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Corona: „Die Rettung ist Sache der Ertrinkenden“

Trotz Corona läuft in Russland immer noch vieles nach dem Prinzip Business as usual: Einzelne Stimmen kritisieren in Sozialen Netzwerken, dass die Regierung zwar über ein Maßnahmenpaket zur Stützung der russischen Wirtschaft nachdenkt, bei durchgreifenden Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit aber zaghaft bleibt. Sie glauben, dass die seit vergangenem Freitag verhängten Einreisesperren für Menschen aus Westeuropa die Pandemie nicht eindämmen werden und fordern drastischere Schritte: unter anderem die Vertagung der Volksabstimmung am 22. April und die Absage öffentlicher Siegesfeiern am 9. Mai

Währenddessen empfiehlt das russische Bildungsministerium, selbst zu entscheiden, ob man in die Schule oder Uni geht oder zu Hause bleibt. All dies ist für den russischen Politikwissenschaftler Sergej Medwedew Anlass für einen Kommentar auf Facebook, den 2000 Menschen geteilt haben.

Source Social Media

Die feige „Empfehlung“ von Sobjanin und dem Bildungsministerium, dass Schulen und Hochschulen „freiwillig“ besucht werden, statt sie komplett zu schließen, ist ein sehr schlechtes Zeichen. Es bedeutet, dass die Behörden mehr Angst vor Panik haben als vor dem Virus selbst – und dass sie eine feige unentschiedene Strategie gewählt haben, um sich der Verantwortung zu entziehen. „Die Eltern spielen in diesem Fall eine größere Rolle“, sagt Sobjanin in seinem Dekret. Also, Stopp mal. Das heißt, nicht die Ärzte, nicht der Epidemie-Stab, sondern die Eltern dürfen entscheiden, ob ihre Kinder potentielle Träger des Virus werden. Das ist nicht nur absurd, das ist kriminell. Man kann nicht ein bisschen schwanger sein, und man kann keine partielle, optionale Quarantäne einführen – entweder Quarantäne oder keine Quarantäne. Schon eine Person, die ausschert, bringt das ganze System zum Einsturz.

Die Behörden scheinen hin und herzuschwanken zwischen der immer dringlicheren Notwendigkeit einer Quarantäne (da die Lawine ausländischer Nachrichten nicht mehr zu verbergen ist) und der Unmöglichkeit, solche Maßnahmen zu ergreifen. 

Die Unmöglichkeit ist meines Erachtens rein technischer Natur – wir haben einfach nicht das Niveau an staatlicher und gesellschaftlicher Organisation, an Screenings, Tests, Ausrüstung, Disziplin und strikter Durchsetzung von Gesetzen, wie wir es in China und zum Teil auch in Italien gesehen haben. 

Der 9. Mai im postapokalyptischen Bühnenbild à la Wuhan?!

Wie stellen Sie sich den Shutdown der Moskauer Metro vor? Das wäre eine Katastrophe, keine städtische, sondern eine nationale. Das Anhalten der 20-Millionen-Metropole käme einem Herzstillstand des Landes gleich. Außerdem ist es aus rein politischen Gründen nicht möglich, vor dem 22. April und dem 9. Mai den Notstand auszurufen – das alles sollte in der herrlichen Atmosphäre eines Nationalfeiertags stattfinden, nicht in einem postapokalyptischen Bühnenbild à la Wuhan, in Schutzanzügen, unter einer Chlorhexidin-Dusche.

Daher wird es keine Quarantäne geben, stattdessen feige, halbherzige Maßnahmen wie den freiwilligen Schulbesuch, die „Empfehlungen“, öffentliche Veranstaltungen zu reduzieren (übrigens wenn eine Kundgebung verboten wird, wird das nicht empfohlen, sondern verboten, da gibt es keine Zwischentöne), einen teilweise eingeschränkten Flugverkehr (man nehme nur dieses anekdotische Flugverbot nach Europa, ausgenommen sind die Flüge ins süße Herz der Oligarchen und Abgeordneten nach Großbritannien – da sind doch Kinder, Familien, Häuser!) und so weiter. 

