Medien

100 Jahre geopolitische Einsamkeit

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Wladislaw Surkows Name gleich an erster Stelle der US-Sanktionen stand, gleich einen Tag nach dem sogenannten Referendum über die Angliederung der Krim. Genauso wenig war es Zufall, dass Surkow rund zweieinhalb Jahre später an Putins Seite mit Merkel und Steinmeier im Kanzleramt saß, obwohl er eigentlich auch nicht in die EU einreisen darf.

Kaum eine Abhandlung über ihn kommt aus ohne „Strippenzieher“, „Graue Eminenz“ oder „Chefideologe“. Das Konzept der Souveränen Demokratie hat er ersonnen, genauso wie das Programm zur russischen politischen Kultur.

Im April 2018 nahm er sich im Magazin Russia in Global Affairs einer Mammutaufgabe an: der jahrhundertealten Identitätsfrage, ob Russland denn zu Europa gehöre. Viele Denker haben sich an dieser Frage den Kopf zerbrochen. Die Zeichen der Zeit scheinen für Surkow allerdings eine neue Antwort zu fordern. Denn Russland, so der Autor, stehen „hundert (zweihundert? dreihundert?) Jahre geopolitischer Einsamkeit bevor“.


In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Quelle Russia in global affairs

Der beruflichen Tätigkeiten gibt es viele. Einigen kann man nur in einem Zustand nachgehen, der vom normalen leicht abweicht. Nehmen wir etwa den Proletarier der Informationsindustrie, den gewöhnlichen Nachrichtenlieferanten: In der Regel ist das ein Mensch mit zerzaustem Hirn, jemand, der sich sozusagen im Fieberwahn befindet. Kein Wunder, denn im Nachrichtengeschäft ist Eile geboten: Es gilt, Neuigkeiten vor allen anderen zu erfahren, vor allen anderen zu verbreiten und vor allen anderen zu interpretieren.

Die Erregung der Informierenden überträgt sich auch auf die Informierten. Menschen im Erregungszustand verwechseln ihre Erregung oft mit einem Denkprozess und ersetzen das Eine durch das Andere. Deshalb kommen langfristig nutzbare Dinge wie Überzeugungen oder Prinzipien außer Gebrauch und werden durch Einweg-Meinungen ersetzt. Deshalb erweisen sich jegliche Prognosen als hinfällig, was übrigens niemandem besonders peinlich ist – das ist eben der Preis für schnelle und aktuelle Nachrichten.

Kaum jemand vernimmt das spöttische Schweigen des Schicksals, übertönt vom ständigen Hintergrundlärm der Medien. Kaum jemand interessiert sich dafür, dass es auch noch die langsamen, gewichtigen Nachrichten gibt, die nicht von der Oberfläche des Lebens, sondern aus der Tiefe stammen – von dort, wo sich geopolitische Strukturen und historische Epochen bewegen und aufeinandertreffen. Erst mit Verspätung wird uns ihr Sinn zugänglich. Doch ist es nie zu spät, ihn zu erkennen.

Das Jahr 2014 ist durch Großtaten von hoher und höchster Bedeutung im Gedächtnis geblieben. Alle kennen sie, und es ist alles dazu gesagt worden. Doch das bedeutsamste der damaligen Ereignisse erschließt sich uns erst jetzt – die langsame, tiefgreifende Nachricht erreicht erst gerade jetzt unsere Ohren. Das besagte Ereignis bildet den Abschluss der epischen Reise Russlands in Richtung Westen, den Schlusspunkt der zahlreichen und fruchtlosen Versuche, ein Teil der westlichen Zivilisation zu werden und in die „gute Familie“ der europäischen Völker einzuheiraten.

Das Jahr 14 unseres Jahrhunderts ist der Beginn einer neuen Ära von unbestimmter Dauer – die Epoche 14 +, in der uns hundert (zweihundert? dreihundert?) Jahre geopolitischer Einsamkeit bevorstehen.

Das Jahr 2014 ist der Beginn einer neuen Ära von unbestimmter Dauer – die Epoche 14 +, in der uns hundert (zweihundert? dreihundert?) Jahre geopolitischer Einsamkeit bevorstehen

Die Verwestlichung ist vom falschen Dimitri leichtsinnig begonnen und von Peter dem Großen entschlossen fortgesetzt worden – über 400 Jahre wurde alles auf jegliche Art probiert.

