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Covid: Die Russland-Variante

Russland droht die vierte Welle der Corona-Pandemie – wenn sich das Land nicht schon mittendrin befindet. Die offiziellen Zahlen – die viele immer noch für geschönt halten – sind erschreckend: Die Anzahl der Neuinfektionen pro Tag liegt demnach bei mehr als 20.000, mit 669 Toten am Tag war die Sterberate Ende Juni so hoch wie nie zuvor. Besonders stark betroffen sind die Metropolen, dabei sind allein in Moskau laut Behördenangaben 90 Prozent der Neuinfektionen auf die Delta-Variante zurückzuführen. 

So war es auch Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, der vor rund zwei Wochen Alarm schlug. In Moskau dürfen seit Montag nur noch Geimpfte, Getestete oder Genesene die Restaurants und deren Außenbereiche besuchen, was über QR-Codes geprüft wird. Außerdem verhängte Moskau eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, einzelne weitere russische Regionen in der Folge ebenfalls. Nichtsdestotrotz wird am morgigen Freitag ein Viertelfinalspiel der Fußball-EM in der Sankt Petersburger Gazprom-Arena stattfinden – 50 Prozent Auslastung sind zugelassen, das sind knapp 30.000 Menschen.

Beim Direkten Draht mit Wladimir Putin am gestrigen Mittwoch war Corona eines der wichtigsten Themen. Putin betonte dabei die Notwendigkeit einer Impfung, schloss eine Impfpflicht jedoch aus und sagte, dass durch die neue Impfstrategie der Regionen ein Lockdown hoffentlich verhindert werden könne. 
Immer wieder werden kritische Stimmen laut, dass eine einheitliche Coronastrategie fehle: Die Regierung habe vielmehr lange den Eindruck erweckt, als sei die Coronagefahr gebannt. Und auch jetzt überlasse sie die Verantwortung den Regionen – wohl aus Angst, vor der Dumawahl im Herbst unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen.

Die Impfskepsis jedenfalls ist in Russland trotz der erschreckend hohen Zahlen nach wie vor groß: Laut John Hopkins University sind nur knapp 12 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft – und das, obwohl Russland mit Sputnik V als erstes Land einen Impfstoff zugelassen hatte. Laut Umfrageinstitut Lewada lehnen nach wie vor rund 60 Prozent der Menschen im Land eine Impfung ab. 

In sozialen Medien entbrannte sogleich eine heftige Debatte über die teilweise geltende Impfpflicht. Die Linien verlaufen dabei jedoch nicht nur zwischen Corona-Leugnern, Impfgegnern und -befürwortern, vielmehr wird quer durch alle Milieus ein hohes Misstrauen gegenüber staatlich verordneten Maßnahmen deutlich. 

Ein solches „Misstrauen auf allen Ebenen“ nimmt auch Journalist Andrej Sinizyn wahr und gibt auf Republic Einblick in ein zerrüttetes Gesundheits-und Vertrauenssystem.

Source Republic

Impfmöglichkeit in einem Einkaufszentrum, Woronesh / Foto © Oleg Charsejew/KommersantLetztes Jahr, als meine Zwillinge zwei Monate waren, fuhren wir in die Poliklinik, um sie vorschriftsgemäß impfen zu lassen. Wir gingen nacheinander ins Behandlungszimmer (die Mutter mit der Tochter und ich mit dem Sohn). Als wir fertig waren, wunderten wir uns, warum ein Kind eine Schluckimpfung gegen Rotaviren, das andere aber eine Spritze bekommen hatte. Doch auf unsere empörte Nachfrage entgegnete die Krankenschwester, das müsse so sein. Erst zu Hause sagte unsere wachsame Großmutter (eine Kinderärztin mit langjähriger Berufserfahrung), die gerade zu Besuch war, eine Rotaviren-Impfung würde niemals gespritzt. Wir fuhren sofort wieder hin und es stellte sich heraus, dass die Krankenschwester sich vertan und meinen Sohn gegen Hepatitis statt gegen Rotaviren geimpft hatte („Was ist schon dabei? Nächstes Mal machen wir es eben andersrum.“). 

