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Das Zauberding

Plötzlich gab es das Karussell in Moskau. Nicht irgendeins. Autor Schura Burtin ist aufgesprungen. Colta zeigt Fragmente eines durchgedrehten Sommers.
Das Karussell war auch beim Burning Man 2019 in der Wüste Nevadas. Wann es sich in Moskau das nächste Mal dreht, erfahrt ihr hier.

Quelle Colta.ru

© Instagram/carouselzarya
Gesehen habe ich das Karussell zum ersten Mal im Mai, obwohl ich schon lange davor von ihm gehört hatte. Siggi sagte, Sanjok und er hätten es endlich nach Moskau gebracht, zu irgendeiner Fabrik, ich könne ja kommen und ihnen helfen. Als ich ankam, war das Karussell zerlegt – die beiden Jungs hatten die Hinterachse eines Autos ausgebaut, an der eine Kurbel befestigt wurde, und da schweißten sie Metallringe dran. Von oben aus den Fenstern einer Loft-Bar sahen ihnen angeheiterte Mädchen zu. Siggi überwand seine Verlegenheit und winkte ihnen mit seiner ölverschmierten Hand zu. 

Es dämmerte schon, als die Jungs die Kurbelwelle wieder einsetzten und die Schrauben anzogen. Im Halbdunkel holte Sanjok ein rotes Pferdchen aus der Garage, stellte es aufs Karussell und setzte sich drauf. Siggi brachte die große Kurbel in Schwung, und das Karussell begann sich zu drehen. Da war mir plötzlich alles klar – nachdem mir zwei Jahre lang verschiedene Freunde davon erzählt hatten und ich nie verstanden hatte, was auf einmal dieser Heckmeck um ein Karussell soll. Ich kletterte auch aufs Karussell, rundherum drehten sich die erleuchteten Fenster, unten schaukelte Siggis knochiges Gesicht, Sanjok lachte glücklich. Die Welt, die sich langsam um uns drehte, war bunt und verheißungsvoll. Einfach, weil Siggi die Kurbel drehte.   

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Es waren an die 150 Zuschauer da. Es war schon dunkel, Sanjok hatte die Girlande angeknipst. Andrej Figa, ein Petersburger Sänger, den ich noch nie gehört hatte, sang auf dem Karussell wunderschöne Lieder, zwischendurch bat er lachend um einen Richtungswechsel. Siggi und ich standen auf dem Dach der Garage und sahen, dass Sanjok ein Wunder vollbracht hatte – zu unseren Füßen wurde ein berückendes, faszinierendes, irgendwohin führendes Fest gefeiert. Die Leute wussten nicht, woher das alles kam und dass ich vor einer Stunde noch gedacht hatte, das würde alles nichts. Es war einfach schön, ihre Gefühle füllten den Raum. Dann stieg das Publikum auf das Karussell und tanzte zur Musik des DJs, der in der Mitte mit einem riesigen Sperrholz-Laptop rotierte. An der Kurbel des Karussells standen Freiwillige Schlange. „Ich glaube, ich hab noch nie was Schöneres gesehen …“, sagte mein halbwüchsiger Sohn.
Ich dachte, wenn das Karussell elektrisch wäre, dann wäre nichts besonderes dabei: Der ganze Spaß besteht darin, dass die Leute sich gegenseitig drehen. Das ist wie eine Metapher: Hier kannst du ganz konkret, physisch spüren, dass sich ohne dich nichts bewegt. Mitten in dieser Stadt, in diesem Leben, wo alles auch ohne dich wunderbar läuft. 

© Instagram/Carouselzarya

Am nächsten Tag hatte ich ein Mitteilungsbedürfnis. Ich schickte Nachrichten an ein Dutzend Freunde, aber hatte dasselbe Problem wie alle, die versuchten, von Sarja (dt. Abendrot) zu erzählen. Es klang so banal: In einer Toreinfahrt wird ein Karussell aufgestellt, ein Konzert findet statt, dann wird getrunken und getanzt. Ich wusste nicht, wie ich die Freude rüberbringen konnte, die ich erlebt hatte. Wenn man es sich überlegte, war auch der rotierende Mechanismus aus Metall banal. Ich rief Siggi an. 

