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„Ich bin nicht für den Krieg, aber …“

„Es tut weh, solche Zuschriften zu lesen. Dennoch werten wir sie als wichtiges Zeitdokument“, schreibt die Redaktion des russischsprachigen Exilmediums Meduza über den Artikel, in dem sie Rechtfertigungsversuche für Russlands Krieg gegen die Ukraine aus ihrer eigenen Leserschaft sammelt. 

Darunter sind Aussagen von Personen aus Russland und seinen Nachbarstaaten, aber auch aus Deutschland und Österreich. In vielen finden sich Sorgen um die eigene Zukunft im Falle einer militärischen Niederlage Russlands. Einige spiegeln auch Phrasen und Narrative aus der russischen Propaganda wider. Auffällig ist, dass in nur einem der veröffentlichten Kommentare die ukrainische Bevölkerung vorkommt. 

Ähnliche Erkenntnisse gewann auch das russische Forschungskollektiv Laboratorija publitschnoi soziologii (dt. Labor der öffentlichen Soziologie) in zwei Studien zur Haltung der russischen Gesellschaft gegenüber dem Krieg gegen die Ukraine. In ihrem Fazit Ende 2022 heißt es: „Ein erheblicher Teil der Unterstützung für den Krieg ist in der heutigen russischen Gesellschaft eine passive Unterstützung. Die Nicht-Gegner des Krieges würden es vorziehen, dass dieser nie begonnen hätte und wünschen sich, dass er bald endet. Und ein russischer Sieg ist für viele von ihnen sogar nur das geringere ,Übel‘.“

Источник Meduza
„Es tut weh, solche Zuschriften zu lesen. Dennoch werten wir sie als wichtiges Zeitdokument“, schreibt Meduza über den Artikel, in dem es Rechtfertigungsversuche für Russlands Krieg gegen die Ukraine aus ihrer eigenen Leserschaft sammelt / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago images

Andrej, 35, Wolgograd

Der Krieg ist zu Ende, wenn eine der beiden Seiten gewonnen hat. Eine Niederlage würde für Russland eine nationale Demütigung bedeuten, das darf man nicht zulassen. Folglich müssen wir gewinnen – wir haben keine andere Wahl mehr.
Die Ukraine will keinen Frieden. [Meduza: Ist das so? Das offizielle Kyjiw behauptet nur, es wolle alle von Russland annektierten Gebiete wieder zurückholen.] Die Ukrainer fordern immer mehr Waffen und beschießen russische Städte. Es ist schon viel zu viel Blut vergossen worden, um jetzt zu sagen: „Danke, das war’s. Lasst uns auseinandergehen.“

Alexej, 24, Jakutsk

Die Frage [von Meduza an die Leser nach Gründen, den Krieg zu unterstützen] ist nicht korrekt formuliert. Ich unterstütze den Krieg nicht, aber ich will auch nicht, dass Russland verliert. Dann wird es für alle noch schlimmer. Die Welt, wie wir sie kennen, wie wir sie gewohnt sind, wird mit Sicherheit zusammenbrechen, und es kommen noch dunklere Zeiten. Der Krieg ist ein Fehler, aber es darf keine Niederlage geben.

Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg

Pawel, 30, Deutschland

Ich unterstütze den Krieg nicht, habe aber beschlossen, diesen Kommentar zu schreiben, weil die, die versuchen, Rechtfertigungen für diesen Krieg zu finden, oft mit Unterstützern gleichgesetzt werden.

Ich bin wütend auf beide Seiten in diesem Konflikt. Auf Russland, weil es diesen dummen, blutrünstigen Krieg begonnen hat, der jeden Tag zu sinnlosem Töten führt. Auf die Länder, die die Ukraine unterstützen, bin ich wütend, weil sie nicht dazu aufrufen, die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen, also das sinnlose Töten zu beenden. [Meduza: Ist das so? Nein. Die westlichen Partner haben mehrfach von den russischen Machthabern gefordert, den Krieg zu beenden.] Stattdessen versorgen sie [diese Staaten] das Land immer weiter mit Waffen, obwohl sie wissen, dass das nur noch mehr Opfer bringen wird.

Anonymer Leser, 38, ohne Ortsangabe

Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg. Es war ein irrsinniger Fehler, ihn zu beginnen, aber jetzt muss man ihn gewinnen, sonst wartet auf uns das Leid der Besiegten. Putin unterstütze ich nicht, zum Teufel mit ihm.