Die Mächtigen waschen sich die Hände in Unschuld (entschuldigen Sie den Schenkelklopfer) und sagen der Bevölkerung: Die Rettung der Ertrinkenden ist Sache der Ertrinkenden – entscheiden Sie selbst, wie Sie sich schützen wollen! Sollte was sein – wir haben Ihnen eine Empfehlung gegeben und damit sind wir raus.

„Die Rettung der Ertrinkenden ist Sache der Ertrinkenden“

Stattdessen kauft die Bevölkerung brav die Mär von „viralen Atemwegserkrankungen“ ab, postet Sprüche, dass jedes Jahr mehr Menschen an Mückenstichen sterben als jetzt an Corona, schimpft auf Panikmacher und Hysteriker und lebt weiter in vollem Genuss und Saus und Braus. Das ist die typische, infantile Reaktion einer unfreien, patriarchalischen, geschlossenen Gesellschaft: Bedrohung wird verleugnet, Angst verdrängt und man verhält sich ostentativ nachlässig.

Währenddessen ist das Virus hier schon längst angekommen, und nur wenige glauben den lächerlichen Zahlen von 59 erkrankten Menschen [Stand: 15. März 2020] in einem Land mit 146 Millionen Einwohnern, das in alle Richtungen offen ist: Die Chinesen sind ungehindert über den Amur eingereist, ehe im Fernen Osten die Quarantäne verhängt wurde. Und was den europäischen Teil Russlands angeht: Zehntausende sind im Februar und März in die am stärksten verseuchten Regionen Europas gereist und wieder nach Russland zurückgekehrt. 

Und je länger es geht, desto lächerlicher werden die offiziellen Zahlen sein, die realen Zahlen werden aber in der allgemeinen Sterbestatistik alter Menschen verborgen sein, unter den saisonalen viralen Atemwegserkrankungen und ambulant erworbenen Lungenentzündungen. In den Sterbeurkunden wird wie immer „akute Herzinsuffizienz“ stehen, wie auch beim Tod durch Folter geschrieben wird. Und das alles bestreite mal einer im Nachhinein – eine Insuffizienz hat ja schlussendlich wirklich eingesetzt, alles saubere Fakten. 

Erinnerung an den schrecklichen Sommer 2010

Ich erinnere mich an den schrecklichen Sommer 2010, Hitze überall, die Wälder brannten, und Moskau war vom glühenden Smog umhüllt. Damals starben laut inoffiziellen Schätzungen bis zu 40.000 ältere Menschen. Unter ihnen war auch mein 83-jähriger Vater, und als der Polizist schweißgebadet ein Protokoll zur Feststellung der Todesursache verfasste und dann seine Stimme senkte, erzählte er mir, dass allein ihre Abteilung jeden Tag hunderte Todesfälle aufnimmt, in der ganzen Stadt seien es Zehntausende. Dessen ungeachtet gab es jedoch keine Statistik über die hitzebedingte Sterblichkeit, alles löste sich in den üblichen Diagnosen auf, die älteren Menschen gestellt werden.

Wir sind das freieste Land der Welt!

Deshalb befürchte ich, dass wir im Modus des freien Schulbesuchs, der freien Quarantäne und des freien Sterbens verbleiben werden. Dabei wird der Mensch sogar frei sein von einer Diagnose – wir sind das freieste Land der Welt! Die Politik hat sich aus der Verantwortung gestohlen und mächtige Nebelkerzen gezündet, die das wahre Ausmaß der Epidemie verbergen. Hinzu kommt noch die normale Nachlässigkeit der Bevölkerung, und dann ist der Punkt erreicht, an dem unsere Atomisierung, unser geringes Sozialkapital, das Fehlen von Vertrauen, Disziplin und sozialer Solidarität und das Lagerprinzip „Stirb du heute und ich sterbe morgen“ zu uns zurückkommen wird wie ein Bumerang. 

Amtszeiten, Verfassungen, Leben – alles wird annulliert

Ja, die Epidemie wird bis zum Sommer ihre natürliche Grenze erreichen, und Merkel hat wohl Recht, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung sich anstecken werden, von denen viele nicht einmal ahnen, dass sie krank sind. Doch gleichzeitig werden nicht nur die Verfassung und Putins Amtszeiten annulliert, sondern auch viele Leben, die man hätte retten können, wenn das oben Beschriebene nicht wäre. Doch wann und wer hat in dem Land der großen Errungenschaften je Menschenleben gezählt?

