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HIV-Epidemie in Jekaterinburg?

„HIV in Jekaterinburg offiziell zur Epidemie erklärt“ – diese Meldung erregte kürzlich großes Aufsehen in Russland. Auch weil schnell ein unerwartetes Statement kam: Das sei überhaupt keine Neuigkeit und in vielen russischen Regionen der Fall. Jekaterinburgs Bürgermeister Jewgeni Roisman hatte sich da zu Wort gemeldet, ein unkonventioneller Typ in der russischen Regionalpolitik.

Roisman – der nicht im Tagesgeschäft der Stadtregierung steckt, sondern repräsentative Funktionen hat – sprang mit seiner Stellungnahme zum HIV-Problem dem eigenen Gesundheitsamt zur Seite, das ohne Umschweife einfach nur neueste Zahlen präsentiert habe. Die schockierenden Zahlen einerseits und das halbe Dementi zur Meldung andererseits verschafften dem Thema zusätzlich großes mediales Echo.

Das liberale Webmagazin slon.ru bat Anton Krassowski, den Leiter des gemeinnützigen HIV-Präventivfonds spid.center, gemeinsam mit Roisman zum Interview. Ist die Situation in Jekaterinburg tatsächlich schlimmer als anderswo in Russland?

Quelle slon

Jewgeni Roisman, Bürgermeister von Jekaterinburg

Kürzlich wurde bekanntgegeben, dass in Jekaterinburg 1,8 Prozent der Bevölkerung mit HIV infiziert sind. Aber das bedeutet ja nicht – betrachtet man ganz Russland – dass in Jekaterinburg die meisten Menschen mit HIV leben, sondern dass die Erkrankung in Jekaterinburg am häufigsten festgestellt wurde.

Eine derartige Situation haben wir nicht nur in Jekaterinburg – sondern im ganzen Land. Nur hat unser städtisches Gesundheitsamt den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir haben keine Angst, das laut zu sagen.

In Wirklichkeit unterscheidet sich Jekaterinburg, was die Anzahl von HIV-Infizierten betrifft, überhaupt nicht von anderen russischen Millionen- und Industriestädten. Bei uns ist es genauso wie bei allen anderen. Aufs Ganze gesehen ist die Situation im Land sogar schlechter als in Jekaterinburg. Wir haben nur einfach die höchste Anzahl an getesteten Personen. Das Gesundheitsamt in Jekaterinburg arbeitet schon seit vielen Jahren an der Dokumentation von HIV. Wir haben ein großes Zentrum für Prävention und Bekämpfung von Aids. In Jekaterinburg wurde bislang etwa ein Viertel der Bevölkerung erfasst, also auf HIV getestet. In ganz Russland sind das durchschnittlich weniger als 15 Prozent.

In der Oblast Swerdlowsk ist die Anzahl der HIV-Infizierten auf 100.000 getestete Personen sicherlich höher als in Jekaterinburg. Ganz sicher gibt es auch eine ähnliche Situation in Saratow, Nowosibirsk, Irkutsk, Kimry, Twer, Wyschni Wolotschok und vielen anderen russischen Städten. In landwirtschaftlichen Regionen sieht es vielleicht etwas besser aus, aber in Millionenstädten ist die Situation schlechter.

Warum dann jetzt erst die Nachrichtenschwemme über eine Epidemie?

Еine allgemeine Epidemie liegt vor, wenn mehr als ein Prozent der Bevölkerung infiziert ist. Das haben wir doch schon vor fünf Jahren öffentlich gemacht. Ich persönlich spreche seit 1999 davon, dass sowohl in der Stadt als auch in der gesamten Region eine HIV-Epidemie grassiert, weil es schon damals offensichtlich war.

Unser Drogenzentrum kann bis zu 300 Leute aufnehmen, davon waren etwa 50 HIV-positiv. Ich weiß also, wovon ich spreche.”