Falsche Impfung? „Was ist schon dabei?“

Wir mussten ihn umgehend gegen Rotaviren und unsere Tochter gegen Hepatitis impfen lassen. Das war natürlich eine zusätzliche Belastung für den kleinen Körper (zuvor hatten beide auch noch „Prevenar“ bekommen), aber sonst wäre es noch gefährlicher geworden: Gegen Rotaviren gibt es eine Lebendimpfung, ein Kind könnte das andere anstecken, sie leben ja nicht nur zusammen, sie saugen auch noch an derselben Brust. 
Selbstverständlich war der Papa schuld, weil er sich nicht im Voraus informiert hatte, welche Impfstoffe wie verabreicht werden. Anders gesagt, er hätte sich nicht blind auf die Pädiatrie verlassen dürfen, wo man offensichtlich Impfungen vertauscht, dies zunächst abstreitet und dann auch noch sagt: „Was ist schon dabei?“

Gesundheitssystem am Boden – und dann bricht die Epidemie aus

Der Papa ist ja nicht erst seit gestern auf der Welt, er hat schon seine Eltern zu Grabe getragen – verstorben an einem Infarkt und an Lungenkrebs, beides war im Bezirkskrankenhaus nicht diagnostiziert worden. Und auch er selbst hat schon bei Gesprächen mit Ärzten widersprüchliche Erfahrungen machen müssen. Ob Sowjetunion oder Russland, ob Kinder- oder Erwachsenenmedizin – die Qualitätsunterschiede sind nicht sonderlich groß. Alles hängt vom jeweiligen Krankenhaus, den jeweiligen Ärzten und jeweiligen Krankenschwestern ab, und die haben nicht wirklich viele Anreize, ihre Arbeit gut zu machen. Darüber wurde bereits hundertfach berichtet. Das Ausbildungsniveau, die technische Versorgung, die Gehälter, die Korruption, der Druck durch die Verwaltung (Buchhaltung und Schönung der Daten, damit das Ergebnis stimmt), der Druck durch die Behörden (Stichwort „Ärzteverschwörung“), die berüchtigte Optimierung des Gesundheitswesens – das alles sind Faktoren, weshalb die medizinische Versorgung in Russland in den letzten Jahren ins Bodenlose gestürzt ist.

Und dann bricht in diesem Land eine Epidemie aus. Wir berichten über heldenhafte Ärzte, heldenhafte Krankenschwestern, heldenhafte Ehrenamtler – völlig zurecht. Sie sind Helden, sie retten Menschen, riskieren ihre Leben, sterben. Wir berichten von aus dem Nichts gestampften Covid-Krankenhäusern mit moderner Technik – auch zurecht, obwohl sich hier schon erste Fragen stellen: nach der medizinischen Versorgung jenseits von Covid und nach Korruption. 

Korruption, Ineffizienz und schwindende Kompetenz

Vergessen wir nicht, dass das russische Gesundheitssystem immer noch von Korruption, Ineffizienz und schwindender Kompetenz geprägt ist. Und wenn wirklich große Aufgaben wie die Impfung der gesamten Bevölkerung anstehen, wird das besonders deutlich.

Die Novaya Gazeta berichtete davon, wie in Impfzentren Sputnik V gegen EpiVacCorona ausgetauscht wird (der Impfstoff hat zwar keine klinischen Studien durchlaufen, aber dafür hat der Leiter der Gesundheitsaufsichtsbehörde ihn mitentwickelt). Forscher haben ernsthafte Vorbehalte gegen EpiVac. Zudem wird einigen Patienten nach einer ersten Impfung mit Sputnik V als zweite Dosis EpiVac verabreicht, was prinzipiell nicht zulässig ist. Diese Fälle sind so häufig, dass sie sich nicht mehr mit Versehen oder Unwissenheit entschuldigen lassen – es scheint vielmehr, als bekämen die Kliniken entsprechende Anweisungen von oben. Zudem gibt es vermutlich Lieferengpässe bei Sputnik. Angenommen, Sputnik fehlt, die Logistik hinkt, aber, sieh an, EpiVac ist verfügbar – nehmen wir!

Die Menschen, die der Novaya davon erzählt haben, werden vor Gericht ziehen. Aber wie viele Menschen, die wissen, dass sie betrogen wurden, ziehen nicht vor Gericht? Und wie viele wissen es nicht mal?

Misstrauen auf allen Ebenen

Wenn wir behaupten, der Unwille der russischen Bevölkerung, sich impfen zu lassen, käme vom Misstrauen gegenüber der Regierung, denken die meisten wohl an Putin, Mischustin, Sobjanin oder irgendwelche Minister und Bürgermeister. Aber Misstrauen herrscht auf allen Ebenen, auch auf der untersten: Misstrauen untereinander ist allen wohlbekannt.