Oleg, 27, ohne Ortsangabe

[Ich unterstütze den Krieg], weil ich denke, dass der „Friedensplan“, den Selensky vorgebracht hat und den der „kollektive Westen“ unterstützt, Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit einen solchen Schaden zufügen würde, dass es daran zerbrechen könnte. Und mir ist bewusst, dass sich [in diesem Fall] mein Wohlstand, meine Sicherheit und meine Perspektiven stärker verschlechtern, als wenn die russische Armee den ukrainischen Streitkräften so sehr schadet, dass sie danach bei einem Friedensschluss mehr Kompromisse eingehen müssen.

Mit der Zeit habe ich gesehen, wie viel Hass es gegenüber Russland und den Russen gibt

Anonymer Leser, 36, Tjumen

Ich unterstütze den Krieg nicht im Sinne der Z-Patrioten. Am 24. Februar [2022] war ich geplättet. Als Bürger der Russischen Föderation halte ich den Einmarsch der Truppen in die Ukraine zwar für einen Fehler, aber ein Abzug wäre ein Verbrechen. Ich habe nicht vor, die nächsten 20 Jahre Reparationen für Fehler zu bezahlen, die andere begangen haben. Mit der Verliererseite wird niemand reden.

Zur Waffe greifen werde ich nicht. Man kann sagen, ich bin ein Beobachter, der nicht für die Ukraine ist. Ich war vor dem Maidan dutzende Male dort, ich weiß Bescheid, wie sich die Stimmung und Gesetze [im Land] verändert haben. Wenn dort ein europäischer Staat entstehen sollte, dann einer, der mit Francos Spanien oder Portugal unter Salazar vergleichbar ist und sich keinen Deut von Putins Russland unterscheiden würde.

Viktoria, 28, Sankt Petersburg

Am Anfang habe ich [den Krieg gegen die Ukraine] abgelehnt, wie alle kriegerischen Aktivitäten. Aber mit der Zeit habe ich gesehen, wie viel Hass es gegenüber Russland und den Russen gibt, die Schadenfreude über den Beschuss der Krim-Brücke, die aktive Aufrüstung der Ukraine durch den Westen – da wurde mir klar, dass die Russophobie und andere Dinge, die ich früher für stumpfe Propaganda gehalten hatte, nicht immer gelogen sind. Krieg bedeutet immer Leid, aber manchmal sind die unpopulären Entscheidungen die richtigen.

Nikolaj, 27, Österreich

Ich finde den westlichen Standpunkt nicht ganz korrekt und stimme Putins Terminologie von der monopolaren Welt mit doppelten Standards zu. Meiner Meinung nach hat der Westen das Boot selbst ins Wanken gebracht und macht nun Russland dafür verantwortlich. Darüber hinaus führen die stetige finanzielle Unterstützung der Ukraine und die kontinuierlichen Waffenlieferungen dazu, dass das ukrainische Regime den Krieg weiterführt und sich nicht auf Verhandlungen einlässt.

Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – nein danke

Artjom, 40, Berlin

Ich unterstütze nicht in erster Linie den Krieg, sondern das russische Volk und Russlands Interessen. Ich war zuerst entschieden dagegen, aber im Laufe der Entwicklungen habe ich meinen Standpunkt geändert.

Ich lebe seit 20 Jahren in Deutschland und habe noch nie solche Propaganda gesehen. Die westlichen Politiker und Medien haben eine absolut einseitige Position eingenommen: Russland ist der Aggressor, die Ukraine ein Heldenstaat; Putin hat immer Unrecht, und Selensky redet man nach dem Mund. Alle, die eine andere Position vertreten, werden aus dem Informationsfeld gedrängt und „gecancelt“.

Die westeuropäischen Staaten erweisen sich als vollkommen willenlos und handeln auf Befehl der USA. Die Ukraine wird direkt von den Amerikanern kontrolliert. Dieser Konflikt beweist endgültig, dass es in Westeuropa keine und auch in Osteuropa kaum noch unabhängige Staaten gibt.

Sergej, 27, Perm

Ich stehe hinter dem Vorgehen meines Präsidenten und meines Landes. Ja, anfangs habe ich den Sinn dieser ganzen „Operation“ nicht wirklich verstanden, aber mit der Zeit habe ich die russophoben Äußerungen vonseiten der Ukraine als auch der EU und der USA gesehen. Jeder, der kritisch denken kann und auch nur irgendwie bei Trost ist, weiß: Russland ist kein „Terrorstaat“, wir verteidigen nur unsere Interessen und unsere Souveränität. Daher unterstütze ich wie die meisten russischen Staatsbürger diese militärische Spezialoperation in vollem Umfang, und wenn es erforderlich ist zu kämpfen – werde ich kämpfen.   