„Du blickst in die Welt und siehst sie als flaches Bild. Doch auf dem Karussell siehst du sie plötzlich dreidimensional“

Siggi, dreht die Kurbel des Karussells:
„Ich weiß auch nicht, wie man das in Worte fassen kann. Ich erinnere mich gut an den Moment, als ich es zum ersten Mal gesehen habe. Shenja Sergijenko hatte mir ein Ohr abgekaut, dass ich unbedingt hinfahren und es mir anschauen muss. So, wie er es beschrieb, hatten irgendwelche Hippies, mit denen ich ästhetisch nicht viel anfangen kann, irgendein Faschingsdingsbums gebaut. Was geht mich das an? Ich wimmelte ihn immer wieder ab, aber dann hat er mich rumgekriegt. Und dann noch dieses graue, fade Moskau, dieser Halbregen, und ich musste bis nach Tschuchlinka hinaus, und es war spät und ich war schlapp und ich fuhr, schimpfte schrecklich in mich hinein, dass ich nachgegeben hatte, und ich musste lang auf den Bus warten und hasste schon alles, dann verirrte ich mich auch noch in dieser Industriezone. Da stieß ich plötzlich hinter einer Ecke auf das Karussell und dachte: „Meine Fresse.” Weil es mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte, als würde es Zeit und Raum aufbrechen. Weißt du, du blickst in die Welt und siehst sie als flaches Bild. Doch auf dem Karussell siehst du sie plötzlich dreidimensional. Nur kannst du kleiner Depp dir mit deinem zweidimensionalen Bewusstsein nicht erklären, was da los ist – aber du spürst es.“ 

„Das Karussell ist eben auch eine Insel des romantischen Kommunismus“

Sanjok, Erfinder des Karussells:
„In Lipezk gab es im Park ein Kino, das Sarja hieß, so eines aus der Sowjetzeit. Meine Eltern erzählten mir, wie sie da in ihrer Jugend hingingen, und ich war später mit Mama oft dort. Dahinter hat man einen wunderbaren Ausblick auf einen Bruch in der Landschaft, weil dort die mittelrussische Platte in die Oka-Don-Ebene übergeht. Der Himmel ist unendlich, der Horizont phänomenal. 
Na, und das Karussell Sarja ist eben auch eine Insel des romantischen Kommunismus. Das Ding steht und läuft gratis. Ich bin auf die moderne Welt nicht wirklich vorbereitet, das ist einfach nicht meins. Mich zieht es immer eher in die Vergangenheit, mit mehr Analogem, mehr Kontakt, ohne Internet, Artificial Intelligence und alldem, was sich in der Welt so tut. Ich mag gern rostiges Eisen.   
Außerdem ist mir sehr wichtig, dass es hier um Kindheit geht, um ursprüngliche Erfahrungen, Unmittelbarkeit, Artistik, kindliche Phantasie.
Ich kann das nicht konkret formulieren. Für die ästhetischen Grundlagen ist bei uns Jurka zuständig, frag ihn.“    

„Es ist ein gemeinnütziges Projekt, ich bekomme nichts dafür“

Jura, DJ:
„Ich lege auf, was sich in den letzten 30 Jahren angesammelt hat. Experimentelle elektronische Musik gab es in den 1990ern und 2000ern massenhaft, in der Zeit habe ich viel aufgestöbert. Nach 2010 dann weniger, weil ich zwei Abschlüsse hatte, Arbeit, Privatleben … Aus den 2010er Jahren hab ich leider nicht so viel Mucke, obwohl ich ab 2013 wieder mehr gesucht habe. Es ist schön, was komplett Neues zu finden, das mit nichts und niemandem in Verbindung steht.     
Das Karussell ist ein gemeinnütziges Projekt, ich bekomme nichts dafür und nehme es längst als selbstverständlich hin. Was einem taugt, das muss man auch machen – was es kostet, ist eine andere Frage. 

