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„Russland fällt immer weiter zurück“

Berühmt wurde er mit seinen Fandorin-Krimis, die sich auch in Deutschland großer Beliebtheit erfreuen: Boris Akunin ist weltweit ein Kult-Autor. Dass sich Akunin, der unter Pseudonym schreibt und im wirklichen Leben Grigori Schalwowitsch Tschchartischwili heißt, auch mit Geschichte gut auskennt, das wissen hierzulande die Wenigsten. In Russland jedoch sind in den vergangenen Jahren bereits drei Bände seiner Sachbuchreihe Geschichte des russischen Staates erschienen.

Zum 60. Geburtstag des Autors im Mai 2016 sprach ZNAK mit ihm über Sinn und Unsinn der Geschichte, die Pferde der Goldenen Horde und Elektroautos am Horizont.

Source Znak

Setzt auf die Horizontale, nicht auf die Vertikale – Russlands Star-Autor Boris Akunin. Foto © Wikimedia/Dmitry Smirnov

Alexander Zadoroshni: So gründlich wie Sie, Grigori Schalwowitsch, die Geschichte Russlands erforschen, haben Sie sicher gewisse Gesetzmäßigkeiten festgestellt und formuliert. Was ist Ihrer Meinung nach der Sinn der Geschichte – und was sind ihre Gesetze? 

Boris Akunin: Ganz kurz gesagt ... Geschichtswissen hilft einer Nation, die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden. Unkenntnis und Unverständnis der Geschichte dagegen lässt sie immer wieder in dieselben Fallen tappen. Jeder andere Umgang mit der Geschichte – als Mittel zur Erziehung der heranwachsenden Generation, als Anregung zu Patriotismus, als Rechtfertigung territorialer Ansprüche et cetera – ist ein gefährlicher Irrtum.  

Das Russland von heute braucht dringend westliche Technologien. Europa wiederum ist interessiert an Russlands Rohstoffen und dem hiesigen Markt. Was denken Sie, sind wir zur Kooperation verdammt, zum „Zusammenleben“, oder werden wir es ohne einander „schaffen“?

Was soll das heißen, „verdammt“? Es ist doch wunderbar, wenn wir einander brauchen. Natürlich müssen wir Handel treiben und kooperieren. Sonst müssen wir die Chuch’e-Ideologie übernehmen und uns mit Reisrationen allein an großen staatlichen Feiertagen zufrieden geben.

„Europa geht zugrunde“: Unkontrollierbare Flüchtlingsströme, Terrorismus, der Verlust der Identifikation mit dem Christentum, sexueller Sittenverfall, Finanzkrisen – das ist bekanntlich die Standart-Sichtweise von russischer Seite. Inwiefern entspricht sie der Realität?

Gar nicht. So wie das derzeitige Europa würden wohl alle gern zugrunde gehen. Natürlich gibt es Probleme, doch die sind nicht so katastrophal wie von Journalisten dargestellt. Westeuropa ist heute die beste und am besten versorgte Region der Welt. Freundliche, aufgeschlossene, friedliche Menschen gibt es dort viel mehr als anderswo, und das ist der wichtigste Gradmesser.   

Nach dem, was 2014 in der Ukraine passiert ist, werden die Wunden sehr langsam verheilen. Man wird abwarten müssen, bis in Russland das Regime wechselt

Eine Frage konkret zur Ukraine. Über mehrere Jahrhunderte des vergangenen Jahrtausends gehörten die Gebiete der heutigen Ukraine dem katholischen Großfürstentum Litauen an, danach der Königlichen Republik Polen-Litauen.

Tritt also gegenwärtig diese kulturelle Bruchstelle zutage, sind wir gar keine richtigen „Brudervölker“? Die einen Experten sprechen von einem Bruch für immer, die anderen von einem friedlichen Zusammenleben in einem gemeinsamen europäischen Haus.

Nach dem, was 2014 passiert ist, werden die Wunden nur sehr langsam verheilen. Ihre Behandlung hat eigentlich noch gar nicht begonnen. Man wird abwarten müssen, bis in Russland das Regime wechselt. Doch eine neue Regierung wird ein sehr schweres Erbe antreten.     

In der russischen Geschichte gab es Institutionen wie die Volksversammlung Wetsche oder die Ständeversammlung Semski Sobor. Was meinen Sie, sind die Russen heute fähig zu einer Demokratie europäischer Qualität?    