Was hat Russland nicht alles getan, um mal Holland zu werden, dann Frankreich, mal Amerika, dann wieder Portugal. Von allen erdenklichen Seiten hat Russland versucht, sich in den Westen hineinzudrängen. Alle Ideen, die von dorther kamen und alle Erschütterungen, die sich dort ereigneten, hat unsere Elite mit großer, teils vielleicht zu großer Begeisterung aufgenommen.

Die Autokraten heirateten eifrig deutsche Frauen, und der kaiserliche Adel und die Bürokratie wurden emsig mit „umherziehenden Fremdlingen“ aufgefüllt. Doch während die Europäer in Russland rasch und gründlich russisch wurden, wollten die Russen sich einfach nicht europäisieren.

Die russische Armee kämpfte siegreich und aufopferungsvoll in allen großen Kriegen des Kontinents, der, wie die Erfahrung gezeigt hat, wohl mehr als alle anderen zu Massengewalt und Blutrünstigkeit neigt. Die großen Siege und die großen Opfer haben Russland viele westliche Gebiete eingebracht, aber keine Freunde.

Die großen Siege und die großen Opfer haben Russland viele westliche Gebiete eingebracht, aber keine Freunde

Um der europäischen Werte willen (die zu jener Zeit religiös und monarchisch waren) wurde St. Petersburg zum Initiator und Garanten der Heiligen Allianz der drei Monarchien Russland, Österreich und Preußen. Und es hat seine Bündnispflichten gewissenhaft erfüllt, als es galt, die Habsburger vor der ungarischen Revolution zu retten. Als sich dann jedoch Russland selbst in einer schwierigen Lage befand, verweigerte Österreich seinem Retter nicht nur die Hilfe, sondern wandte sich sogar gegen ihn.

Später wurden die europäischen Werte in ihr Gegenteil verkehrt. In Paris und in Berlin kam nun Marx in Mode. Gewisse Leute aus Simbirsk und Janowka wollten, dass es bei ihnen so ist wie in Paris. Sie fürchteten so sehr, hinter dem vom Sozialismus besessenen Westen zurückzubleiben. Sie fürchteten so sehr, die angeblich von den europäischen und amerikanischen Arbeitern angeführte Weltrevolution werde ihr Provinznest auslassen. Also gaben sie ihr Bestes.

Nachdem sich die Stürme des Klassenkampfs gelegt hatten, stellte die unter unglaublichen Mühen errichtete UdSSR fest, dass die Weltrevolution ausgeblieben war: Der Westen war keineswegs eine Welt der Arbeiter und Bauern, sondern, ganz im Gegenteil, kapitalistisch geworden. Und die immer stärker zutage tretenden Symptome des autistischen Sozialismus mussten sorgfältig hinter dem Eisernen Vorhang verborgen werden.

Ende des vergangenen Jahrhunderts hatte das Land sein Abgesondertsein satt und fing wieder an, beim Westen vorstellig zu werden. Wobei einige dabei offenbar den Eindruck hatten, dass die Größe eine Rolle spielt: Wir passen nicht in Europa rein, weil wir zu groß und erschreckend raumgreifend sind. Also mussten Territorium, Bevölkerung, Wirtschaft, Armee und Ambitionen auf die Maßstäbe eines mitteleuropäischen Landes zurechtgestutzt werden. Dann würden sie uns bestimmt als ihresgleichen aufnehmen.

Wir stutzten alles zurecht. Begannen, genauso fanatisch an Hayek zu glauben wie früher an Marx. Wir halbierten das demografische, industrielle und militärische Potenzial. Wir trennten uns von den Unionsrepubliken und begannen uns von den autonomen Republiken zu trennen ... Doch auch ein derart verkleinertes und herabgesetztes Russland eignete sich nicht für die Hinwendung zum Westen.

Endlich beschlossen wir, mit dem Verkleinern und Sich-Herabsetzen aufzuhören und darüber hinaus Rechte anzumelden. Die Geschehnisse im Jahr 2014 wurden unausweichlich.