Ich frage Jura, ob er zur nächsten Party kommt.

„Nein, ich werde da ja nicht auflegen, und meine ganze Freizeit brauche ich, um Musik aufzustöbern. Die Ausbeute ist derzeit sehr gering. Letztes Wochenende hab ich 20 Gigabyte gehört, aber nur 15 Tracks gefunden. 15 Tracks nach drei Tagen pausenlosem Hören“, seufzt Jura.
  
Erst bei diesem Satz merke ich, was für ein völlig abgespaceter Nerd er ist.  

Aufruf zum Hutwettbewerb und etwas Inspiration dafür auf Instagram © Instagram/Carouselzarya

„Ich habe zu tanzen begonnen. Vor dem Karussell habe ich nie getanzt“

Olelis:
„Ich hasse das Wort Publikum. Und wollte schon lange davon weg. Das Karussell weicht die Grenzen auf. Durch das Drehen kann man sich auf jeden Moment einlassen – den Musiker auf dem Karussell sorgsam, feierlich und sanft drehen. Das erzeugt geradezu einen ehrfürchtigen Schauer des Einbezogenseins. Wenn ich die Musiker drehe, fühle ich mich auf wertvolle Weise an dem Prozess beteiligt, möchte im Einklang mit der Musik kurbeln.
Der sichtbarste Effekt: Ich habe zu tanzen begonnen. Vor dem Karussell habe ich nie getanzt. Und dann bin ich auf der Bessonniza plötzlich zu einem Lieblingstrack abgehoben – und hab gecheckt, wie das geht, mit dem ganzen Körper, ohne darauf zu achten, wie man aussieht, ob man es kann oder nicht. Es ist eine Art Trance, der Körper bewegt sich von selbst.           

Die Miete zahlt Sanjok aus eigener Tasche – wobei er sehr auf Unterstützung von Freunden hofft. Wenn zum Beispiel jeder, der bei der Eröffnung war, einmal im Monat fünfhundert Rubel [ca. 6 Euro – dek] beisteuern würde, dann würde das Geld für die Miete und die Künstlerhonorare reichen. Und wir hätten den ganzen Sommer lang dieses Zauberding. Von Gewinn kann sowieso keine Rede sein.“

Flugblatt-Marketing © Instagram/Carouselzarya

„Das Moskauer Meer“

„Ich muss zugeben“, schreibt Siggi, „dass wir gar nicht darauf aus sind, noch eine Konzertbühne in Moskau mit Veranstaltungen, Partys, Facebook-Events und Presseaussendungen zu machen. Wir sind für mehr gedruckte Plakate auf grobem Papier, mehr echte menschliche Stimmen, für Mundpropaganda und einfach Zufälle.

Als Kind träumte ich davon, dass in Moskau ein Meer gebaut würde. Dann wurde ich größer und verstand, dass es hier nie ein Meer geben wird. Aber ein Karussell ist möglich – ein Stückchen romantischer Kommunismus auf einem kleinen Flecken Asphalt. Genau so muss man es sehen.“

© Instagram/Carouselzarya

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Gnose

Russische Rockmusik

Das „Yeah, yeah, yeah“ ertönte als Ruf einer Generation, der auch auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs zu hören war. Als Gegenentwurf zur offiziellen sowjetischen Musikkultur eröffnete die russische Rockmusik eine emotionale Gegenwelt, die systemverändernd wirkte und den Soundtrack einer neuen Zeit bildete.