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Das russische Gesundheitssystem

Vor dem Betrachter entfaltet sich eine utopische Stadtlandschaft: Einförmige Plattenbauten, gehalten in Blautönen, umringt von Parkanlagen und Springbrunnen reihen sich hintereinander in die Ferne; das deutlich umrissene Oval eines Stadions, Hochhäuser und rauchende Fabrikschlote sind zu sehen. Dazwischen seltene, kaum wahrnehmbare Punkte: die Menschen. Als würde sie diese Utopie umarmen, reckt im Vordergrund eine lächelnde Frau in weißem Kittel und weißer Haube ihre Arme empor. Sie ist das sowjetische Ideal einer Ärztin: eine Halbgöttin in Weiß. Über der Abbildung prangt das Staatswappen der Sowjetunion, eine Inschrift besagt: „Die Gesundheit des Menschen ist Gemeingut des Volkes“.

Sowjetische Plakate aus dem Jahr 1971. Quelle: 22-91.ru Es gibt wohl keine treffendere Allegorie auf das Gesundheitswesen der UdSSR als dieses Plakat von 1971. Es wirkt wie eine Illustration zur These des US-amerikanischen Soziologen und Medizinforschers Mark Field. Dieser sagte, dass das Gesundheitssystem der Sowjetunion keine Privatangelegenheit sei, sondern ein Dreieck bilde: Über dem Arzt und dem Patienten schwebt immer der Staat.1

Das heutige russische Gesundheitssystem ist in vielerlei Hinsicht das Erbe des sowjetischen Modells. Alle noch so tiefgreifenden Veränderungen stehen im Dialog mit der sozialistischen Vergangenheit – indem sie sie entweder ablehnen oder, im Gegenteil, reproduzieren. Die Dialektik von staatlicher Kontrolle und Liberalisierung bestimmt heute die Arbeitsweise der russischen Medizin

Das sowjetische Gesundheitswesen war zentralisiert und hierarchisch. Die Schlüsselrolle übernahm darin der Staat: Er garantierte allumfassenden Zugang zur medizinischen Versorgung für alle Bürger und übernahm Planung und Finanzierung. Private medizinische Praxis war in diesem Modell nicht vorgesehen, die Versorgung erfolgte ausschließlich in staatlichen Einrichtungen.

Das sowjetische System 

Der Patient galt in diesem System als unwissend und unfähig, eigenverantwortliche Entscheidungen hinsichtlich seiner Gesundheit zu treffen. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient war auf Paternalismus gegründet. Diese Besonderheit illustriert der allseits bekannte sowjetische Witz: Ein Patient erwacht nach einer OP und will wissen, wohin man ihn bringt. „Leichenhalle“, antwortet man ihm. „Vielleicht doch lieber auf die Station?“ „Wer wird sich denn hier selbst behandeln! Der Arzt hat gesagt, Leichenhalle, also geht’s in die Leichenhalle!“

Das Versorgungssystem war nach dem Prinzip der geografischen Abdeckung und dem Grad der Komplexität organisiert: Von ländlichen medizinischen Einrichtungen, die oft nur eine Grundversorgung garantierten, bis hin zu gut ausgestatteten Kliniken auf Ebene der Sowjetrepubliken. Die Ressourcen zwischen diesen Einrichtungen waren ungleich verteilt. In der spätsowjetischen Zeit waren die Kliniken des Verteidigungsministeriums, aber auch Spezialkrankenhäuser für Vertreter der sowjetischen Elite, privilegiert – hier konzentrierten sich die besten Ärzte und die beste medizinische Ausstattung. Am anderen Ende der Hierarchieleiter befanden sich die Kranken- und Entbindungsstationen auf dem Land sowie Bezirkskrankenhäuser, in denen es spürbar an finanziellen Mitteln und medizinischem Personal mangelte.