Endlich hörten wir mit dem Verkleinern und Sich-Herabsetzen auf und meldeten Rechte an. Die Geschehnisse 2014 wurden unausweichlich

Das russische und das europäische Kulturmodell haben bei aller äußeren Ähnlichkeit unterschiedliche Software und inkompatible Schnittstellen. Sie fügen sich nicht in ein gemeinsames System. Heute, wo dieser uralte Verdacht zur offenkundigen Tatsache geworden ist, werden Vorschläge laut, wir sollten uns in die andere Richtung aufmachen, nach Asien, nach Osten.

Besser nicht. Und zwar deshalb nicht, weil Russland da schon einmal war.

Das Moskauer Protoimperium entstand in einem komplexen militärisch-politischen Coworking mit der asiatischen Horde, das manche als Joch, andere lieber als Union bezeichnen. So oder so, freiwillig oder unfreiwillig: Der östliche Entwicklungsschwerpunkt ist ausgewählt und erprobt worden.

Sogar nach dem Stehen an der Ugra blieb das russische Zarenreich im Grunde ein Teil von Asien. Es annektierte bereitwillig Gebiete im Osten. Es beanspruchte die Nachfolge von Byzanz, dem asiatischen Rom. Es stand unter starkem Einfluss hochstehender Familien, die der Goldenen Horde entstammten.

Russland ist vier Jahrhunderte lang Richtung Osten und weitere vier Jahrhunderte lang Richtung Westen gegangen. Weder da noch dort hat es Wurzeln geschlagen

Höhepunkt des Moskauer Asiatentums war die Ernennung von Simeon Bekbulatowitsch, dem Khan von Kassimow, zum Souverän von ganz Russland. Historiker, die Iwan den Schrecklichen einfach für eine Art Oberiuten mit Monomachkappe halten, schreiben diese Posse lediglich seinem naturgemäßen Hang zu Scherzen zu. Die Realität war ernster. Nach Iwans Tod bildete sich am Hof eine gewichtige Partei, die versuchte, Simeon Bekbulatowitsch nun tatsächlich auf den Zarenthron zu befördern. Boris Godunow musste den Bojaren bei ihrer Vereidigung das Versprechen abnehmen, dass sie „den Zaren Simeon Bekbulatowitsch und seine Kinder nicht als Herrscher wollten“. Der Staat stand also kurz davor, in die Herrschaft einer Dynastie getaufter Dschingisiden überzugehen und das östliche Entwicklungsparadigma zu zementieren.

Doch weder Bekbulatowitsch noch die Godunows, die [laut Legende – dek] von einem Mirza, einem Fürsten der Goldenen Horde abstammten, hatten eine Zukunft. Die polnisch-kosakische Invasion begann, und mit ihr kamen neue Zaren aus dem Westen nach Moskau. Die Herrschaft des falschen Dimitri, der den Bojaren lange vor Peter dem Großen durch sein europäisches Gebaren das Leben schwermachte, und die Regentschaft des polnischen Königssohns Władysław sind trotz ihrer Kurzlebigkeit von hoher symbolischer Bedeutung. Die Zeit der Wirren erweist sich in ihrem Licht als eine Krise, die weniger dynastischen als zivilisatorischen Charakter hat.

Die Rus wandte sich von Asien ab und begann sich in Richtung Europa zu bewegen.

Russland ist also vier Jahrhunderte lang Richtung Osten und weitere vier Jahrhunderte lang Richtung Westen gegangen. Weder da noch dort hat es Wurzeln geschlagen. Beide Wege sind abgeschritten. Jetzt werden Rufe nach der Ideologie eines dritten Weges, eines dritten Zivilisationstyps, einer dritten Welt, eines dritten Rom, erklingen müssen.

Und doch sind wir wohl kaum eine dritte Zivilisation. Eher eine doppelgerichtete und zweigleisige. Die sowohl den Osten als auch den Westen in sich enthält. Wir sind europäisch und gleichzeitig asiatisch und daher weder ganz asiatisch noch ganz europäisch.