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Hip-Hop in Russland

Am Anfang war das Wort, und das Wort war Rap. Das etwa 25-minütige Programm Rap von DJ Alexandr Astrow und der Gruppe Tschas Pik (dt. Stoßzeit) gilt als erste russischsprachige Rap-Aufnahme, die 1984 im Nachtclub Kanon in Samara erklang. Musikalisch lehnte es sich stark an Rapper’s delight der US-amerikanischen Gruppe The Sugar Hill Gang (1979) an. Textuell bietet es vor allem eine scherzhafte Reflexion, ob Rap auf Russisch überhaupt möglich ist.

Auch wenn eine Antwort damals alles andere als selbstverständlich war, entwickelte der russische – oder eher russischsprachige – Hip-Hop, im Gegensatz zu der Anpassung an US-amerikanische Formen in den frühen Jahren, allmählich eine eigene stilistische und musikalische Identität. Heutzutage steht er als ein eigenständiges Phänomen und als „dominante Gegenwartskultur“ da, eben auch in erster Linie als kulturelles Gut, das zudem nicht unrentabel ist.

Für die breite Öffentlichkeit wird das allerdings erst 2017 klar. Am 6. August 2017 geraten in einem Battle-Rap zwei russische MCs aneinander. Auf der einen Seite steht Oxxxymiron, einer der bekanntesten und renommiertesten russischen Rapper. Auf der anderen Seite der außerhalb der Szene kaum bekannte Battle-MC Gnoiny (dt. Eitrig) aka Slawa KPSS. Die am 13. August online gestellte Aufzeichnung brach alle Rekorde und verzeichnete elf Millionen Aufrufe in einer Woche, über 37 Millionen bis heute.

Aus dem Underground in die Pop-Kultur

Der Battle wurde bis in die großen Nachrichtenagenturen wie RIA Nowosti wochenlang analysiert, rezensiert und kommentiert. Es ist schon an sich eine Schlagzeile, wenn zehn Prozent der russischen Bevölkerung sich eine Stunde lang elegante verbale Beschimpfungen, a capella vorgetragen, voller vulgärer Ausdrücke, Insider- und kultureller Querreferenzen anschauen. Selbst die, die mit dem Internet „per Sie“ sind, mussten sich mit der „neuen kulturellen Erscheinung“ vertraut machen: „Das Konzept des Rap-Battles war den meisten Russen vor einem Jahr noch unbekannt. Nun ist es praktisch in euer Leben getreten”, schrieb der Kommersant zu Beginn des Jahres.1 So trat der Rap scheinbar plötzlich „aus dem Underground in die Pop-Kultur“ und wurde zum Massenphänomen: die Videoclips erreichen mehrere Millionen Internet-Nutzer, die Rapper füllen die größten Clubs und Konzerthäuser. Das war nicht immer so.

Rap Battle Oxxxymiron VS Slava KPSS from n-ost on Vimeo.

 
„Ich battle heute nur gegen einen Betäubten, eine graue Ratte“ – Der Battle brach alle Rekorde und verzeichnet bis heute 37 Millionen Aufrufe. Video: Maxim Kireev (Übersetzung) und Eva Famulla (Schnitt und Untertitel) / ostpol.de

Geburt des Raps aus dem Geiste des Tanzes

In den frühen 1980er Jahren gelangten die westlichen Rap-Aufnahmen, wie eben der Welthit Rapper‘s delight der Sugar Hill Gang erstmal als Raubkopien in die Sowjetunion und waren – wie auch Rockmusik und andere westliche Kulturgüter – der sowjetischen Jugend nicht länger vorenthalten.

Zur Subkultur wurde Hip-Hop in der Sowjetunion vor allem über Breakdance. Ausgewählte Szenen in Filmen wie Tanzy na krysche (dt. Tänze auf dem Dach, 1985, Viktor Wolkow) oder Courier (1986, Karen Schachnasarow) inspirierten eine ganze Bewegung an B-Boys und B-Girls. 1985 entstanden in Moskau erste Tanzcrews und im Folgejahr fand in Litauen das erste sowjetische Breakdance-Festival statt.