Gehört ein Arzt zum Machtapparat dazu? Für den Durchschnittsrussen absolut, und das seit Sowjetzeiten. Das Gesundheitswesen war ja staatlich (und ist es auch heute noch mehr oder weniger). Aber sogar, wenn es um konkrete Behandlungen geht, lehrt die Erfahrung mit diesem System einen Patienten, dass er ihm nur vertrauen soll, wenn es gar nicht anders geht. 60 Prozent der Lunge hin – na gut, dann rettet mich mal, wo wart ihr denn bislang? Aber mich impfen lassen? Nee, ich trink lieber einen Wodka, ein bewährtes Volksheilmittel. 

Deswegen liegt Russland am 23. Juni mit einer Impfquote von 14,13 Prozent auch weltweit auf Platz 83. Während die Zahl der Infizierten unaufhaltsam steigt, Moskau und Petersburg brechen alle Rekorde bei der Corona-Sterberate.

„Mich impfen lassen? Nee, ich trink lieber einen Wodka“

In den sozialen Netzwerken wird hitzig diskutiert, ob das russische Volk gut oder böse sei, weil es sich trotz aller Gegebenheiten, trotz wirksamen Impfstoffs, nicht impfen lassen wolle und damit die Gesundheit anderer gefährde. Während die Regierung – endlich „aufgewacht“ – die Verantwortung für die Nicht-Impfung auf das Volk schiebt. 

Aber eigentlich nehmen sich Volk und Regierung nicht viel. Das Problem ist nicht nur, dass ein Staat, der bisher gelogen hat, plötzlich die Wahrheit sagt und etwas Nützliches tut, während das Volk sein Glück nicht fassen kann und ihm nicht glaubt. Das Problem ist auch, dass der Staat das Nützliche mit seinen gewohnten Mitteln macht – sprich, einfach Mist –, indem er nur die halbe Wahrheit sagt, und auch die nur, wenn er davon einen Vorteil hat. Deswegen verliert nicht nur der Durchschnittsrusse den Überblick, sondern auch der Durchschnittsarzt, der zu diesem Russen sagt: „Der Impfstoff ist nicht ausreichend erforscht, lass dich lieber nicht impfen.“ 

Aber die Beamten wären keine Beamten, wenn sie die Bürger nicht zur Impfung motivieren würden: durch strenge Regelungen in Restaurants, Druck auf Unternehmen, die Einführung einer 60-prozentigen Impfpflicht, Androhung von Diskriminierung und Kündigung. Sie übererfüllen die Norm und reproduzieren Sowjetpraktiken, denen die Bürger längst zu entgehen gelernt haben.

Nicht alle natürlich. Die Impfpflicht („wie in der Sowjetunion“) kann die Quote anheben. Viele Bürger sind paternalistisch eingestellt; wenn eine „starke Hand“ uns zur Impfung zwingt – na dann machen wir’s halt. Aber irgendein „Impfkapital“ oben drauf, das wär doch fein? Natürlich mit der Verpflichtung, es in die Gesundheit zu investieren. Nur in die Gesundheit! Keine Auszahlung in bar, versteht sich … Na ja, höchstens für eine Reise in den Kaukasus. Oder für die Hypothek. Ein bisschen was für die Hypothek ist schon in Ordnung, oder Wladimir Wladimirowitsch? So kurz vor den Wahlen?

Dann lassen wir uns auch impfen. Wenn wir dann noch leben.

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Das russische Gesundheitssystem

Vor dem Betrachter entfaltet sich eine utopische Stadtlandschaft: Einförmige Plattenbauten, gehalten in Blautönen, umringt von Parkanlagen und Springbrunnen reihen sich hintereinander in die Ferne; das deutlich umrissene Oval eines Stadions, Hochhäuser und rauchende Fabrikschlote sind zu sehen. Dazwischen seltene, kaum wahrnehmbare Punkte: die Menschen. Als würde sie diese Utopie umarmen, reckt im Vordergrund eine lächelnde Frau in weißem Kittel und weißer Haube ihre Arme empor. Sie ist das sowjetische Ideal einer Ärztin: eine Halbgöttin in Weiß. Über der Abbildung prangt das Staatswappen der Sowjetunion, eine Inschrift besagt: „Die Gesundheit des Menschen ist Gemeingut des Volkes“.