Anonymer Leser, 30, Astana

Innerhalb eines Jahres sind [meine] Autoritäten und moralischen Vorbilder zu Verrätern geworden (die den Bürgern des eigenen Landes Böses wünschen, die zu Sanktionen aufrufen, anstatt zu versuchen, sie aufzuheben), zu Schandmäulern (die finden, wir sollten uns ergeben und die Schuld auf uns nehmen), zu Schwächlingen und Lügnern. 

Ich finde auch jetzt noch, dass Russland diesen Krieg nicht hätte beginnen sollen, das war ein großer Fehler. Aber die Art von Ausgang, den jene [Politiker] vorschlagen, auf die ich [früher] gehofft habe, ist peinlich, schmerzhaft, erniedrigend und verlogen. Da warte ich lieber auf Putins Nachfolger: In Russland gibt es genug kluge Köpfe.

Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – nein danke. Ich hoffe, dass der Krieg bald vorbei ist und möglichst wenige Menschen darin umkommen – vor allem keine Russen, aber auch keine Ukrainer. 

Ruslan, 28, Kasan

Ich bin nicht für den Krieg, aber verurteile Russland auch nicht dafür. Meines Erachtens hat Russland dadurch, dass es diesen Krieg angefangen hat, seine diplomatische Schwäche und Unfähigkeit zur Einigung mit seinen Nachbarländern gezeigt. Ich teile aber nicht die Sichtweise jener, die Russland schon mit dem faschistischen Deutschland vergleichen

Erstens hatte die Ukraine die Wahl, sie hätte in den ersten Tagen des Krieges, als alles noch nicht so weit fortgeschritten war, mit uns verhandeln und unsere Forderungen erfüllen können. Sie hätte Territorium verloren, aber wäre als Staat bestehen geblieben. Ist etwa Territorium wichtiger als Menschenleben? Daher trägt auch die Ukraine eine Teilschuld am Tod jener Menschen, die getötet wurden. Ich bin mir sicher, dass die Menschen in jenen Gebieten, die an Russland fallen würden, keinesfalls schlechter leben würden. Vielleicht sogar in mancher Hinsicht besser. [dekoder: Die seltenen Berichte aus bereits von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine zeichnen ein anderes Bild. Sie thematisieren häufig Verfolgung, Haft und Folter von Angehörigen ukrainischer Soldaten und zivilgesellschaftlichen Aktivisten.]

Ich habe den Eindruck, dass auf der ganzen Welt niemand versucht, den Russen eine vernünftige Alternative zu Putins Forderungen vorzuschlagen

Murad, 28, Moskau

Mag unsere Regierung auch korrupt und ineffektiv sein, so stellt die Ukraine doch eine Gefahr für unsere Grenzen im Süden dar. Ohne die Schwarzmeerflotte auf der Krim verlieren wir den Einfluss im Schwarzen Meer und im Kaukasus. In den Jahren 2014 bis 2022 haben alle ukrainischen Regierungen aktiv verkündet, dass sie die Krim und die Gebiete im Osten mit Gewalt oder auf diplomatischem Wege zurückholen werden. Das sind unmissverständliche Drohungen. 

[Zum Vergleich:] Jedes beliebige Land in Europa oder den USA wendet selbstverständlich Gewalt an, wenn es seine Grenzen bedroht sieht. Ihre aktuelle Rhetorik zeigt, dass sie mit zweierlei Maß messen.    

Dimitri, 24, Moskau

Die Idee, diesen Krieg zu beginnen, unterstütze ich nicht, aber ich bin auch nicht dafür, ihn jetzt zu beenden. Ich habe den Eindruck, dass auf der ganzen Welt niemand versucht, den Russen eine vernünftige Alternative zu Putins Forderungen vorzuschlagen. Die Staatsmacht lässt alle in Ruhe, die studieren oder etwas machen, das zur Verteidigung beiträgt, daher lässt sich der Krieg unter dieser Regierung überleben.

Aus dem Ausland hört man nur Gerede über die finstere Zukunft [Russlands] oder über unsere Entmenschlichung. Da bleibe ich lieber bei meinen Landsleuten, als auf das Wohlwollen irgendeines Podoljak [Mychajlo Podoljak, Berater des Leiters des ukrainischen Präsidialamts] oder eines amerikanischen Beamten zu hoffen, der am Krieg verdient.  