Auch frühe Rap-Gruppen wie Bad Balance oder MC Lika – die vermeintlich erste russische Rapperin – entstanden aus Tanzgruppen. Musikalisch unterscheiden sie sich auf den ersten Blick wenig von ihren US-amerikanischen Vorbildern. Manche Texte sind gar auf Englisch verfasst. Durch die Annahme US-amerikanischer kultureller Formen zeigen die Künstler ihre Kenntnis von und ihre Anbindung an eine zu der Zeit noch sehr US-amerikanisierte Hip-Hop Kultur, die sie durch Kassetten, Filme und seltener auch live konsumieren.

„Keep it real!“

Der Hip-Hop der Perestroika und des ersten Jahrzehnts nach der Auflösung der UdSSR bot der Jugend neben neuen Ausdrucksformen neue Identifikationsmöglichkeiten und künstlerische Freiheiten. Nicht zuletzt auch über ein gemeinsames Vokabular und Ethos. „Keep it real!“, also sowohl „Sei Hip-Hop“ als auch „Sei Du selbst“, ist ein zentraler Wert in der Hip-Hop Kultur. Für den Rap in Russland bedeutete das einerseits die Aufnahme externer Einflüsse, andererseits aber auch eine tiefe Verankerung im Hier und Jetzt. So hat sich das Genre, stets ein Spiegel seiner unmittelbaren Umgebung, zunehmend differenziert.

Räumlich übt Moskau, das Moloch, an dem es sich zu messen gilt, mit seinen Labels und Konzerthäusern gewiss die größte Anziehungskraft aus. Es zieht zwar viele Rapper in die Hauptstadt, aber Hip-Hop ist keineswegs nur ein Moskauer Phänomen. Bad Balance vertritt Sankt Petersburg, die berühmten Basta und Kasta kommen aus Rostow am Don, Face aus Ufa. Gerappt wird sowohl über Moskauer Hochglanz als auch über panelki (dt. Plattenbauten) in der Provinz. Tatsächlich hat sich die russischsprachige Rap-Landschaft seit den 1990er Jahren erheblich erweitert, bis über die Landesgrenzen hinaus: Nicht wenige der aktuellen Größen im russischsprachigen Rap kommen aus postsowjetischen Staaten wie Kasachstan (Skriptonit) oder Belarus (LSP).

„Ich brauche eine Pille“

Der teils rebellische russische Oldschool-Rap der 1990er Jahre bringt auch manche Tabubrüche mit sich. Der wohl erste Rap-Skandal in Russland entflammte um den Track Seks bes pererywa (dt. Pausenloser Sex) der Gruppe Maltschischnik (dt. Junggesellenabschied). Das Stück war 1991 der wohl erste russische Rap-Hit – und ein Bruch mit der Kultur des Schweigens, die in der Sowjetunion um das Thema Sex herrschte.2 Aus heutiger Perspektive ist der Skandal kaum nachvollziehbar. Die zahlreichen sexuellen Anspielungen in Rap-Texten und Videoclips überraschen kaum und selbst der latente Sexismus einiger Künstler, am besten veranschaulicht durch die häufige Nutzung des Wortes suka (vgl. en. „bitch“), führt kaum zu öffentlichen Debatten.

Nicht nur der Platz des Themas Sex hat sich seit den 1990ern erheblich geändert. Die urbane Rap-Welt an sich wandelte sich im Laufe der Zeit parallel der gesellschaftlichen Stellung der Rapper von einer Underground-Existenz zu einem glamourösen Leben. Wo Delfin „einer der feinsten Dichter der russischen Musikszene“3 noch einen Diler (1996) verkörperte, ein „grässlicher Typ“ in einer makabren Umgebung, so treten Drogen mittlerweile vor allem aus der Perspektive des Konsumenten auf. „In meinem Herz hab ich ein Loch / Ich brauche eine Pille“ – besingt der Minsker Rapper LSP im Track Monetka die „furchteinflößende Leere“, die sich hinter dem Erfolg verbergen kann.