Sowjetische Plakate aus dem Jahr 1971. Quelle: 22-91.ru Es gibt wohl keine treffendere Allegorie auf das Gesundheitswesen der UdSSR als dieses Plakat von 1971. Es wirkt wie eine Illustration zur These des US-amerikanischen Soziologen und Medizinforschers Mark Field. Dieser sagte, dass das Gesundheitssystem der Sowjetunion keine Privatangelegenheit sei, sondern ein Dreieck bilde: Über dem Arzt und dem Patienten schwebt immer der Staat.1

Das heutige russische Gesundheitssystem ist in vielerlei Hinsicht das Erbe des sowjetischen Modells. Alle noch so tiefgreifenden Veränderungen stehen im Dialog mit der sozialistischen Vergangenheit – indem sie sie entweder ablehnen oder, im Gegenteil, reproduzieren. Die Dialektik von staatlicher Kontrolle und Liberalisierung bestimmt heute die Arbeitsweise der russischen Medizin

Das sowjetische Gesundheitswesen war zentralisiert und hierarchisch. Die Schlüsselrolle übernahm darin der Staat: Er garantierte allumfassenden Zugang zur medizinischen Versorgung für alle Bürger und übernahm Planung und Finanzierung. Private medizinische Praxis war in diesem Modell nicht vorgesehen, die Versorgung erfolgte ausschließlich in staatlichen Einrichtungen.

Das sowjetische System 

Der Patient galt in diesem System als unwissend und unfähig, eigenverantwortliche Entscheidungen hinsichtlich seiner Gesundheit zu treffen. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient war auf Paternalismus gegründet. Diese Besonderheit illustriert der allseits bekannte sowjetische Witz: Ein Patient erwacht nach einer OP und will wissen, wohin man ihn bringt. „Leichenhalle“, antwortet man ihm. „Vielleicht doch lieber auf die Station?“ „Wer wird sich denn hier selbst behandeln! Der Arzt hat gesagt, Leichenhalle, also geht’s in die Leichenhalle!“

Das Versorgungssystem war nach dem Prinzip der geografischen Abdeckung und dem Grad der Komplexität organisiert: Von ländlichen medizinischen Einrichtungen, die oft nur eine Grundversorgung garantierten, bis hin zu gut ausgestatteten Kliniken auf Ebene der Sowjetrepubliken. Die Ressourcen zwischen diesen Einrichtungen waren ungleich verteilt. In der spätsowjetischen Zeit waren die Kliniken des Verteidigungsministeriums, aber auch Spezialkrankenhäuser für Vertreter der sowjetischen Elite, privilegiert – hier konzentrierten sich die besten Ärzte und die beste medizinische Ausstattung. Am anderen Ende der Hierarchieleiter befanden sich die Kranken- und Entbindungsstationen auf dem Land sowie Bezirkskrankenhäuser, in denen es spürbar an finanziellen Mitteln und medizinischem Personal mangelte.

Trotz seiner offensichtlichen Unzulänglichkeiten gehörte das sowjetische System zu den effektivsten seiner Zeit, wenn es um die Verwaltung und den Zugang der Bevölkerung zur medizinischen Versorgung ging. Im Vorfeld der Perestroika mussten die sowjetischen Ärzte zwar den Rückstand hinter der europäischen und amerikanischen Medizin anerkennen, aber was die Organisation der Gesundheitsversorgung betraf, hatte die Sowjetunion zukunftsweisende Erfahrungen vorzuweisen, an denen sich die internationalen Gemeinschaft orientieren konnte.2

Gesundheit unter Marktbedingungen 

Nach dem Zerfall der UdSSR stand das gesamte Gesundheitssystem vor einer Herausforderung: Es musste sich an die Bedingungen der Marktwirtschaft anpassen. Seit Beginn der 1990er Jahre hat das russische Gesundheitswesen eine Reihe von Reformen durchlaufen. Im ersten Jahrzehnt erlebte die medizinische Versorgung eine rasante Kommerzialisierung bei gleichzeitiger Liberalisierung ihrer Verwaltung. Staatliche Krankenhäuser und Polikliniken boten zunehmend auch kostenpflichtige Dienstleistungen an, parallel dazu entwickelte sich auch der private Medizinmarkt. Insgesamt ging man damals davon aus, dass die Ressourcen im neuen System nicht nach einem Plan des Ministeriums verteilt, sondern „dem Kunden folgen“ würden.