Den Zahlen des Gesundheitsamtes zufolge steigt die Zahl der Infizierten jährlich. Wenn ich es richtig verstehe, handelt es sich bei diesen Zahlen um die im jeweiligen Jahr dokumentierten HIV-Fälle und nicht um Neuinfektionen. Wie steht es denn um die tatsächliche Zahl der Neuinfizierten? Denken Sie, dass sie gerade zurückgeht?

Ich denke, die Dynamik dürfte sich ein bisschen verlangsamen. Dennoch steigt die Gesamtzahl der HIV-Infizierten, und diese werden unweigerlich weitere Menschen anstecken.

Die erste sehr starke HIV-Welle wurde durch Heroinkonsum ausgelöst: Bis zu 40 Prozent der heroinabhängigen jungen Männer hatten HIV. Von den jungen Frauen, die heroinabhängig waren, hatten es fast alle, außerdem waren fast alle von ihnen Prostituierte. Aber seit jener Zeit gibt es in den Apotheken sehr viele Einmalspritzen, so dass man sie problemlos kaufen kann.

Dann kam die zweite Welle durch die Droge Desomorphin, im Volksmund auch Krokodil genannt. Zu der Zeit wurden in allen Apotheken im Land tonnenweise codeinhaltige Präparate vertrieben und jeder – vom Apothekerlehrling bis zum Gesundheitsminister – wusste ganz genau, wem und wozu sie verkauft wurden.

Damals lief alles völlig aus dem Ruder, denn Desomorphin ist eine Gemeinschaftsdroge, sie wird in den letzten Löchern konsumiert. Hinzu kommt noch, dass die Droge mit eigenen Spritzen aus einer gemeinsamen Schüssel aufgezogen wird. Im Vergleich mit Heroin war das so, als würde man Öl ins Feuer gießen – ich hatte mit diesen Menschen zu tun, die Zahl der Infizierten unter ihnen war erheblich höher.

Unser Drogenzentrum kann bis zu 300 Leute aufnehmen, davon waren etwa 50 HIV-positiv. Ich weiß also, wovon ich spreche. Wir haben in 15 Jahren etwa 9.000 Drogenabhängige behandelt und haben jeden, den wir aufgenommen haben, zur Blutabnahme ins HIV-Zentrum gebracht.

Codeinhaltige Präparate werden seit 2012 offiziell nur noch auf Rezept verkauft. Hat sich die Situation dadurch gebessert?

Man muss bedenken, dass HIV mit der Zeit vom Drogenmilieu in besser sozialisierte Schichten vorgedrungen ist. Es gibt plötzlich eine Menge Leute, die überhaupt nichts dafür können, dass sie sich angesteckt haben. Die Menschen stecken sich im normalen Leben an – bei Bluttransfusionen, und natürlich durch Geschlechtsverkehr. Doch am meisten schmerzt, dass bei uns seit Mitte der 1990er Jahre Kinder mit HIV zur Welt kommen. (In Jekaterinburg wurde bei 342 Kindern HIV diagnostiziert, bei weiteren 400 besteht der Verdacht. – Slon)


Anton Krassowski, Leiter der Stiftung spid.center

Laut den Ihnen vorliegenden Informationen: Handelt es sich um eine Epidemie oder nicht?

Ich kenne keinen Fall, wo eine HIV-Epidemie auf regionaler Ebene festgestellt wird. Es geht ja hier nicht um eine Grippe, um eine Krankheit, die durch Tröpfcheninfektion übertragen wird, und auch nicht um eine, die sich durch regionale Maßnahmen bekämpfen ließe, verstehen Sie? Welche epidemologischen Maßnahmen könnten denn erfolgen? Das ist mir völlig unklar. Die Region kann natürlich eine gewisse Summe für den Einkauf von Präparaten beisteuern, lokale Programme und andere Dinge vorschlagen, aber das ganze Maßnahmenpaket muss mit Moskau abgestimmt werden. Das heißt grob gesagt: Die Region muss beim Gesundheitsministerium, beim Verbraucherschutz, beim Föderationsrat und bei der Regierung irgendwelche Subventionen für irgendwelche Zusatzausgaben erwirken. Das alles ist eine sehr schwierige Angelegenheit.