Wir sind europäisch und gleichzeitig asiatisch und daher weder ganz asiatisch noch ganz europäisch

Unsere kulturelle und geopolitische Zugehörigkeit erinnert an die unstete Identität eines Menschen, der aus einer Mischehe hervorgegangen ist. Er ist überall ein Verwandter, aber nirgends Familie. Daheim unter Fremden, fremd unter den Seinen. Er versteht alle und wird von niemandem verstanden. Ein Halbblut, ein Mestize, ein seltsames Wesen.

Russland ist ein west-östliches Halbblutland. Mit seinem doppelköpfigen Staatswesen, seiner hybriden Mentalität, seinem interkontinentalen Territorium und seiner bipolaren Geschichte ist es, wie es sich für ein Halbblut gehört, charismatisch, begabt, schön und einsam.

Charismatisch, begabt, schön und einsam

Die denkwürdigen Worte, die Alexander III. nie gesagt hat – „Russland hat nur zwei Verbündete, seine Armee und seine Flotte“ – sind die wohl eingängigste Metapher für seine geopolitische Einsamkeit. Und es ist längst an der Zeit, sie als Schicksal anzuerkennen. Die Liste der Verbündeten kann natürlich nach Belieben erweitert werden: Arbeiter und Lehrer, Öl und Gas, die kreative Schicht und patriotisch gesinnte Bots, General Frost und der Erzengel Michael ... An der Aussage selbst ändert sich dadurch nichts: Wir sind uns selbst die engsten Verbündeten.

Wie wird diese Einsamkeit aussehen, die uns bevorsteht? Werden wir als armer Schlucker eine kümmerliche Randexistenz fristen? Oder erwartet uns die glückliche Einsamkeit des Leaders, der Alpha-Nation, die allen davonzieht und der „die andern Völker und Reiche ausweichen und ihren Lauf nicht hemmen“? Es hängt von uns ab.

Einsamkeit bedeutet nicht völlige Isolation. Unbegrenzte Offenheit ist ebenso wenig möglich. Beides würde bedeuten, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Die Zukunft aber kann die Fehler der Vergangenheit nicht brauchen, sie hält ihre eigenen Fehler bereit.

Russland wird zweifellos Handel treiben, Investitionen anziehen, Wissen austauschen, kämpfen (auch Krieg ist eine Form der Kommunikation), sich an gemeinsamen Projekten beteiligen, in Organisationen vertreten sein, konkurrieren und kooperieren und Angst, Hass, Neugier, Sympathie und Bewunderung hervorrufen. Nur eben ohne trügerische Ziele und Selbstverleugnung.

Es wird schwer werden, und immer wieder wird uns ein Klassiker der russischen Poesie in den Sinn kommen: „Ringsum nur Dornen, Dornen, Dornen ... Sch***e, wann kommen die Sterne?!

Es wird interessant. Und die Sterne werden kommen.

 

 

Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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Russland und Europa

Ist Russland nur Abklatsch westlicher Vorbilder oder aber erlösendes Vorbild für ein fehlgeleitetes Europa? Ulrich Schmid über kontroverse Debatten und ein Fenster, das zeitweilig auf und wieder zugeht. 

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Russland und Europa

Wie sonst nur Großbritannien hadert Russland mit seinem schwierigen Verhältnis zu Europa. Die britische splendid isolation findet ihr Gegenstück in der geographischen Teilung Russlands in ein europäisches und ein asiatisches Territorium. Kulturell und politisch gibt es mehr Fragen als Antworten. Der russische Begriff Jewropa ist keineswegs eindeutig und kann verschiedene, ja gegensätzliche Konnotationen aufweisen. Das Präfix jewro- – etwa in den Wörtern jewroremont (Euro-Renovierung) oder jewroobuw (Euro-Schuhe) – impliziert spätestens seit den 1990er Jahren hohe, „nicht-sowjetische“ Qualität. Wenn man in Russland „wie in Europa“ leben will, dann ist das positiv gemeint, und „europäische Luft“ gilt als Synonym für Freiheit. Gleichzeitig gibt es in Russland eine lange Denktradition, die Europa fehlende Spiritualität, Krämergeist und politische Schwäche vorwirft. Verbreitet ist auch die Vorstellung, Russland habe Europa vor dem Mongolensturm beschützt und die europäischen Usurpatoren Napoleon und Hitler besiegt.