Um dieses Prinzip in die Tat umzusetzen, wurde ein Krankenversicherungssystem entwickelt, das sich aus einer obligatorischen (OMS) und einer freiwilligen Versicherung (DMS) zusammensetzte. Die medizinische Versorgung im Rahmen der Pflichtversicherung blieb für den Patienten kostenfrei und wurde aus Steuergeldern finanziert, in Einzelfällen auch aus dem Staatshaushalt. Die freiwillige Versicherung dagegen sah vor, dass die Patienten auf eigene Kosten oder aber auf Kosten des Arbeitgebers eine Zusatzpolice abschließen, die die Behandlung in Privatkliniken oder den kostenpflichtigen Abteilungen staatlicher Krankenhäuser ermöglicht.

Die Auswirkungen der rasanten Reformen der 1990er Jahre auf die Medizin waren zwiespältig. Einerseits führte die Einschränkung der Rolle des Staates und der staatlichen Investitionen in das Gesundheitssystem zu wachsender Ungleichheit beim Zugang zur medizinischen Versorgung. Einkommensschwache Bevölkerungsgruppen und Bewohner entlegener Gebiete sahen sich mit der Situation konfrontiert, dass es in den Krankenhäusern an Verbandszeug und grundlegenden Medikamenten fehlte. Andererseits veränderte sich die Stellung des Patienten innerhalb des Gesundheitssystems maßgeblich. Die Verantwortung für die eigene Gesundheit ging vom Staat auf den Einzelnen über – die Menschen waren plötzlich gezwungen, sich zu informieren und Entscheidungen zu treffen, ihnen zustehende Garantien einzufordern oder nach vertrauenswürdigen Privatkliniken zu suchen.

Die Verantwortung des Staates: Rhetorik und Praxis 

Seit Beginn der 2000er Jahre kehrt die Sozialpolitik wieder zunehmend zu dieser sowjetischen Idee von der Verantwortung des Staates für die Gesundheit seiner Bürger zurück. So sprach Wladimir Putin bereits 2001 von einer staatlich garantierten „vollumfänglichen medizinischen Grundversorgung für die Bevölkerung“3. Allerdings passt diese Rhetorik nicht immer mit der institutionellen Gewährleistung zusammen: Das Versprechen von staatlichen Garantien verläuft parallel zum sogenannten „Optimierungsprozess“ des Gesundheitswesens.

Die Effizienz medizinischer Leistungen wird nicht mehr nach rein medizinischen Kriterien beurteilt, sondern anhand ökonomischer Faktoren. Die Wirtschaftlichkeit medizinischer Einrichtungen spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Im Zuge dieser „Optimierung“ wurden zahlreiche kleinere Krankenhäuser und Polikliniken geschlossen und ihre Funktionen auf regionale Institutionen übertragen. In der Folge sank die Zahl der Ärzte und der verfügbaren Leistungen in den Regionen.4

Reformen, die den Einfluss des Marktes erhöhen und den Übergang von einer Haushaltsfinanzierung zum Versicherungsmodell gestalten sollten, verfehlten ebenfalls ihr Ziel. Die Pflichtversicherung konnte sich nicht als eigenständiger Mechanismus zur Verteilung der finanziellen Ressourcen etablieren, sondern fungiert eher als zusätzliches Glied in der Kette, die die staatlichen Mittel in die medizinischen Einrichtungen transportiert.

Obwohl die Bürger seit den 1990er Jahren immer mehr für ihre Gesundheit ausgeben, bleibt der Anteil derjenigen, die eine freiwillige Versicherung abschließen oder eine Privatklinik aufsuchen, vergleichsweise gering: Nur knapp ein Viertel der Russen nimmt die Zusatzversicherung in Anspruch.5

Eine Sonderstellung innerhalb des Finanzierungssystems nehmen die sogenannten wsjatki ein: informelle, direkte Gelder der Patienten an die behandelnden Ärzte. Trotz der insgesamt sinkenden Tendenz dieser Praxis wird das Gesundheitswesens immer noch erheblich über solche Gelder finanziert, zumal Ärzte an staatlichen Einrichtungen in der Regel unterdurchschnittlich verdienen.6

Die wachsende Ungleichheit und die Unbeständigkeit des Gesundheitssystems führen schließlich dazu, dass das Vertrauen in die Medizin Umfragen zufolge weiter sinkt.