Trotz seiner offensichtlichen Unzulänglichkeiten gehörte das sowjetische System zu den effektivsten seiner Zeit, wenn es um die Verwaltung und den Zugang der Bevölkerung zur medizinischen Versorgung ging. Im Vorfeld der Perestroika mussten die sowjetischen Ärzte zwar den Rückstand hinter der europäischen und amerikanischen Medizin anerkennen, aber was die Organisation der Gesundheitsversorgung betraf, hatte die Sowjetunion zukunftsweisende Erfahrungen vorzuweisen, an denen sich die internationalen Gemeinschaft orientieren konnte.2

Gesundheit unter Marktbedingungen 

Nach dem Zerfall der UdSSR stand das gesamte Gesundheitssystem vor einer Herausforderung: Es musste sich an die Bedingungen der Marktwirtschaft anpassen. Seit Beginn der 1990er Jahre hat das russische Gesundheitswesen eine Reihe von Reformen durchlaufen. Im ersten Jahrzehnt erlebte die medizinische Versorgung eine rasante Kommerzialisierung bei gleichzeitiger Liberalisierung ihrer Verwaltung. Staatliche Krankenhäuser und Polikliniken boten zunehmend auch kostenpflichtige Dienstleistungen an, parallel dazu entwickelte sich auch der private Medizinmarkt. Insgesamt ging man damals davon aus, dass die Ressourcen im neuen System nicht nach einem Plan des Ministeriums verteilt, sondern „dem Kunden folgen“ würden.

Um dieses Prinzip in die Tat umzusetzen, wurde ein Krankenversicherungssystem entwickelt, das sich aus einer obligatorischen (OMS) und einer freiwilligen Versicherung (DMS) zusammensetzte. Die medizinische Versorgung im Rahmen der Pflichtversicherung blieb für den Patienten kostenfrei und wurde aus Steuergeldern finanziert, in Einzelfällen auch aus dem Staatshaushalt. Die freiwillige Versicherung dagegen sah vor, dass die Patienten auf eigene Kosten oder aber auf Kosten des Arbeitgebers eine Zusatzpolice abschließen, die die Behandlung in Privatkliniken oder den kostenpflichtigen Abteilungen staatlicher Krankenhäuser ermöglicht.

Die Auswirkungen der rasanten Reformen der 1990er Jahre auf die Medizin waren zwiespältig. Einerseits führte die Einschränkung der Rolle des Staates und der staatlichen Investitionen in das Gesundheitssystem zu wachsender Ungleichheit beim Zugang zur medizinischen Versorgung. Einkommensschwache Bevölkerungsgruppen und Bewohner entlegener Gebiete sahen sich mit der Situation konfrontiert, dass es in den Krankenhäusern an Verbandszeug und grundlegenden Medikamenten fehlte. Andererseits veränderte sich die Stellung des Patienten innerhalb des Gesundheitssystems maßgeblich. Die Verantwortung für die eigene Gesundheit ging vom Staat auf den Einzelnen über – die Menschen waren plötzlich gezwungen, sich zu informieren und Entscheidungen zu treffen, ihnen zustehende Garantien einzufordern oder nach vertrauenswürdigen Privatkliniken zu suchen.

Die Verantwortung des Staates: Rhetorik und Praxis 

Seit Beginn der 2000er Jahre kehrt die Sozialpolitik wieder zunehmend zu dieser sowjetischen Idee von der Verantwortung des Staates für die Gesundheit seiner Bürger zurück. So sprach Wladimir Putin bereits 2001 von einer staatlich garantierten „vollumfänglichen medizinischen Grundversorgung für die Bevölkerung“3. Allerdings passt diese Rhetorik nicht immer mit der institutionellen Gewährleistung zusammen: Das Versprechen von staatlichen Garantien verläuft parallel zum sogenannten „Optimierungsprozess“ des Gesundheitswesens.

Die Effizienz medizinischer Leistungen wird nicht mehr nach rein medizinischen Kriterien beurteilt, sondern anhand ökonomischer Faktoren. Die Wirtschaftlichkeit medizinischer Einrichtungen spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Im Zuge dieser „Optimierung“ wurden zahlreiche kleinere Krankenhäuser und Polikliniken geschlossen und ihre Funktionen auf regionale Institutionen übertragen. In der Folge sank die Zahl der Ärzte und der verfügbaren Leistungen in den Regionen.4

Reformen, die den Einfluss des Marktes erhöhen und den Übergang von einer Haushaltsfinanzierung zum Versicherungsmodell gestalten sollten, verfehlten ebenfalls ihr Ziel. Die Pflichtversicherung konnte sich nicht als eigenständiger Mechanismus zur Verteilung der finanziellen Ressourcen etablieren, sondern fungiert eher als zusätzliches Glied in der Kette, die die staatlichen Mittel in die medizinischen Einrichtungen transportiert.