Natürlich sind sie das. Alles hängt von den Regeln ab, die es in der Gesellschaft gibt. Von den Signalen, die die politischen Machthaber von oben herabsenden. Vom Stand der Entwicklung demokratischer Institutionen. Vom Glauben an ihre Wirksamkeit.

Eine solche Evolution geschieht natürlich nicht von einem Tag auf den anderen. Doch jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Wenn du den nicht machst, kommst du generell nirgendwohin.

Von Iwan III. bis heute ist bei uns die Devise aktuell: „Moskau ist das Dritte Rom, ein viertes wird es nicht geben.” Was ist eigentlich das Römische an der russischen Geschichte?

„Römisch“ oder besser gesagt byzantinisch ist bei uns die Orthodoxie, die fast die gesamte russische Geschichte hindurch Staatsreligion war und es jetzt wieder geworden ist.
Im strukturell-typologischen Sinn ist Russland allerdings Nachfolger und Erbe des Reichs von Dschingis Khan und der Goldenen Horde und hat immer versucht, sich auf eben jenem Gebiet auszubreiten.

Als Erklärung dafür, warum Volksherrschaft, Selbstverwaltung und Föderalismus in Russland nur schlecht gelingen, wird oft der jahrhundertelange Einfluss dieses mongolisch-tatarischen Jochs genannt.     

Die mongolisch-tatarische Phase (der Terminus „Joch“ ist nicht korrekt) hat unseren Staatstyp bestimmt. Übrigens hat dieses Modell auch seine Stärken: eine hohe Widerstandskraft, die Fähigkeit zur Mobilisierung in Zeiten schwerer Bewährungsproben, große Ressourcen an Opferbereitschaft. Erreicht wurde das jedoch auf Kosten von Persönlichkeitsrechten und Gefühlen persönlicher Würde, die wiederum Eckpfeiler des westeuropäischen Modells sind.

Im 21. Jahrhundert werden Zentralisierung und eine ,straffe Machtvertikale‘ zur Entwicklungsbremse

In Ihrer Geschichte des russischen Staates führen Sie an, dass die Zentralisierung der Macht mehr Möglichkeiten zu „kumulativer“ Entwicklung und einem mobilisierenden Ruck biete als Demokratie und Föderalismus. Denn bei letzteren gehe viel Zeit für Abstimmungsverfahren verloren.
Ist also jetzt, wo unsere Gesellschaft einen solchen „Durchbruch“ braucht, die Zentralisierung der Macht gerechtfertigt?

Nein. Im 21. Jahrhundert werden Zentralisierung und eine „straffe Machtvertikale“ zur Entwicklungsbremse. Das Staatsmodell der Goldenen Horde hat seine historische Schuldigkeit getan.

Jetzt rückt die sogenannte Soft Power auf den Plan: Lebensstil, wirtschaftliche und technische Entwicklung, Bildungsniveau. Gewinner sind jene Länder, in denen die Entwicklung nicht auf Befehl von oben erfolgt, sondern freiwillig, an Ort und Stelle.
Provinz und Peripherie werden wichtiger als das Zentrum. Bei uns dagegen gibt es die umgekehrte Tendenz. Deswegen fallen wir immer weiter zurück.  

Kormlenije, Bestechlichkeit, Korruption – das sind unsere „Muttermale“. Dahinter verbirgt sich folgende Logik: Russland hat riesige Flächen, deswegen besteht eine ständige Notwendigkeit, die auseinanderfallenden Gebiete „zusammenzukleben“, daraus ergibt sich eine gewaltige Bürokratie und daraus wiederum Korruption.

Ist Korruption also eine natürliche Folge unserer weiten räumlichen Ausdehnung – und damit eine Gegebenheit, die man am besten einfach so hinnimmt?   

Korruption ist der natürliche Begleiter einer nackten „Vertikale“. Wenn es keine echten Abgeordneten gibt, keine unabhängigen Richter, nur Kontrolle von oben, dann lernt der Beamte schnell eine goldene Regel: Sieh zu, dass du der Obrigkeit gefällst – und mach ansonsten, was du willst.