Aber die Zahlen in Jekaterinburg sind tatsächlich so: zwei Prozent – und das sind nur die offiziell dokumentierten zwei Prozent.

Wie unterscheiden sich die Zahlen für ganz Russland?

Momentan sind in Russland über eine Million Menschen mit HIV-Infektion erfasst: Am 1. Juni waren es 1.057.000, zum Ende des Jahres werden es 1.120.000 Menschen sein. Und das sind die Zahlen über die gesamte Zeitspanne seit Ausbruch der Epidemie, die nicht jetzt gerade in Jekaterinburg ausgebrochen ist, sondern 1987 in der Sowjetunion.

Eine Epidemie beginnt, sobald in einem Land der erste Fall einer Infektionskrankheit auftaucht, die sich ausbreitet. Nach dem ersten Fall folgten immer mehr, es sind nie weniger geworden, sondern immer mehr. Die Epidemie war seit Beginn bekannt. Auch vor 30 Jahren in der Sowjetunion war sie bekannt. Heute sprechen wir jedoch von einer „generalisierten Epidemie“. Das tut man, wenn die Epidemie den Charakter einer Naturkatastrophe annimmt und ein Ausmaß erreicht, das sich durch nichts und niemanden kontrollieren oder vorhersagen lässt. Wenn also die Zahl ein Prozent übersteigt.

Hinzu kommt, dass das nicht die gesamte Bevölkerung betrifft, sondern den sexuell aktiven Teil. Die Epidemie grassiert also nicht unter Rentnern über 65. Das heißt zwar nicht, dass es unter ihnen keine Virusträger gibt, aber sie sind nicht der „Motor im Handelsverkehr“. Kinder auch nicht. Das sind Menschen im Alter zwischen 18 und 50. Und von dieser Bevölkerungsgruppe sind 5 Prozent infiziert. Bei Männern im Alter zwischen 20 und 39 Jahren sind es sogar 10 Prozent. Das sind die realen Zahlen.

„​Das sind Zahlen seit Ausbruch der Epidemie, die nicht jetzt in Jekaterinburg ausgebrochen ist, sondern 1987 in der Sowjetunion.”

Welche Regionen stehen außerdem noch oben auf der Liste?

Das ganze Uralgebiet, die ganze Wolgaregion, ganz Westsibirien. Aber das Problem ist ja nicht, dass in irgendeiner Stadt, beispielsweise in der Oblast Swerdlowsk, ausnahmslos alle HIV haben. In dieser und vielen anderen Regionen ist das Problem, dass ausnahmslos alle kein Geld und keine höhere Bildung haben. Aber sie haben HIV. Fahren Sie mal zum Beispiel nach Sewerouralsk und versuchen Sie dort, Menschen auf HIV zu testen. Oder versuchen Sie mal in Nishni Tagil, einen Aidstest durchzuführen.

Es geht nicht darum, dass die Menschen die Krankheit nicht dokumentieren lassen wollen, sondern darum, dass sie überhaupt keine Vorstellung davon haben, wie sie mit ihr umgehen sollen. Das Problem heißt nicht „HIV in Russland“, es heißt: Drogenkonsum wegen der depressionsfördernden Situation in den Regionen mit stümperhafter Lokalpolitik.

Das bedeutet, solange es bei uns Drogenkonsum gibt – und den wird es geben –, werdet ihr mit keiner Mühe dieser Welt das HIV-Problem lösen. Solange ihr keine Methadon-Therapie in eurem Land erlaubt. Solange ihr nicht aufhört, Drogenkonsum zu kriminalisieren und jeden kleinen Junkie nach Paragraph 228 zu verurteilen, anstatt ihn anständig zu therapieren, ihm ein paar Tropfen Methadon, ein paar Tabletten und einen Job zu geben. Doch in unserem Land sperrt man ihn stattdessen für acht Jahre weg. Das ist der Grund, warum wir nächstes Jahr zwei Millionen Infizierte haben werden. Andere Lösungen gibt es nicht – das ist eine wissenschaftlich belegte Tatsache.