Obwohl die Bürger seit den 1990er Jahren immer mehr für ihre Gesundheit ausgeben, bleibt der Anteil derjenigen, die eine freiwillige Versicherung abschließen oder eine Privatklinik aufsuchen, vergleichsweise gering: Nur knapp ein Viertel der Russen nimmt die Zusatzversicherung in Anspruch.5

Eine Sonderstellung innerhalb des Finanzierungssystems nehmen die sogenannten wsjatki ein: informelle, direkte Gelder der Patienten an die behandelnden Ärzte. Trotz der insgesamt sinkenden Tendenz dieser Praxis wird das Gesundheitswesens immer noch erheblich über solche Gelder finanziert, zumal Ärzte an staatlichen Einrichtungen in der Regel unterdurchschnittlich verdienen.6

Die wachsende Ungleichheit und die Unbeständigkeit des Gesundheitssystems führen schließlich dazu, dass das Vertrauen in die Medizin Umfragen zufolge weiter sinkt.


Quelle: FOM

Und die Onkologie? 

Am Beispiel der Vorsorge und Behandlung onkologischer Erkrankungen werden die Besonderheiten des Gesundheitssystems am deutlichsten. Dem Problem der Krebserkennung und -behandlung wird in Russland erklärtermaßen viel Aufmerksamkeit geschenkt: Es ist Bestandteil von föderalen Zielprogrammen und nationalen Projekten. Die Höhe der Mittel, die in die Diagnostik und Behandlung, die Ausbildung des medizinischen Personals und die Ausstattung der Krankenhäuser mit moderner Technik fließen, lassen auf ein hohes Interesse des Staates auf diesem Gebiet schließen. 17 Forschungsinstitute sind in Russland im Bereich der Onkologie tätig, regelmäßig finden große Konferenzen statt.

Aber auch hier herrscht eine Diskrepanz zwischen den Anforderungen, die an die Ärzte gestellt werden, und den strukturellen Möglichkeiten, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.

Eine Schlüsselrolle bei der Diagnostik von onkologischen Erkrankungen spielen die Ärzte der Polikliniken. Ihre Aufgabe ist es, Symptome so früh wie möglich zu erkennen und den Patienten an einen Facharzt für Onkologie zu überweisen. Doch in der Praxis wird die Arbeit der Ärzte durch eine Reihe von Faktoren erschwert: Die oben genannte „Optimierung“ führt dazu, dass Ärzte innerhalb eines Dienstes eine größere Anzahl von Patienten versorgen und dabei die medizinische Leistung mit einer arbeitsintensiven bürokratischen Dokumentation vereinbaren müssen. Oft fehlt es den Poliklinik-Ärzten zudem an Vorwissen auf dem Gebiet der Onkologie. Das führt dazu, dass über ein Drittel aller onkologischen Erkrankungen in Russland erst in späteren Stadien festgestellt werden7, was wiederum eine hohe Sterblichkeit zur Folge hat.

Obwohl die Behandlung von onkologischen Erkrankungen in den staatlichen Einrichtungen offiziell kostenfrei ist, wenden sich Patienten oft gleichzeitig an private Institute. So gehen sie beispielsweise mit ihren Beschwerden in eine staatliche Klinik, aber um die monatelangen Wartezeiten zu vermeiden, lassen sie die notwendigen Untersuchungen in einer Privatpraxis machen oder bezahlen in der staatlichen Einrichtung dafür. Familien müssen häufig selbst für die Kosten für Anfahrt und Unterkunft aufkommen, die durch die Behandlung in einer anderen Stadt entstehen. Insgesamt wird der Behandlungs- und Genesungserfolg zu einem wesentlichen Teil von dem Einsatz und den Ressourcen der Patienten und ihres unmittelbaren Umfelds bestimmt.

Nicht der Staat allein 

Einige der strukturellen Probleme und institutionellen Einschränkungen der russischen Medizin werden durch die Arbeit von nichtkommerziellen Organisationen kompensiert. In Russland existiert eine ganze Reihe von gemeinnützigen Stiftungen, wie etwa die Stiftung Podari Shisn [Schenke Leben], die sich um schwerkranke Kinder kümmert, die Konstantin-Chabenski-Stiftung, die Kindern mit Gehirnerkrankungen hilft, oder die Sankt Petersburger Stiftung AdVita, die Kinder und Erwachsene mit onkologischen Erkrankungen unterstützt.

