus Strategie besteht nicht zum ersten Mal darin, ein Bündnis zu erzwingen, das nicht auf gemeinsamen Werten gründet, sondern gegen einen gemeinsamen Feind gerichtet ist – sei es der Terrorismus, die Piraten vor Somalia, der sogenannte Islamische Staat oder das Coronavirus.
Momentan gelingt es Russland durchaus, die selbsterklärten Werte des Westens in ihrer Widersprüchlichkeit miteinander kollidieren zu lassen. Indem westliche Demokratien ihr Handeln ausschließlich danach ausrichten, nicht in die Falle eines Bündnisses mit autoritären Staaten zu geraten, verlieren sie genau die Werte aus dem Blick, die sie diesen Staaten vor Augen halten. Das deutet auf den Verlust jener Überlegenheit hin, die sie eigentlich festigen wollen, indem sie den russischen Impfstoff nicht zulassen.