In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Die Frage „Gehört Russland zu Europa?“ erhitzt bis heute die Gemüter der Intellektuellen. Neben das faktische Problem tritt das normative. Ebenso intensiv wird die Frage „Soll Russland zu Europa gehören?“ diskutiert.

Fenster nach Europa

Russlands Verhältnis zu Europa wurde von Peter dem Großen (1672–1725) zuoberst auf die politische Tagesordnung gesetzt. Seine Reformen revolutionierten das alte Ständesystem, indem die Rangtabellen für den Staats- und den Militärdienst eingeführt wurden. Damit wurden die sozialen Hierarchien nicht mehr durch Familientraditionen, sondern durch bürokratische Beförderungssysteme definiert. Gleichzeitig hielt die westeuropäische Kultur Einzug in Russland – am augenfälligsten waren die Neuerungen in der Mode und in der Architektur.

Die 1703 gegründete neue Hauptstadt St. Petersburg, die äußerlich den westeuropäischen Hauptstädten sehr ähnlich ist, wird nach Puschkins Formulierung oft als „Fenster nach Europa“ bezeichnet. Dieser bekannte Ausdruck ist aber selbst zum Gegenstand von Sprachwitzen geworden:: „Peter der Große hat doch ein Fenster eingeschlagen, aber keine Tür: Gucken darfst du, aber nicht hinausgehen“.1

Wohlgemerkt betrafen Peters Reformen vor allem den Adel. Im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte ein aristokratischer Russe mehr mit seinem französischen Standesgenossen gemein als mit einem russischen Bauern. Um die adlige Gesellschaft Anfang des 19. Jahrhundert realitätsgetreu darzustellen, baute etwa Leo Tolstoi mehrere Dialoge auf Französisch in seinen Roman Krieg und Frieden ein.

Abklatsch westlicher Vorbilder

Die Verdienste der petrinischen Reformen und „Zwangseuropäisierung“ wurden später zum Gegenstand einer tiefen Reflexion. Napoleons Moskaufeldzug 1812 führte in Russland zur Ausarbeitung einer eigenständigen Nationalkultur.
Die Forcierung der russischen Kulturautonomie stieß bald auf vehemente Kritik. Im 19. Jahrhundert beschäftigte sich die im Entstehen begriffene russische Philosophie vornehmlich mit dem Thema Russland und Europa. Den Ton gab Pjotr Tschaadajew vor.  Sein Erster Philosophischer Brief erschien im Jahr 1836 und war nach Alexander Herzens berühmter Formulierung ein „Schuss in dunkler Nacht“. Auf Französisch kritisiert Tschaadajew die russische Kultur, die nichts Eigenständiges hervorgebracht habe und nur einen Abklatsch westlicher Vorbilder darstelle. Tschaadajew wurde wegen seiner radikalen Russlandkritik von den zaristischen Behörden für verrückt erklärt. Diese Kontroverse steht am Anfang der Debatte zwischen den sogenannten Slawophilen und Westlern, die das gesamte 19. Jahrhundert beschäftigte. Die Spätfolgen wirken noch in den heutigen Diskussionen um Russlands kulturelle Identität nach.

Die Slawophilen und die Westler sind jedoch nur auf den ersten Blick eingeschworene Gegner. Wie komplex die ideologischen Positionen sind, zeigt etwa die Tatsache, dass eine berühmte slawophile Literaturzeitschrift den Titel Der Europäer trug, während ein einflussreiches westliches Organ Vaterländische Aufzeichnungen hieß. Ihre Argumentationsstrukturen sind ähnlich.2 Beide Bewegungen weisen deutlich mehr Ähnlichkeiten miteinander auf, als mit der Theorie der offiziellen Volkstümlichkeit, die mit dem Namen des Bildungsministers unter Nikolaus I. Sergej Uwarow verbunden ist: So verstehen sich beide Seiten als russische Patrioten und treffen sich in der Diagnose, dass Russland reformbedürftig sei. Uneinig sind sie sich nur in der Therapie: Die Slawophilen rufen zur Rückkehr zu den eigenen Wurzeln auf, während die Westler den Anschluss an das fortgeschrittene Europa fordern. Für die Slawophilen wird dabei gerade die kulturelle Rückständigkeit zum Vorteil: Das „alte“ Europa habe bereits den verderblichen Weg des Rationalismus, Individualismus und Kapitalismus eingeschlagen, während das ungeformte Russland noch bereit sei, sich seiner höheren Berufung zu stellen. 