Manchmal scheint es, als würde bei uns alles von irgendwelchen Idioten bestimmt. Doch dem ist nicht so. Minister, Bürgermeister, Gouverneure und sonstige Funktionäre sind keineswegs Idioten, sie haben nur eine andere Priorität: Oberstes Ziel jeder Handlung ist es, der Gunst der Vorgesetzten zu dienen, und nicht dem Interesse an der Sache und schon gar nicht der Gunst der Bevölkerung.

Alles Wichtige müssen die Menschen entscheiden, dort, wo sie leben. Nicht in Moskau. Sonst zischt der Rest der Welt in Elektroautos an uns vorüber und verschwindet am Horizont

Unsere Geschichte kennt sowohl Beispiele der „offenen“ (Nowgorod) als auch der „geschlossenen“, autarken Entwicklung. Was denken Sie, welcher Weg ist für uns der organischste, welcher verspricht den meisten Erfolg?

Im 21. Jahrhundert muss man auf die „Horizontale“ setzen, also auf die Entwicklung der Regionen, auf deren kreatives Potenzial. Das Zentrum muss in diesem Orchester die Rolle des Dirigenten spielen und Arbeiten übernehmen, die für die gesamte Bevölkerung von Bedeutung sind. Punkt.

Und alles Wichtige müssen die Menschen entscheiden, dort, wo sie leben. Nicht in Moskau. Sonst werden wir immer wieder auf das „Pferd der Horde“ steigen und runterfallen – während der Rest der Welt in Elektroautos an uns vorüberzischt und am Horizont verschwindet.

In Russland ist man gern stolz darauf, dass wir weder Westen noch Osten sind, dass wir einen „besonderen Weg“ haben: einen Staat, den Normannen gegründet und Mongolen gestaltet und geprägt haben.    

Pah, was wir nicht alles finden, um uns aufzuplustern. „Besonderer Weg“, „wir sind die Besten“, „nein, wir sind die Schlechtesten“. Bei uns klopft man eben gern reißerische Sprüche.
Man muss dafür sorgen, dass es zu Hause sauber und ordentlich ist. Damit sich die Menschen im eigenen Land wohlfühlen. Damit der Staat dem Volk dient, und nicht umgekehrt. Damit die Menschen nicht erniedrigt werden. Damit den Schwachen geholfen wird, ein normales Leben zu führen, und den Starken, sich weiterzu­entwickeln. Dann wird sich Schritt für Schritt alles bei uns regeln, und die ganze Welt wird uns Respekt zollen.   

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Alexander III.

Zar Alexander III. (1845–1894) regierte Russland als vorletzter Kaiser (1881–1894). Seine Regierungszeit prägten eine repressive Innen- und eine auf Ausgleich bedachte Außenpolitik. Am Ende des 19. Jahrhunderts fühlte er sich zunehmend vor Herausforderungen der Moderne gestellt, sei es in Gestalt politischer Ideen wie des Liberalismus oder durch technische Innovationen wie dem Projekt der Transsibirischen Eisenbahn.

Der spätere Zar Alexander III. wurde 1845 als Alexander Alexandrowitsch Romanow geboren. Nach dem Tod seines Großvaters Zar Nikolaus (Nikolaj) I. 1855 und seines älteren Bruders Nikolaus 1865 wurde Alexander unverhofft zum Zarewitsch, dem nominellen Nachfolger auf dem Zarenthron. Als sein Vater Alexander II. 1881 verstarb, wurde er im selben Jahr russischer Kaiser.

Repressive Innenpolitik

Für Alexander III. stand innenpolitisch die Frage im Mittelpunkt, ob sich Russland auf die repressiven Wurzeln seines politischen und sozialen Systems berufen oder sich an den Idealen des europäischen Liberalismus orientieren sollte, denen sich sein Vorgänger Alexander II. bereits durch seine Großen Reformen in den 1860er und 1870er Jahren angenähert hatte. Das liberale Reformpaket war im zeitgenössischen Russland aber heftig umstritten und bald zeigte sich, dass Alexander III. sich nicht nur aufgrund seiner kräftigen Statur und seines einfachen, phlegmatischen Gemüts von seinem Vater unterschied. Mehr und mehr drängte er die Großen Reformen durch Gegengesetze zurück, außerdem betrieb Alexander III. eine Russifizierung vor allem der baltischen und polnischen Gebiete Russlands und erließ Gesetze zur systematischen Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung.1 Auch der Ausbau der staatlichen Sicherheitsarchitektur, etwa die Schaffung des Geheimdienstes Ochranka, fällt in seine Amtszeit. Ein Grund hierfür lag sicherlich auch im Schicksal seines Vaters, der einem Bombenattentat der terroristischen Gruppe Narodnaja Wolja (Volkswille und zugleich Volksfreiheit) zum Opfer gefallen war.