In der ganzen Welt wird sie anerkannt, nur bei uns herrscht eine andere Politik: Unser Chef-Suchtmediziner sagt, die Heilung von Drogensucht sei eine Frage der Willenskraft des Abhängigen. Und morgen behauptet dann der Chef-Onkologe, das Problem unserer Krebstherapie bestünde in der fehlenden Willenskraft der Krebskranken. Deswegen ist es völlig unmöglich, HIV zu besiegen. Hier ist es unmöglich.

Ende Oktober hat Premierminister Dimitri Medwedew die offizielle Regierungsstrategie im Kampf gegen die Verbreitung von HIV bis ins Jahr 2020 und darüber hinaus bestätigt.

Ja, und sie ist grausig. Diese Strategie lautet folgendermaßen: „Wir werden weiterhin haargenau das tun, was wir all die Jahre getan haben, sprich gar nichts.“ Wir werden den Drogenkonsum nicht bekämpfen. Wir werden Drogenabhängige weiterhin einsperren. Wir werden keine Tabletten ausgeben, weil wir kein Geld haben. Aber dafür werden wir irgendeine gemeinnützige Organisation unterstützen, die sich für irgendwelche traditionellen Familienwerte, geistig-moralische Klammern usw. einsetzt. Dann gibt es noch die Webseite des Gesundheitsministeriums o-spide.ru [über-aids.ru – dek], die noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat.

Es gibt viele gemeinnützige Organisationen, die tatsächlich versuchen etwas zu verändern, mit gefährdeten Gruppen zu arbeiten, über das Problem zu sprechen. Ehrlich gesagt, ohne unsere Bemühungen hätte man überhaupt nicht angefangen, darüber zu reden. Noch vor zwei Jahren hat niemand darüber geredet. Glauben Sie etwa, die Dynamik war damals eine andere? Dass die Zahlen sehr viel anders waren? Das waren sie nicht. Die Situation in Jekaterinburg war vor einem Jahr genau die gleiche wie vor zwei Jahren. Sie war einfach immer gleich, das muss man sich vor Augen führen. Sicherlich wird etwas getan, aber vor allem der Staat müsste etwas tun. Die Gesellschaft, oder genauer gesagt die NGOs, sollten den Staat unterstützen, und er sollte diese Hilfe dankbar annehmen. Aber der Staat hat kein Recht, wissenschaftlich fundierte Methoden im Kampf gegen das Problem abzulehnen. Ein Staat, der verkündet: „Wir werden den Virus und Drogenkonsum mit Ikonen und Kreuzprozessionen bekämpfen“, hat kein Recht darauf zu existieren. Und ganz sicher wird er HIV nicht besiegen.


Quelle: Föderales AIDS-Bekämpfungszentrum
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HIV und AIDS in Russland

Am 1. Dezember 2015, am Welt-AIDS-Tag, trat der Journalist und Fernsehmoderator Pawel Lobkow mit einer aufsehenerregenden Mitteilung an die Öffentlichkeit. In der Sendung A Hard Day’s Night des Fernsehkanals Dozhd berichtete der bekannte Journalist, dass er 2003 positiv auf HIV getestet worden sei.1 In emotionalen Worten erzählte Lobkow von der schwierigen Zeit unmittelbar nach der Diagnose, in der ihn Selbstmordgedanken begleiteten. In vollem Ausmaß habe er damals die Diskriminierung durch das russische Gesundheitssystem zu spüren bekommen, das HIV-Patienten reguläre Behandlungen verweigert und sie stattdessen in spezielle AIDS-Zentren überstellt. Diese Zentren vergrößern nach Ansicht Betroffener wegen ihrer Trennung von regulären Gesundheitsinstitutionen das Stigma der Krankheit noch, da jeder Besucher eines solchen Zentrums als „AIDS-Patient“ identifiziert werden kann.