 
„In meinem Herz hab ich ein Loch / Ich brauche eine Pille“: Drogen treten vor allem aus der Perspektive des Konsumenten auf.

„Poesie aus drei Buchstaben“

„Poschumim, bljad!“ – „Macht verfickt nochmal Lärm“: So beginnt jedes Battle-Rap der größten russischen Battle-Rap-Liga Versus. Nicht nur im russischsprachigen Rap sind Kraftausdrücke sehr verbreitet. Durch die Besonderheiten des Mat, der russischen Vulgärsprache, die sowohl besonders tabuisiert als auch besonders reichhaltig ist, ist die gekonnte Nutzung obszöner Begriffe oftmals Bestandteil der lyrischen Gewandtheit von MCs. „Poesie aus drei Buchstaben“4, betitelt der Ogonjok einen Artikel über Battle-Rap und lässt dabei offen, ob damit Rap oder ein bekannter Mat-Begriff (хуй [chuj], dt. „Schwanz“) gemeint ist. „Derbe Flüche sind die Perle der großen russischen Sprache“, bestätigt auch eine Battle-Line von Oxxxymiron diese Annahme.

„Die russische Kultur hat erneut ihre Elastizität bewiesen – die Möglichkeiten der Sprache sind nicht erschöpft“, kommentiert Ogonjok die „recht originelle, tiefe und figurative Sprache“ des russischen Raps. Tatsächlich hört sich der Rap mancher Interpreten so an, als sei er „nichts weniger als konzeptuelle Poesie“.5 Wo Tschas Pik 1984 die Machbarkeit von russischsprachigem Rap noch in Frage stellte, wird der Rap heute zunehmend als literarisches Genre ernst genommen. So bot die staatliche Nachrichtenagentur TASS vor kurzem ihren Lesern an, Rap-Zeilen von Versen von Wladimir Majakowski zu unterscheiden.6

Auch Oxxxymiron’s letztes Album Gorgorod (2015) kann als ein langes Gedicht wahrgenommen werden. Als solches stand es jedenfalls zu Beginn des Jahres in der Vorauswahl eines angesehenen russischen Literaturpreises.7 Tatsächlich wagt sich Oxxxymiron dabei an ein anderes Format, ein Konzeptalbum, in dem man von Track zu Track den künstlerischen und persönlichen Werdegang eines Schriftstellers in einer antiutopischen fiktiven Stadt verfolgt.

Große Poesie und große Musik

Rap ist natürlich mehr als nur Text. „Oxxxymiron hat allen bewiesen, dass Rap auf Russisch große Poesie sein kann. Skriptonit hat bewiesen, dass er große Musik sein kann“8, stellt Meduza in einer Kritik zwei der einflussreichsten Rapper der vergangenen Jahre gegenüber. Der kasachische Rapper Skriptonit9, bekannt für seinen abgehackten Flow, nutzt seine Stimme nicht nur als Sinnträger, sondern vor allem auch als ein Instrument unter anderen.

Nicht zuletzt durch die technischen Entwicklungen im Hip-Hop und der Übergang von Samples (also Hip-Hop-Musik als Collage) zu eigen gefertigten Beats gewinnt der russischsprachige Rap zunehmend eine eigene musikalische Identität. Auch in Sachen visueller Ästhetik werden neue Akzente gesetzt. So mischt das Video zu Pharaohs Hit Diko, naprimer (dt. Wild, zum Beispiel, 2017) Bling-Bling mit einer Darstellung der Aristokratie aus dem Russland der Zarenzeit.