Quelle: FOM

Und die Onkologie? 

Am Beispiel der Vorsorge und Behandlung onkologischer Erkrankungen werden die Besonderheiten des Gesundheitssystems am deutlichsten. Dem Problem der Krebserkennung und -behandlung wird in Russland erklärtermaßen viel Aufmerksamkeit geschenkt: Es ist Bestandteil von föderalen Zielprogrammen und nationalen Projekten. Die Höhe der Mittel, die in die Diagnostik und Behandlung, die Ausbildung des medizinischen Personals und die Ausstattung der Krankenhäuser mit moderner Technik fließen, lassen auf ein hohes Interesse des Staates auf diesem Gebiet schließen. 17 Forschungsinstitute sind in Russland im Bereich der Onkologie tätig, regelmäßig finden große Konferenzen statt.

Aber auch hier herrscht eine Diskrepanz zwischen den Anforderungen, die an die Ärzte gestellt werden, und den strukturellen Möglichkeiten, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.

Eine Schlüsselrolle bei der Diagnostik von onkologischen Erkrankungen spielen die Ärzte der Polikliniken. Ihre Aufgabe ist es, Symptome so früh wie möglich zu erkennen und den Patienten an einen Facharzt für Onkologie zu überweisen. Doch in der Praxis wird die Arbeit der Ärzte durch eine Reihe von Faktoren erschwert: Die oben genannte „Optimierung“ führt dazu, dass Ärzte innerhalb eines Dienstes eine größere Anzahl von Patienten versorgen und dabei die medizinische Leistung mit einer arbeitsintensiven bürokratischen Dokumentation vereinbaren müssen. Oft fehlt es den Poliklinik-Ärzten zudem an Vorwissen auf dem Gebiet der Onkologie. Das führt dazu, dass über ein Drittel aller onkologischen Erkrankungen in Russland erst in späteren Stadien festgestellt werden7, was wiederum eine hohe Sterblichkeit zur Folge hat.

Obwohl die Behandlung von onkologischen Erkrankungen in den staatlichen Einrichtungen offiziell kostenfrei ist, wenden sich Patienten oft gleichzeitig an private Institute. So gehen sie beispielsweise mit ihren Beschwerden in eine staatliche Klinik, aber um die monatelangen Wartezeiten zu vermeiden, lassen sie die notwendigen Untersuchungen in einer Privatpraxis machen oder bezahlen in der staatlichen Einrichtung dafür. Familien müssen häufig selbst für die Kosten für Anfahrt und Unterkunft aufkommen, die durch die Behandlung in einer anderen Stadt entstehen. Insgesamt wird der Behandlungs- und Genesungserfolg zu einem wesentlichen Teil von dem Einsatz und den Ressourcen der Patienten und ihres unmittelbaren Umfelds bestimmt.

Nicht der Staat allein 

Einige der strukturellen Probleme und institutionellen Einschränkungen der russischen Medizin werden durch die Arbeit von nichtkommerziellen Organisationen kompensiert. In Russland existiert eine ganze Reihe von gemeinnützigen Stiftungen, wie etwa die Stiftung Podari Shisn [Schenke Leben], die sich um schwerkranke Kinder kümmert, die Konstantin-Chabenski-Stiftung, die Kindern mit Gehirnerkrankungen hilft, oder die Sankt Petersburger Stiftung AdVita, die Kinder und Erwachsene mit onkologischen Erkrankungen unterstützt.

Diese Organisationen erfüllen eine ganze Reihe von Funktionen: angefangen bei der Aufklärung und der Begleitung der Patienten mit Informationen über die Anschaffung der nötigen Geräte und Medikamente bis hin zur Behandlung im Ausland. Nicht selten nehmen die NGOs eine aktive Position in der Gesetzgebung auf dem Gebiet der Medizin ein, prägen die politische Agenda und treten als Experten auf.