Diese Organisationen erfüllen eine ganze Reihe von Funktionen: angefangen bei der Aufklärung und der Begleitung der Patienten mit Informationen über die Anschaffung der nötigen Geräte und Medikamente bis hin zur Behandlung im Ausland. Nicht selten nehmen die NGOs eine aktive Position in der Gesetzgebung auf dem Gebiet der Medizin ein, prägen die politische Agenda und treten als Experten auf.

Besondere Bedeutung erlangte die Arbeit der Stiftungen in den letzten Jahren, wenn es um Importsubstitutionen ging: 2014 trat in Russland ein Gesetz in Kraft, das die Verwendung von importierten medizinischen Geräten und Medikamenten in staatlichen Einrichtungen einschränkt. Das Gesetz stellte viele Ärzte und Patienten vor Probleme, denn einheimische Präparate und Geräte sind hinsichtlich Qualität und Patientenkomfort nicht immer mit den ausländischen vergleichbar. Hier sind gemeinnützige Stiftungen und NGOs diejenigen, die einerseits Patienten mit seltenen genetischen Erkrankungen oder Krebspatienten bei der Beschaffung von notwendigen Medikamenten unterstützen – und andererseits eine breite öffentliche Debatte über das Problem anstoßen, wobei sie auch staatliche Akteure einbeziehen.

Prinzip Eigenverantwortung 

Auf das Plakat von 1971 zurückkommend kann man fragen: Hat sich die russische Medizin seit damals verändert? Haben die zahlreichen Reformen zu einem wirklichen Wandel geführt? Einerseits bleibt der Staat trotz der wirtschaftlichen Umbrüche in der Gesundheitsversorgung der Hauptakteur: Sowohl Ärzte als auch Patienten sind von staatlicher Finanzierung und den Entscheidungen der Regierung abhängig. Grundlegende Leistungen der Gesundheitsfürsorge – angefangen bei der Vorsorgeuntersuchung bis hin zum Notarzteinsatz und Abdeckung hochtechnisierter medizinischer Versorgung – liegen in der Verantwortung des Staates. Der Zugang zu diesen Leistungen und ihre Qualität entsprechen jedoch bei weitem nicht immer den Bedürfnissen der Patienten. Häufig müssen die Menschen selbst für die Behandlungen aufkommen, oder sie sind auf die Hilfe von NGOs und gemeinnützigen Stiftungen angewiesen. Angesichts der unzureichenden staatlichen Unterstützung muss die nächste Generation notgedrungen bereit sein, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, in die medizinische Versorgung zu investieren und als Bürger aktiv zu werden.


1.Field, M. G. (1957). Doctor and patient in Soviet Russia. Cambridge, Mass., S. 266.
2.Geltzer A. (2012) Surrogate Epistemology: the Transformation from Soviet to Russian Biomedicine. PhD Dissertation. Cornell University  
3.Kremlin.ru: Poslanie Federal'nomu Sobraniju Rossijskoj Federacii (3 aprelja 2001 goda)  
4.Rbc.ru: Čislo bol'ničnych koek v Rossii v 2016 godu umen'šilos' na 23 tys.
5.Šiškin S. V., Vlasov V. V., Kolosnicyna M. G., Bojarskij S. G., Zasimova L. S., Kuznecov P. P., Ovčarova L. N., Chorkina N. A., Šejman I. M., Stepanov I. M., Ševskij V. I., Jakobson L. I. (2018): Zdravoochranenie: neobchodimye otvety na vyzovy vremeni. Sovmestnyj doklad Centra Strategičeskich Razrabotok i Vysšej školy ėkonomiki ot 21.02.2018 g.- 56 s., in: Ruk.: S. V. Šiškin. M. (2018): Centr strategičeskich razrabotok.  
6.Ebd.
7.A.D. Kaprin, V.V. Starinskij, G.V. Petrova (2019): Sostojanie onkologičeskoj pomošči naseleniju Rossii v 2018 godu.
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)