„Mein bester Freund ist Präsident Putin“

Anders als in den Vereinigten Staaten oder in Frankreich hat sich der Hip-Hop in Russland allerdings kaum als Gegenkultur etabliert, noch wurde er zum Sprachrohr für diskriminierte Minderheiten. Inhaltlich lässt sich der russischsprachige Rap nur schwer in ein politisches und ein unpolitisches Lager einteilen. Überhaupt wird Politik im engeren Sinne von Rappern selten angesprochen. Die Ausnahmen sind selten und sorgen stets für Aufruhr, links wie rechts. Timati steht exemplarisch für einen ausgeprägt regimetreuen Rap und macht aus seiner Nähe zu Präsident Wladimir Putin keinen Hehl: „Mein bester Freund ist Präsident Putin“, tönt gar der Refrain eines seiner Stücke (2015).

 
„Wenn das Land ein Club ist, entscheidet alles DJ“: Timati macht aus seiner Nähe zu Präsident Wladimir Putin keinen Hehl.

Der in den vergangenen zwei Jahren zunehmend aufsehenerregende Rapper Face, Jahrgang 1997, steht hingegen womöglich für eine politisierte jüngere Generation der Jahrtausendwende. Sein jüngstes Album Puti neispowedimy (dt. Die Wege sind unergründlich) bietet einen höchst kritischen Blick auf den Alltag: „Wir leben weiter und fühlen nicht das Land unter uns“, zitiert er in einem Track in Bezug auf die heutige Situation das fast gleichnamige Gedicht von Ossip Mandelstam, das eine harsche Kritik am Stalin-Regime darstellte. 

In der Regel kann man das Verhältnis zwischen Hip-Hop und Regime in Russland hingegen am besten als ein gegenseitiges Ignorieren schildern. So zieht Rap bislang auch nur wenig Aufmerksamkeit der Behörden auf sich und genießt eine relative künstlerische Freiheit.10 Da, wo Rap an die Justiz gerät, ist es den Künstlern teilweise gar dienlich. So erlangte die 2003 von Absolventen der Moskauer Akademischen Kunsthochschule gegründete Gruppe Krowostok (dt. Blutrinne) erst durch das Verbot ihrer Webpräsenz durch ein Gericht 2015 einen weiten Bekanntheitsgrad. Grundlage für das nach einem halben Jahr aufgehobene Urteil war die „Apologie von Gewalt und Drogenkonsum“. Krowostoks Texte zeichnen sich tatsächlich durch eine äußerst ausgeprägte Nutzung von Mat und kriminellem Jargon aus. Sie binden sich damit gekonnt an die Tradition des Blatnoi-Chanson an.

Rentables Geschäft

Die relative Narrenfreiheit von Hip-Hop in Russland hat gewiss auch mit seinen Verbreitungskanälen und Business-Modellen zu tun. Rap verbreitet sich in erster Linie über das Internet und auch die großen Label wie Bastas Gazgolder sind aus dem Hip-Hop heraus entstanden. Im Fernsehen ist Hip-Hop hingegen relativ wenig vertreten. „Fast alle Werbegelder haben sich Stück für Stück vom Fernsehen ins Internet verlagert“, so Basta im Gespräch mit Kommersant.11 Zurzeit werde aktiv in Werbekampagnen und Product-Placement in der Hip-Hop Kultur investiert – so der renommierte Rapper und Hip-Hop-Unternehmer. 

So geht die künstlerische Unabhängigkeit des Hip-Hop mit der wirtschaftlichen Eigenständigkeit einher. Auch die große Battle-Rap-Liga Versus finanziert sich über Klickzahlen und Sponsorenverträge. Nach dem Battle zwischen Oxxxymiron und Gnoiny bemerkte eines der Jurymitglieder: „Ich weiß nicht, wer von euren Kämpfen hier was hat, aber das russische YouTube gewinnt auf jeden Fall“.


Playlist



 
Tschas PikRap (1984): Der Urrap Rap, erstmals in Samara vorgetragen, bewegt sich noch an der Grenze von Elektro- und Hip-Hop und ist voller Zitate der Sugar Hill Gang oder von Grandmaster Flash.