Besondere Bedeutung erlangte die Arbeit der Stiftungen in den letzten Jahren, wenn es um Importsubstitutionen ging: 2014 trat in Russland ein Gesetz in Kraft, das die Verwendung von importierten medizinischen Geräten und Medikamenten in staatlichen Einrichtungen einschränkt. Das Gesetz stellte viele Ärzte und Patienten vor Probleme, denn einheimische Präparate und Geräte sind hinsichtlich Qualität und Patientenkomfort nicht immer mit den ausländischen vergleichbar. Hier sind gemeinnützige Stiftungen und NGOs diejenigen, die einerseits Patienten mit seltenen genetischen Erkrankungen oder Krebspatienten bei der Beschaffung von notwendigen Medikamenten unterstützen – und andererseits eine breite öffentliche Debatte über das Problem anstoßen, wobei sie auch staatliche Akteure einbeziehen.

Prinzip Eigenverantwortung 

Auf das Plakat von 1971 zurückkommend kann man fragen: Hat sich die russische Medizin seit damals verändert? Haben die zahlreichen Reformen zu einem wirklichen Wandel geführt? Einerseits bleibt der Staat trotz der wirtschaftlichen Umbrüche in der Gesundheitsversorgung der Hauptakteur: Sowohl Ärzte als auch Patienten sind von staatlicher Finanzierung und den Entscheidungen der Regierung abhängig. Grundlegende Leistungen der Gesundheitsfürsorge – angefangen bei der Vorsorgeuntersuchung bis hin zum Notarzteinsatz und Abdeckung hochtechnisierter medizinischer Versorgung – liegen in der Verantwortung des Staates. Der Zugang zu diesen Leistungen und ihre Qualität entsprechen jedoch bei weitem nicht immer den Bedürfnissen der Patienten. Häufig müssen die Menschen selbst für die Behandlungen aufkommen, oder sie sind auf die Hilfe von NGOs und gemeinnützigen Stiftungen angewiesen. Angesichts der unzureichenden staatlichen Unterstützung muss die nächste Generation notgedrungen bereit sein, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, in die medizinische Versorgung zu investieren und als Bürger aktiv zu werden.


1.Field, M. G. (1957). Doctor and patient in Soviet Russia. Cambridge, Mass., S. 266.
2.Geltzer A. (2012) Surrogate Epistemology: the Transformation from Soviet to Russian Biomedicine. PhD Dissertation. Cornell University  
3.Kremlin.ru: Poslanie Federal'nomu Sobraniju Rossijskoj Federacii (3 aprelja 2001 goda)  
4.Rbc.ru: Čislo bol'ničnych koek v Rossii v 2016 godu umen'šilos' na 23 tys.
5.Šiškin S. V., Vlasov V. V., Kolosnicyna M. G., Bojarskij S. G., Zasimova L. S., Kuznecov P. P., Ovčarova L. N., Chorkina N. A., Šejman I. M., Stepanov I. M., Ševskij V. I., Jakobson L. I. (2018): Zdravoochranenie: neobchodimye otvety na vyzovy vremeni. Sovmestnyj doklad Centra Strategičeskich Razrabotok i Vysšej školy ėkonomiki ot 21.02.2018 g.- 56 s., in: Ruk.: S. V. Šiškin. M. (2018): Centr strategičeskich razrabotok.  
6.Ebd.
7.A.D. Kaprin, V.V. Starinskij, G.V. Petrova (2019): Sostojanie onkologičeskoj pomošči naseleniju Rossii v 2018 godu.
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Korruption in Russland – soziologische Aspekte

Korruption ist in Russland weit verbreitet – sowohl in Politik und Wirtschaft als auch im Alltagsleben. Korruption, die nicht zuletzt durch niedrige Gehälter befördert wird, kommt in zahlreichen Variationen vor: gegenseitige Gefälligkeiten, Tausch unter der Hand, Abzweigung staatlicher Mittel, Bestechungsgelder und vieles mehr. Da die Korruption systemischen Charakter angenommen hat, ist vorerst nicht damit zu rechnen, dass sie wirksam bekämpft werden kann.

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Weit verbreitet sind in Russland Proteste zu Sozialthemen wie Lohnrückstände, Sozialabbau oder LKW-Maut. Im Gegensatz zu Protestaktionen der Oppositionellen und Aktionskünstler wird jedoch über sie gerade von den westlichen Medien selten berichtet. Die Aktionsformen reichen vom Bummelstreik bis zur Selbstverbrennung. Von einigen Beobachtern als unpolitisch abgetan, gilt der Sozialprotest anderen als der wahrhaft politische, da es um konkrete Interessen statt eines abstrakten Wandels geht.

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