In westlichen Medien kaum beachtet, hatte sich am 1. Januar 2015 die Eurasische Wirtschaftsunion gegründet. Gründungsmitglieder dieses „Gegenmodells zur EU“ sind Russland, Belarus, Kasachstan und Armenien. Später trat auch Kirgisistan der Union bei. An das Gewicht der EU reicht die östliche Union allerdings nicht heran, weder von der Zahl ihrer Mitglieder her, noch von ihrer wirtschaftspolitischen Bedeutung. Vor allem aber fehlt es ihr auch an innerem Zusammenhalt. Die einzelnen Mitgliedstaaten verfolgen weitgehend ihre eigenen Interessen. So verstand sich die EAWU von Anfang an eher als Wirtschaftsunion, denn als politischer Zusammenschluss.
Wjatscheslaw Polowinko hat für die Novaya Gazeta nach einem Jahr Eurasische Wirtschaftsunion kritische Bilanz gezogen, aus der Perspektive Kasachstans, das in der Union eine Schlüsselrolle einnimmt.
Das erste Neujahrsgeschenk von Russland an Kasachstan im Jahr 2016 war ein Erlass von Präsident Putin. Demnach dürfen Waren aus der Ukraine nur noch in versiegelten Waggons, Zisternen und LKWs und ausschließlich von Belarus aus durch die Russische Föderation nach Kasachstan befördert werden.
Dabei sollen die für den Transit durch Russland bestimmten Warenlieferungen mit einer Plombe versehen werden, die über das russische Navigationssystem GLONASS auffindbar ist. Bei der Einreise bekommt jeder Fahrer ein Ticket, das er bei der Ausreise wieder abgeben muss. Es verliert seine Gültigkeit, sobald GLONASS eine Unregelmäßigkeit zeigt.
Natürlich gelten diese drakonischen Maßnahmen in erster Linie der Ukraine: Am 1. Januar hat Russland das Freihandelsabkommen mit seinem proeuropäischen Nachbarstaat ausgesetzt. Allerdings bescherte es auch Kasachstan damit zusätzliche Kopfschmerzen: Nach Informationen der Nowaya Gazeta wollte Russland nämlich zunächst überhaupt keinen Warentransit aus der Ukraine zulassen.
Die Entscheidung, einen Transit unter der Aufsicht von GLONASS einzuführen, fiel auf den ersten Jahrestag der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) am 1. Januar 2015. Seitdem ist die Mitgliederzahl der EAWU, die sich quasi als Alternative zur EU sieht, mit dem Beitritt von Armenien und Kirgisistan fast um das Doppelte gestiegen. Doch dies ist beinahe der einzige Erfolg. Denn der Warenumsatz zwischen den Ländern ist gesunken und die Partner sind in Handelskriege verstrickt.
Nichts bleibt ohne Folgen
Die erste Bewährungsprobe musste die neue Union noch vor ihrer offiziellen Gründung bestehen, als Ende 2014 der russische Rubel stark abgewertet wurde. Damals rettete der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew die Situation. Er sieht sich als federführend im Aufbau der EAWU. „Die Union hat dieses Jahr dank dem Pragmatismus Nasarbajews überlebt“, sagt der Zentralasienexperte Arkadi Dubnow. „Nur dank der aus der Not geborenen politischen Weisheit des kasachischen Präsidenten hat Kasachstan damals die Handelsgrenze nicht geschlossen, obwohl es kurz davor war.“
Vereinfacht ausgedrückt: Nasarbajew wollte das Gesicht der sich gründenden Union retten und opferte dafür im Endeffekt die Wirtschaftskraft des eigenen Landes. Zunächst veranlasste der niedrige Rubelkurs die Kasachen dazu, über die Grenze zu fahren und alles Mögliche zu kaufen, von Lebensmitteln bis hin zu Wohnungen. Das bescherte kasachischen Unternehmern in allen Branchen große Verluste. Im Sommer 2015 stürzte dann mit leichter Verzögerung nach dem Rubel auch der Tenge in den Keller und fällt seitdem kontinuierlich weiter. So kostete ein US-Dollar im August 2015 noch 188 Tenge, derzeit sind es dagegen 340 Tenge.