 
Bad Balance Gorodskaja Toska (1996): Städtische Sehnsucht, einer der ersten russischen Rap-Videoclips, ist eines von zahlreichen der Stadt gewidmeten russischen Rap Stücke und repräsentativ für den russischen Old-School. Bad Balance ist eines der Urgesteine des russischen Rap. 


 
Zentr (feat. Basta) – Gorod Dorog (2008): Zwölf Jahre später nach Gorodskaja Toska von Bad Balance, ein anderer Beat, ein anderer Flow und es geht weiter um die Stadt. Für dieses Stück über die Hauptstadt erhielten die Moskauer Gruppe Zentr und der Rostower MC Basta den russischen MTV Music Award für das beste Hip-Hop Projekt.


 
KastaNa Poryadok vysche (2002): “Vergiss nicht deine Wurzeln/ Erinner’ dich / Es gibt höhere Dinge/ Hörst Du!”, wenden sich die Rapper von Kasta an die, die Russland verlassen wollen. Das Album Gromtsche WodyNishe Trawy (dt. Lauter als Wasser, niedriger als Gras) war einer der ersten kommerziellen Erfolge des russischen Rap. 


 
OxxxymironGorod pod Podoschwoj (2015): Oxxxymiron, Oxford-Absolvent, aufgewachsen in Essen und in London, steht an sich schon für die Fülle an Einflüssen des russischen Hip-Hop. In dem bekannten Stück reflektiert er über seinen fast nomadischen Werdegang, stets mit der „Stadt unter der Fußsohle“.  


 
SkriptonitVBVVCTND (2014): Skriptonit kommt aus einem Vorort von Pawlodar, Nodkasachstan und rappt überwiegend über die dortigen Lebensumstände. So auch in seinem ersten Clip, der ihm einen Vertrag mit einem der größten russischen Labels einbrachte. Drei Alben später ist auch er ohne Zweifel zu einer der einflussreichsten Figuren des russischsprachigen Rap geworden. 


 
PharaohDiko, naprimer (2017): Pharaoh (geb. 1996) gehört schon zur jüngeren Generation des russischen Rap. Diko Naprimer wurde 2017 zum Sommerhit und zeichnet sich neben seinem trägen Beat vor allem durch die besondere Ästhetik des dazugehörigen Videoclips aus.

1.Kommersant.ru: Is andegraunda v pop-kulturu 
2.Die Ausstrahlung eines Auftritts auf dem Fernsehsender ORT (heute Perwy Kanal) löste eine weite Polemik aus und führte zur Entlassung des Programmredakteurs. 
3.Gontchar, Alexandre (2017): Violence as Existential Punctuation. Russian Hip Hop in the Age of Late Capitalism, in Miszczynski, Milosz und Helbig, Adriana: Hip Hop at Europe’s Edge. Music, Agency and Social Change, Indiana, S.184 
4. Ogonjok: Poesija is trjoch bukw 
5.Gontchar, Alexandre (2017): Violence as Existential Punctuation: Russian Hip Hop in the Age of Late Capitalism, in Milosz Miszcynski und Adriana Helbig, Hip Hop at Europe's Edge, S.182 
6. TASS: Poprobujte otlitschit’ stichi Majakowskogo ot russkogo repa 
7. http://piatigorskyprize.ru/long-list 
8. Meduza: Neljubow i bednost’: Repper Skriptonit vypustil, vosmoschno, lutschschij russkojazytschnyj al’bom goda. Rasskasywaem, chem on chorosch 
9. Novastan.org: Skriptonit – zeitlose Beats 
10. Ein Tabu bleibt vor allem die unmittelbare Kritik an wichtigen politischen Persönlichkeiten. So wurde beim Versus-Battle zwischen Gnoiny und Ernesto Zatknites’ 2016 Erwähnungen von Ramsan Kadyrow und dem Patriarch Kyrill herausgebeept. 
11. Kommersant: Is andergraunda v pop-kul’turu 
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