Russland als neuer Kulturtyp

Am detailliertesten hat Nikolaj Danilewski (1822–1885) diese Theorie ausgearbeitet, auch wenn er nicht stellvertretend für alle Unterbewegungen der Slawophilen stehen kann. In seiner umfangreichen Untersuchung Russland und Europa (1869) identifiziert er zehn Kulturtypen, die vom alten Ägypten bis zur „germanisch-romanischen Kultur“ der Neuzeit reichen. Russland kommt in dieser Typologie nicht vor: Es stellt für Danilewski die letzte Synthese dar, die alle religiösen, politischen und ökonomischen Entwicklungen der Weltgeschichte zusammenführen und abschließen wird. 

Aus dieser Perspektive erscheint Russland in einer Doppelrolle: Es erlebt erstens eine eigene Heilsgeschichte jenseits westlicher Ideale. Dadurch wird es zweitens zum erlösenden Vorbild für das fehlgeleitete Europa. Der russische Messianismus gehört zu den romantischen Denkfiguren, die sich im 19. Jahrhundert auch bei Tjutschew oder Dostojewski nachweisen lassen.3 Noch im 20. Jahrhundert bekannten sich Autoren wie Nikolai Berdjajew oder Alexander Solschenizyn zu dieser Idee. 

Der Topos einer vorteilhaften Rückständigkeit Russlands war auch für marxistisch inspirierte Philosophen und Politiker sehr attraktiv. Lenin und Trotzki gingen am Ende des Ersten Weltkriegs davon aus, dass in den industrialisierten Ländern Europas Schlag auf Schlag Revolutionen folgen würden. Die alten Nationalstaaten würden untergehen und neuen sozialistischen Gesellschaften Platz machen. Pikanterweise erfuhr der traditionelle russische Messianismus hier eine marxistische Umdeutung: Die Revolution im unterentwickelten Russland sollte den Befreiungskampf der Proletarier aller Länder einleiten.4 So schien kurz nach dem Oktoberumsturz 1917 das Problem „Russland und Europa“ gelöst zu sein.

Gemeinsames europäisches Haus

Mit neuer Intensität wurde über Zugehörigkeit Russlands zu Europa zu Beginn der 1990er Jahre debattiert, als zwei Europabilder gegeneinander ausgespielt wurden. Europa war aus der ersten Perspektive ein Vorbild für Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Demokratie, das von Russland nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems in „drei Fünfjahresplänen“ erreicht werden sollte. Die zweite Perspektive lehnte das westlich geprägte Europa als fremd ab und hob die eurasische Qualität Russlands hervor: Damit wäre Russland ein eigener europäischer Zivilisationstypus, der gerade nicht in das westliche Muster überführt würde.5

Diese Diskussionen gingen zurück auf Wortmeldungen der letzten Generalsekretäre der Sowjetunion. Berühmt geworden ist Michail Gorbatschows Wendung „unser gemeinsames europäisches Haus“, die er 1984 in einer Rede vor dem britischen Parlament6 und später am epochalen Gipfeltreffen mit Ronald Reagan 1986 in Reykjavik7 prägte.8 Gorbatschow machte aus dieser diplomatischen Floskel auch ein politisches Programm, dem noch in den 1990er Jahren gefolgt wurde. 

Auch zu Beginn der Präsidentschaft Putins hatte der Ausdruck „unser gemeinsames Haus Europa“ noch seine Gültigkeit. Präsident Putin setzte ihn 2001 in seiner berühmten, auf Deutsch gehaltenen Rede vor dem Bundestag ein.9 Dieser versöhnliche Kurs wurde allerdings 2007 aufgegeben, als Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine schärfere Gangart Russlands ankündigte. 