Foto © De Jongh Freres Neully Paris/gemeinfreiWährend sich Alexander III. also kritisch gegenüber den politischen Ideen der Moderne positionierte, zeigte er eine große Begeisterung für technologische Innovationen. Zum prestigeträchtigsten Projekt seiner Regentschaft wurde die Grundsteinlegung der Transsibirischen Eisenbahn. Ironischerweise wurde er aber im Oktober 1888 selbst bei einem Eisenbahnunfall schwer verletzt.

Im Gegensatz zur Innen- gestaltete Alexander III. die russländische Außenpolitik ungleich vorsichtiger. Vor allem war er vor dem Hintergrund des verlorenen Krimkriegs darauf bedacht, militärische Konflikte mit den anderen europäischen Großmächten zu vermeiden. Alexander III. erwarb sich den Ruf als „Friedens-Zar“ (russ.: Zar-Mirotworez)2, er erneuerte das Bündnis mit Frankreich und unterhielt zunächst noch gute Beziehungen mit dem Deutschen Reich. Das Verhältnis zu Großbritannien blieb auch vor dem Hintergrund geopolitischer Konfliktlinien ambivalent.

Bruch mit Deutschland

In den 1890ern verschlechterte sich das Verhältnis zu Deutschland rapide. Otto von Bismarck sah sein Land in Europa vor dem Hintergrund der russisch-französischen Annäherung zunehmend isoliert, die Nicht-Verlängerung des Rückversicherungsvertrages (russisch-deutsches Neutralitätsabkommen von 1887) verlieh dieser Entwicklung weitere Dynamik. Der Bruch mit Deutschland und die Annäherung an Frankreich unter Alexander III. zeichnete so bereits die Grundzüge der Fraktionsbildung im Ersten Weltkrieg vor.


1.Kappeler, Andreas (2001): Rußland als Vielvölkerreich, München, S. 209 ff./221 ff.
2.Tolmatschev, Evgenij (2007): Aleksander III. i ego vremja, Moskau, S. 653
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Die Reformen Alexanders II.

Als Reformen Alexanders II. (auch: die Großen Reformen) wird ein Bündel von Gesetzesänderungen bezeichnet, von denen die Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 als die wichtigste gilt. Durch weitreichende Strukturreformen sollte das Russische Reich auf die neuen Herausforderungen der Industrialisierung vorbereitet und weiter an europäische Normen herangeführt werden.

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Als Lubok werden einfache, meist farbige russische Druckgrafiken bezeichnet, die vor allem im 17. – 19. Jahrhundert verbreitet waren und auch als Volksbilderbögen bekannt sind. Im übertragenen Sinne kann der Begriff „Lubok“ auch für Dinge benutzt werden, die als plump, vulgär oder unbeholfen gelten.

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Sein Name ist untrennbar mit seinem größten Coup verbunden – dem Schwarzen Quadrat (1915, Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau). Sein im doppelten Sinn ikonisches Gemälde stellt eine Tabula rasa für das Medium Malerei dar und bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer gegenstandslosen Abstraktion, die bis heute andauert. Malewitsch verstarb am 15. Mai 1935.

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Sergej Bondartschuk (1925–1994) war ein bedeutender sowjetischer und russischer Filmregisseur, Drehbuchautor und Schauspieler. Bereits mit 32 Jahren wurde er als jüngster Schauspieler überhaupt als Volkskünstler der UdSSR ausgezeichnet. Sein Regiedebüt Ein Menschenschicksal (1959) gilt heute als Klassiker des sowjetischen Kinos. Im Westen wurde er vor allem durch die Verfilmung des Romans Krieg und Frieden (1967) von Lew Tolstoi bekannt, in der er auch eine der Hauptrollen übernahm. Der Film gehört zu den erfolgreichsten sowjetischen Filmen und hatte auch international großen Erfolg. 1969 erhielt er den Golden Globe und den Oscar als bester fremdsprachiger Film. Weitere bedeutende Regiearbeiten Bondartschuks sind unter anderem Waterloo (1970), Boris Godunow (1986) und der Mehrteiler Der stille Don (1994).

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)