Kasachstan zahlt einen hohen Preis
Kasachstan kam dieses Manöver teuer zu stehen: Nasarbajew selbst gab zu, für die Stabilisierung des Tenge-Kurses 28 Milliarden US-Dollar ausgegeben zu haben - sprich, er hat einfach Geld zum Fenster hinausgeworfen. Denn die Maßnahme brachte keine Stabilität: Kasachische Löhne sind nur noch die Hälfte wert, und unzufriedene Stimmen werden immer lauter. Dafür machen die Einwohner Kasachstans nicht nur die eigene Regierung, sondern immer öfter die Eurasische Wirtschaftsunion verantwortlich. Der Tenge war Ende 2015 die schwächste Währung in der GUS und in Europa: Er fiel gegenüber dem US-Dollar gleich um 85,2%.
Allerdings ist es in den Medien gelungen, die Abwertung des Tenge nicht mit der EAWU in Zusammenhang zu bringen. Die Wirtschaftsprobleme der Union erklärten sie mit der weltweiten Finanzkrise. Und die Abwertung des Tenge, die sei gar „auf Anfragen der Fernsehzuschauer“ geschehen: als hätten kasachische Unternehmer den Präsidenten flehentlich darum gebeten.
Viel schwerer war es dagegen, die Handelskriege zu erklären, die sich die Mitgliedstaaten während des gesamten Jahres lieferten. Ende März, Anfang April kam es zum ersten und gleichzeitig schrillsten Konflikt: Damals verbot Kasachstan die Einfuhr von Mayonnaise, Süß-, Milch- und Fleischwaren, Eiern und Butter aus Russland. Als Antwort darauf führten die russische Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor und die Behörde für Veterinär- und Pflanzengesundheitsaufsicht Rosselchosnadsor eine Kampagne gegen Lebensmittel aus Kasachstan. Der Skandal konnte erst auf Ministerebene beigelegt werden.
Am schwierigsten wurde die Situation, als Russland Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei verhängte. Kasachstan bekam diesen Konflikt zwar nur indirekt, aber empfindlich zu spüren: LKWs, die aus der Türkei nach Kasachstan fuhren, blieben an der russisch-georgischen Grenze stecken. Inzwischen ist es nahezu unmöglich, türkische Waren über Russland zu transportieren.
Ein kasachischer Unternehmer, der anonym bleiben wollte, berichtete der Novaya Gazeta, dass er mehrere Arbeitertrupps zum Abladen an die Grenze entsenden musste. Die Zollbeamten hatten verlangt, die ganze Ware auszuladen und vorzuzeigen.
Die kasachische Handelskammer veröffentlichte auf ihrer Homepage alternative Routentips, auf denen Waren aus der Türkei transportiert werden können, unter Umgehung Russlands. Der Weg per Fähre über das Kaspische Meer ist allerdings deutlich teurer. In Kasachstan scherzt man inzwischen schon, dass dank der russischen Politik die Brücke über das Kaspische Meer, von der Kasachstan, die Türkei und China seit Langem träumen, schon bald Realität werden könnte.