Mit seinem mutigen Schritt ist Pawel Lobkow der erste einem breiteren Publikum bekannte Russe, der seine HIV-Infektion öffentlich gemacht hat. Er begründete seinen Schritt mit der Hoffnung, zur Überwindung des Stigmas von HIV/AIDS beitragen zu können und für mehr Toleranz in der russischen Gesellschaft zu sorgen. Dass dies nötig ist, zeigt ein Blick auf die Infektionszahlen. Sie sind in den vergangenen 20 Jahren stark angestiegen und haben inzwischen ein Ausmaß erreicht, das von medizinischen Experten als regelrechte HIV/AIDS-Epidemie und als „nationale Katastrophe“ beschrieben wird.2

Insgesamt hat die Anzahl der Menschen mit HIV in Russland im vergangenen Jahr die Eine-Millionen-Marke überschritten.3 In einigen Regionen, besonders im Wolgagebiet und in Sibirien, wird die HIV/AIDS-Epidemie inzwischen als „allgemein“4 bezeichnet. Dies bedeutet, dass sich das Virus nicht mehr allein auf Hochrisikogruppen beschränkt, wie zum Beispiel Drogenabhängige, SexarbeiterInnen oder Männer, die Sex mit Männern haben. Die Infektion erfasst nun auch alle anderen Bevölkerungsgruppen. Immer häufiger wird HIV bei jungen Russen diagnostiziert, denen zuvor nicht bewusst war, dass die Epidemie sie selbst betreffen könnte.

Zu wenig Präventionsarbeit

Die wichtigste Ursache für die starke Verbreitung von HIV und AIDS in Russland ist politischer Art. Seit Jahren versäumt es die russische Regierung, systematische und umfangreiche Präventionsarbeit zu leisten. Nichtregierungsorganisationen, die im Bereich von HIV/AIDS arbeiten, werden im besten Falle toleriert, häufig jedoch von staatlichen Stellen blockiert oder ausgegrenzt.

Nichtstaatliche AIDS-Organisationen haben so gut wie keine Chance, staatliche Förderung für ihre Sozialprogramme zu beantragen. Fünf NGOs fallen aufgrund finanzieller Unterstützung aus dem Ausland unter das „Ausländische-Agenten“-Gesetz, auch andere Organisationen sind der Gefahr ausgesetzt, in das Agentenregister aufgenommen zu werden.
Obwohl die NGOs häufig gute Arbeit auf der lokalen Ebene leisten, gelingt es ihnen aufgrund von Finanzierungsproblemen meist nicht, Präventionsprogramme in größerem Maßstab anzubieten. Präventionsarbeit in Russland bleibt daher häufig lückenhaft und ist darum zumeist nur der bekannte „Tropfen auf den heißen Stein“.5

Für eine wirkungsvolle Bekämpfung von HIV in Russland fehlt es besonders an Programmen für Drogenabhängige und SexarbeiterInnen. Hier könnte durch gute Gesundheitsarbeit, wie zum Beispiel sogenannte Spritzentauschprogramme, viel erreicht werden. Aber auch allgemeine Öffentlichkeitskampagnen zum Thema HIV/AIDS und Aufklärungsprogramme für junge Menschen gibt es kaum.

Ein besonderes Problem stellt die Prävention und Behandlung von HIV und AIDS innerhalb der schwulen Gemeinschaft dar, da diese Gruppe in Russland von einer doppelten Diskriminierung betroffen ist.