Gayropa

In der Ära Putin kann man im staatsnahen öffentlichen Diskurs eine wachsende Abgrenzung von Europa beobachten. Russische Nationalisten verwenden oft den Begriff Gayropa. Damit soll signalisiert werden, dass Europa seine traditionellen Werte aufgegeben habe und sich von Minderheiten bestimmen lasse. Eine ähnlich polemische Wortbildung ist der Begriff „Liberasten“. Die liberale Grundhaltung der westlichen Gesellschaften hat sich aus dieser Sicht selbst ad absurdum geführt: Wer sogar „Päderasten“ toleriert, gibt seine europäischen Identität auf.

Auch akademische Philosophen beschäftigen sich etwa mit der Frage, warum eine europäische „Ideologie“ wie der Liberalismus für Russland schädlich sei. So weist der Petersburger Politikwissenschaftler Wladimir Gutоrow (geb. 1950) in einer langen Einleitung zu einem Band mit dem Titel Liberalismus. Pro et contra (2016) darauf hin, dass liberale Politiker etwa in der Provisorischen Regierung 1917 und unter Jelzin in den 1990er Jahren „die russische Staatlichkeit an die Grenze zur Katastrophe“ gebracht hätten.10 

Der langjährige Chefideologe des Kreml, Wladislaw Surkow, kündigte in seinem Artikel für das regierungsnahe Journal Russia in Global Affairs den Anfang einer andauernden Einsamkeit Russlands an und suchte nach einem „dritten Weg“, einem „dritten Zivilisationstypus“, einem „dritten Rom“.
Die Ablehnung der europäischen Kultur taucht auch in offiziellen Dokumenten wie den Grundlagen der Kulturpolitik der Russischen Föderation (2015) auf. Die „Erhaltung eines einheitlichen Kulturraums“ wird als oberstes Ziel genannt. 

Wie wirksam dieser Diskurs ist, ist unklar. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums zeigt jedenfalls, dass die Zustimmung zur Aussage „Russland ist ein europäisches Land“ 29 Prozent beträgt. Im Jahr 2008 erreichten die entsprechenden Werte noch 56 Prozent.11
Es scheint, dass das Fenster, das Peter der Große geöffnet hatte, langsam wieder zugeht. 

 

Aktualisiert am 21.12.2021


1.Es handelt sich um eine Anmerkung des Künstlers Ivan Kuskov (1927–1997), die vom Literaturwissenschaftler Michail Gasparov aufgeschrieben wurde, vgl.: Gasparov, Michail (2001) Zapiski i vypiski, Moskau
2.Uffelmann, Dirk (1999): Die russische Kulturosophie: Logik und Axiologie der Argumentation. Frankfurt am Main, S. 389 
3.Schelting, Alexander von (1948): Russland und Europa im russischen Geschichtsdenken, Bern, S. 180-187
 4.Albert, Gleb J. (2017): Das Charisma der Weltrevolution: Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917-1927, Köln, Weimar, Wien, S. 74-87 
5.Neuman, Iver B. (1999):  Uses of other. "The East" in European identity formation. Minneapolis, S. 165f.
6.Šlykov, Konstantin V. (2014): Pervyj vizit M. S. Gorbačeva v Velikobritaniju: Vzgljad čerez 30 let, in: Vestnik MGIMO-universiteta, 35, S. 99
7.Gorbačev, Michail (2008): Sobranie sočinenij, IV, Moskva, S. 134
8.Weniger bekannt ist allerdings die Tatsache, dass der Ausdruck bereits von Leonid Breshnew 1981 bei einer Rede in Bonn und von Außenminister Andrej Gromyko an einer Pressekonferenz ebenfalls in Bonn 1983 verwendet wurde. Gromyko, Andrej A. (1984): Leninskim kursom mira, Moskva, S. 461
9.Kremlin.ru: Vystuplenie v bundestage FRG
10.Gutorov, V. A. (2016): Rossijskij liberalizm kak istoričeskij i političeskij fenomen: ot utopii k real'nosti, in: Liberalizm: Pro et contra: Russkaja liberal'naja tradicija glazami storonnikov i protivnikov: Antologija, Sankt-Peterburg, S. 14
11.Levada.ru: Rossija i Evrosojuz; Rossija i Evropa

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