Nicht alle lassen sich einspannen
Wenn Experten Bilanz ziehen über das erste Jahr EAWU, dann konstatieren sie ein Fiasko nach dem anderen. „Zum Ende des Jahres 2015 fiel der Warenumsatz zwischen den EAWU-Ländern um 26 %, wobei einige Experten gar von 33 % ausgehen“, sagt Dosym Satpajew, Politologe und Direktor der Risikobewertungsgruppe. „Ich kann keinen einzigen positiven Aspekt nennen, der das Gefühl des Scheiterns irgendwie ausgleichen würde“, gesteht der kasachische Wirtschaftsjournalist Denis Kriwoschejew. „Alles, was 2014 noch vor der Unionsgründung vorausgesagt wurde, ist eingetreten: das Übergreifen der Inflation und der Währungsabwertung sowie der Druck auf die kasachischen Unternehmer. Und das ist erst der Anfang.“
„Kasachstan ist eindeutig der Verlierer. Was Russland betrifft, so müssen wir die Dinge beim Namen nennen: Für Russland ist der Handel mit den EAWU-Staaten nicht so bedeutend. Die Verluste wirken sich nicht groß aus. Für Armenien dagegen bildet die EAWU die Grundlage des geopolitischen Überlebens. Die Gewinner sind, erstaunlicherweise, die Kirgisistan. Sie können nun ohne Gewerbeschein und Genehmigung in Russland arbeiten, gleichzeitig kann die Zusammenarbeit mit Kasachstan bei richtiger Zielsetzung gute wirtschaftliche Ergebnisse bringen“, so Arkadi Dubnow.
Im Grunde genommen liegt das Hauptproblem in der Zielsetzung. Jedes Land trat mit eigenen Hoffnungen und Interessen der Union bei und traf schließlich auf zwei Dinge: das Diktat Russlands und den Vorrang der Geopolitik vor der Wirtschaft.
Dosym Satpajew meint, das hauptsächliche Ergebnis des ersten Jahres EAWU sei die allseitige Enttäuschung. „Ein bedeutender Teil der kasachischen Wirtschaft sieht die EAWU nun viel skeptischer. Innerhalb Kasachstans sinkt das Loyalitätsniveau gegenüber der Union. Das bedeutet, dass die EAWU im Niedergang begriffen ist und kaum eine Chance hat, über dieses Stadium hinauszuwachsen“, so der Experte.
Die Quadratur der Union
Seit dem 1. Januar 2016 hat Kasachstan den Vorsitz der Union inne. Nach Meinung der Gesprächspartner der Novaya Gazeta wird Nursultan Nasarbajew alle Konflikte im Keim ersticken - wiederum, um das Gesicht der EAWU zu retten.
Die Geschichte mit dem Warentransit aus der Ukraine unter Aufsicht von GLONASS könnte die ohnehin instabile Situation jedoch weiter ins Wanken bringen. Weder die kasachischen Machthaber noch die Gesellschaft haben es gerne, wenn man ihnen von außen etwas aufzwingt.
Dass viele russische und prorussische Medien in Kasachstan über den Präsidenten-Erlass im Stile von „Putin hat erlaubt” (wörtlich zitiert) berichtet hatten, empfanden viele Kasachen als beleidigend. Dazu sollte man anmerken, dass viele Bewohner Kasachstans die russischen Medien als ein Instrument der Kreml-Expansion betrachten. Und als Ende 2015 die russischen Fernsehkanäle in Kasachstan wegen einer Änderung im Mediengesetz ernsthaft in ihrer Existenz bedroht waren (kurz gesagt, weil die Ausstrahlung ausländischer Werbung verboten wurde, aber niemand wusste, wie man sie aus den Sendungen herausschneidet), hielt sich die Zahl der Anhänger und Gegner der russischen Sender in Kasachstan einigermaßen die Waage. Die russischen Sender sind inzwischen nicht mehr in Gefahr, allerdings war die Aufregung groß.
Das größte Paradox ist allerdings, dass trotz all dieser großen Probleme keiner daran denkt, das Projekt EAWU abzuwickeln. „Zum Teil kann man die Überlebensfähigkeit der Union damit erklären, dass die Präsidenten Russlands, Kasachstans und Belarus‘ sich gegenseitig gut kennen und wissen, welche Retourkutsche ihnen blüht, wenn sie ein anderes Mitglied attackieren. Gleichzeitig wissen sie, welche Angriffe der anderen sie getrost ignorieren können“, erklärt Arkadi Dubnow.
Am meisten jedoch fallen die Ambitionen von Präsident Nasarbajew ins Gewicht: Er hält sich, wie gesagt, in der EAWU für federführend.