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Klub der zornigen Patrioten

„Viele haben uns nicht zugehört, manche sogar ausgelacht. [...] Das Machtsystem Russlands hat es nicht geschafft, einen sich anbahnenden Militärputsch abzuwenden, obwohl der Konflikt zwischen Söldnern und Militärführung offensichtlich ist.“1 Nach dem abgebrochenen „Marsch der Gerechtigkeit“ des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoshin vom 23. Juli 2023 erscheint dieser Text auf dem Telegram-Kanal des „Klubs der zornigen Patrioten“. Hinter dieser Vereinigung steckt Igor Strelkow, ehemaliger Geheimdienstler und Anführer der Separatisten in der Ostukraine. 

Einen ersten Versuch, die stark fragmentierte rechte Opposition in Russland zu konsolidieren, unternahm Strelkow schon 2016. Dazu gründete er damals die Dachorganisation „Komitee des 25. Januar“. Strelkow, dessen Bekanntheit auch durch seine Beteiligung am Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges 17 (MH17) zunahm, galt bereits damals als glaubwürdige Figur in der rechten Gegenöffentlichkeit Russlands. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2017 fand eine bemerkenswerte Debatte zwischen Strelkow und Nawalny statt, bei der es Nawalny unter anderem auch darum ging, bei rechten Wählern für seine Kandidatur zu werben.2 Strelkow hingegen war bestrebt, sich überhaupt öffentlich zu profilieren, seine Sichtbarkeit zu erhöhen und seinen Handlungsspielraum in dem Bereich der Antikorruptions-Agenda zu testen.

Strelkows Kritik richtet sich seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 wieder vermehrt gegen die russische Militärführung. Auf Telegram erreicht er so über 880.000 Leser. Strelkows Analysen zur Lage an der ukrainischen Front finden zudem regelmäßig Eingang in die Situationsanalysen westlicher Thinktanks. In seinen Klagen gegen den Generalstab und die Korruption in der Armee widerspricht er nicht nur den beschönigenden Berichten der Staatspropaganda. Er setzt sich auch von der Kommunikationsstrategie der Privatarmee „Wagner” um Jewgeni Prigoshin ab. So gelingt es ihm, sich konsequent als vermeintlich „unbestechlicher“ Soldatentribun in Szene zu setzen. 

Zivilgesellschaftliche Selbstorganisation

Auf Nachfragen, ob er selbst ein politisches Amt anstreben wolle, antwortete Strelkow lange ausweichend. Er kritisierte das korrupte politische System in Russland, das die Parteigründung jenseits informeller Absprachen mit der Präsidialadministration verhinderte. Stattdessen setzt Strelkow darauf, die öffentliche Meinung mithilfe zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation zu formen. Diese soll den Krieg und die Armee unterstützen. Hierfür nutzt er seit dem Winter 2022/23 verstärkt die Bezeichnung „Klub der zornigen Patrioten“. Dieser Begriff zirkuliert seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine verstärkt in den russischen Medien. Er soll auf einen Vortrag Konstantin Kostins zurückgehen, der dem regierungsnahen Thinktank Fonds zur Entwicklung der Zivilgesellschaft vorsteht. Zuvor arbeitete er in der Präsidialadministration. Die „zornigen Patrioten“ unterscheiden sich durch ihre offene Ablehnung der Regierung von anderen patriotischen Gruppierungen in Russland. Der russische Politikwissenschaftler Sergej Markow unterscheidet sie dahingehend von „einfachen Patrioten“, „Turboloyalisten“ und „radikalen Patrioten“, die entweder stumm blieben, ideologisch unzuverlässig seien oder die herrschende Regierung grundsätzlich ablehnen würden3

Von Linksnationalismus bis Ultramonarchismus

Mit der Gründung des KRP im März 2023 und der Öffentlichmachung am 1. April 2023 wollen Strelkow und seine Mitstreiter die rechte Opposition ideologisch und organisatorisch konsolidieren. Die Zielgruppe umfasst ein breites Spektrum: Von linksnationalistischen bis ultramonarchistischen Gruppen sollen alle die Möglichkeit zur sozialen Mobilisierung und (proto-)politischen Repräsentation erhalten. Im KRP-Manifest heißt es: „Wir verstehen, dass es jetzt nicht an der Zeit ist, die Streitigkeiten zwischen Roten und Weißen von vor 100 Jahren fortzuführen. [...] Wir sind bereit zur Zusammenarbeit mit allen gesunden Kräften der Gesellschaft, mit allen, die keine Niederlage Russlands wünschen”.4