Politisierung der Debatte

Insgesamt lässt sich im Umgang mit HIV/AIDS in Russland eine starke Politisierung ausmachen, wobei sich zwei Lager gegenüberstehen: Während die eine Gruppe, meist bestehend aus Vertretern von AIDS-Organisationen und Medizinern, einen pragmatischen Ansatz vertritt und auf die Umsetzung von international anerkannten Gesundheitsprogrammen setzt, machen ihre gesellschaftlichen Kontrahenten sich für einen ideologischen Kurs stark. Vertreter dieser Strömung sind der Ansicht, dass Russland einen eigenen Weg gehen sollte und sich vor allem nicht „vom Westen“ beeinflussen lassen dürfe. Viele Vertreter dieses Lagers wenden sich sogar immer extremeren Positionen zu, bis hin zum Leugnen der HIV/AIDS-Epidemie.

Als AIDS-Leugner bezeichnet man Menschen, die den kausalen Zusammenhang zwischen HIV und AIDS verneinen oder die Existenz der Epidemie allgemein anzweifeln. Das Leugnen ist diesem Fall stark mit Stigmata verbunden: Was nicht sein soll, das gibt es auch nicht. Die Position der AIDS-Leugner vermischt sich dabei mit antiwestlichen Einstellungen. Oft werden die USA, Europa, die CIA, Pharmaunternehmen oder die internationale Kondomindustrie für die Verbreitung von HIV/AIDS in Russland und damit für die Schwächung des Landes verantwortlich gemacht.

AIDS-Leugner sind in den letzten Jahren in Russland deutlich aktiver und sichtbarer geworden. Sie erhalten dabei zum Teil Hilfe aus dem Ausland, unter anderem aus Deutschland.6 Häufig erreichen sie mit ihren wissenschaftlich unhaltbaren Botschaften gerade die Menschen, die selbst von der Krankheit betroffen sind – mit oft tragischen Folgen für diese Personen. Es gibt aber auch unabhängig von solchen Einflüssen zahlreiche HIV-Infizierte in Russland, die sich einer Behandlung entziehen oder erst dann einen Arzt aufsuchen, wenn die Krankheit das Endstadium erreicht hat und keine Therapie mehr möglich ist. Die Sterblichkeitsrate von HIV/AIDS-Infizierten in Russland ist unter anderem deswegen in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die allgemein schlechte Informationslage zum Thema HIV und AIDS, die die Menschen verunsichert und sie empfänglich macht für unseriöse medizinische Angebote und politisch motivierte Botschaften.


1.Hard Day’s Night, Pawel Lobkow: U menja obnaružili VICh v 2003 godu
2.Kommersant: So skorostʹju SPIDa
3.Die Daten zur Entwicklung der russischen HIV/AIDS-Epidemie finden sich auf der Website des Föderalen AIDS-Zentrums
4.Die Weltgesundheitsorganisation und das gemeinsame Programm der Vereinten Nationen zur Reduzierung von HIV/AIDS (UNAIDS) bezeichnen eine HIV/AIDS-Epidemie als „allgemein“, wenn mehr als ein Prozent der Bevölkerung zwischen 15 und 45 Jahren HIV-positiv ist. Im Gegensatz zu einer „konzentrierten“ HIV/AIDS-Epidemie (weniger als ein Prozent der Bevölkerung zwischen 15 und 45 Jahren) ist die Prävention in diesem Fall sehr viel komplexer, da die Infektion bereits in die allgemeine Bevölkerung vorgedrungen ist. Für Russland wird allgemein von einer Prävalenzrate von etwa 1,1 Prozent der Bevölkerung ausgegangen. Die Angaben gehen allerdings auseinander. Das Russische AIDS-Zentrum spricht von einer Prävalenzrate von 494,6 pro 100.000 Einwohner für den 31. Dezember 2014.
5.The Guardian: Sex, syringes and the HIV epidemic Russia can no longer ignore
siehe auch Pape, Ulla (2014): The Politics of HIV/AIDS in Russia, London
6.Die deutsche Filmemacherin A. Sono, die die Thesen der AIDS-Leugner unterstützt, drehte zum Beispiel auch in Russland und zeigte dabei Menschen, die sich einer medizinischen Behandlung entziehen und von denen wir annehmen dürfen, dass sie bereits nicht mehr am Leben sind.
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