Um die Mobilisierung zu erhöhen, gründete der KRP schnell regionale Niederlassungen und leistet seitdem rege Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Ende April 2023 veröffentlichte die Gruppierung „39 Fragen an die Regierung“, der Beitrag hat auf Telegram vom KRP über 700.000 Views (und über eine halbe Million auf Strelkows Kanal).5

Die Ablehnung des Verteidigungsministeriums und des Kreml sind ein Kernmerkmal der Rhetorik Strelkows, auch in den „39 Fragen“ wird es deutlich. Doch auch die Idee, dass es sich bei der sogenannten „Spezialoperation“ tatsächlich um einen Krieg gegen die NATO handele, bei dem die Staatlichkeit Russlands auf dem Spiel stehe, greift der KRP immer wieder auf. In diesem Zusammenhang malen Strelkow und seine Mitstreiter konsequent das historisch aufgeladene Szenario der „Smuta“ an die Wand – eines Zerfalls der russischen Föderation als Folge des verlorenen Krieges und des Machtkampfs zwischen verfeindeten Oligarchengruppen und regionalen Machteliten. So versteht sich der KRP als eine Vereinigung zur Abwendung der Smuta, die von seinen Mitgliedern jedoch im gleichen Atemzug heraufbeschworen wird – zunächst vor dem Hintergrund der im Mai 2023 zugenommenen Spannungen zwischen dem Verteidigungsminister Schoigu und Wagner-Chef Prigoshin und insbesondere nach seinem sogenannten „Marsch der Gerechtigkeit“. 

„Aufrichtig und authentisch“

Der amerikanische Thinktank Institute for the Study of War hat in seinem Tagesbericht vom 8. April 2023 die Gründung von KRP als Anzeichen für zunehmende Spannungen im Umfeld des Kreml interpretiert. Hinter Strelkow stünden möglicherweise Kräfte innerhalb der russischen Machtelite, vor allem im FSB, die so die Aufmerksamkeit Putins und Einfluss auf seine Politik gewinnen wollten. 

Vor diesem Hintergrund bleibt unklar, wieso Strelkow am 21. Juli 2023 in Moskau festgenommen wurde. Er soll zu extremistischen Aktivitäten aufgerufen haben, ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft. Ist es denn nun ein Teil des Spiels, oder ist Putin in Strelkow wirklich ein gefährlicher Gegner erwachsen?  

Als professioneller Desinformationsspezialist des GRU, der in den 1990er Jahren in Tschetschenien, Bosnien und Transnistrien gearbeitet hat, ist und bleibt Strelkow ein undurchschaubarer Akteur, dessen Bedeutung künftig trotz Verhaftung noch zunehmen könnte. Dies gilt umso mehr, weil das staatliche Gewalltmonopol Russlands nach Prigoshins Meuterei zu erodieren scheint. 

Strelkow ist ausgebildeter Historiker und hat literarische Ambitionen. Er beherrscht die Kommunikationsstrategien moderner Medien und der sozialen Mobilisierung. Ob die Gründung des KRP eher der Konsolidierung einer rechten Fundamentalopposition gegen den Kreml dient, oder ob man es lieber als polittechnologisches Projekt des Kreml zur Machtsicherung betrachten sollte, kann man trotz Strelkows Verhaftung nicht mit Sicherheit sagen. Strelkow hat durch seine Teilnahme am Krieg gegen die Ukraine und seine Kritik an der politischen und militärischen Führung jedenfalls eine „authentische“ Marke als unbestechlicher Gegner des Establishments aufgebaut. Mit seinem Unbestechlichkeits-Nimbus schafft er es, dass sich rechte Gruppierungen in Russland mit ihm identifizieren. Ob er es aber schafft, seine Verhaftung in einen Nelson Mandela-Nimbus umzumünzen, bleibt fraglich. Sicher ist jedoch, dass die Gründung des KRP zu einem perfekten Zeitpunkt geschah. Die zivilgesellschaftliche Organisation arbeitet energisch daran, ihren verhafteten Anführer als einen Gewissensgefangenen zu stilisieren und Strelkows Sichtbarkeit durch eine ganze Flut von dramatischen Social Media Kampagnen zu steigern.    

aktualisiert am 02.08.2023


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Igor Strelkow

Igor Strelkow diente bei der russischen Armee und im Geheimdienst und war einer der Anführer der ostukrainischen Separatisten im Sommer 2014. Seit August 2014 nimmt er nicht mehr aktiv an den Kampfhandlungen teil, ist jedoch Berater der Separatisten und gilt als ideologischer Verfechter ihrer Interessen in Russland. Der Name Strelkow ist ein Pseudonym, sein wirklicher Name lautet Igor Girkin.

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